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c) Fazit

Warum, so sei abschließend gefragt, erfreuen sich die Liebesschlösser und nicht die „irrsten Hochzeiten“ so großer Popularität? Wie gezeigt, sind mit den „irrsten Hochzeiten“ kostspielige „Action“ und ein aufwändiges Event verbunden. Die Hochzeitskulisse steht im Vordergrund, das auf Dauer angelegte Versprechen erfolgt wie eine private gegenseitige Zusage. Jedenfalls spielen Institutionen wie Kirche oder Standesamt kaum eine sichtbare Rolle. Zudem findet die Trauung in weiter geografischer Entfernung vom Alltagsleben der Liebenden statt. So bleiben die Freunde und die Verwandten ausgeschlossen, was den individuellen Lebensstil der Brautleute einschließlich ihrer finanziellen Spielräume umso stärker hervorhebt. Wenn sie Ganzheitlichkeit mit Erlebnisorientierung gleichsetzen, erfüllt ihre „irrste Hochzeit“ auch dieses Kriterium klar.

Die Liebesschlösser greifen die Trends unserer Zeit offenbar in einer für viele Menschen auf Anhieb verständlichen Weise auf: höchste Wertschätzung der Individualität, große Hoffnung auf emotional tiefe und dauerhafte menschliche Liebesbeziehungen, unübersehbares Bedürfnis nach (Selbst-)Inszenierung, diskrete – fast unsichtbar bleibende – Einbindung in religiöse Traditionen, Wunsch nach „Gesehen-Werden“ durch eine kaum greifbare und in Bewegung bleibende Weggefährtenschaft.

Unter den gegenwärtigen Bedingungen der Pluralisierung und Individualisierung auch von partnerschaftlich-gemeinsamen Lebensläufen, der Zunahme des Privaten und des seit Jahrzehnten beobachtbaren Wandels „von Pflicht- und Akzeptanzwerten zu Selbstentfaltungswerten“90 bestätigt die „Konjunktur“ der Liebesschlösser die aktuelle Suche vieler Menschen nach einem ganzheitlichen und authentischen Lebensstil, welcher freilich nicht auf (vorsichtige) gemeinschaftliche und historische Rückbindungen verzichtet. Zugleich lassen die geschichtlichen Reminiszenzen umso klarer erkennen, dass heutige Liebende mit ihren Liebesschlössern erstrangig diesseitsorientierte Realitäten und Hoffnungen verbinden. Als Ausdruck der Ganzheitlichkeit und der Individualität gleichermaßen gilt ihnen die beiderseitige menschliche Liebe im Hier und Jetzt und hoffentlich darüber hinaus.

Im Sinne eines Resümees zu den Liebesschlössern ließe sich auch das Lied „Ich schenk dir mein Herz“ der Kölner Band „Die Höhner“ anführen; denn dieser Song – der Karnevalsschlager der Session 2010 – betont im Sinne der „gelebten Religion“ sowohl die Individualität der Liebenden, deren Hoffnungsgeschichte mit dem gemeinsamen Glück als Ziel, wie auch die dezente religiös-traditionelle Rückbindung der Liebesschlösser durch die Domnähe („der Dom gibt Acht darauf …“) und die angedeutete Theologie der Einwohnung („Schenk mir dein Herz, ich schenk dir mein’s“), weiterhin die mobile Zeugenschaft („so ein Schloss kann jeder sehn“) sowie schließlich die Neuartigkeit der Tradition („ein neuer Brauch“). Der Wortlaut des Liedes geht so91:

Ich schenk dir mein Herz

Schenk mir heut’ Nacht dein ganzes Herz,

und bleib’ bei mir,

dann schenk ich dir mein ganzes Herz

und zeige dir,

was dir gefällt – na na na na na na na,

die ganze Welt – na na na na na na na.

Schenk mir dein Herz,

ich schenk dir mein’s.

Nur die Liebe zählt.

Komm, sei die Königin in meinem Königreich,

ich schenke dir heut’ ein Schloss am Rhein.

Mein Reich ist eine Brücke,

die führt ins Glück hinein.

Das Schloss ist nicht so groß,

symbolisch eben nur,

eiserner Liebestreueschwur,

der unsere beiden Namen trägt

und diese Verse hier:

Schenk mir heut’ Nacht dein ganzes Herz

und bleib’ bei mir,

dann schenk ich dir mein ganzes Herz

und zeige dir,

was dir gefällt – na na na na na na na,

die ganze Welt – na na na na na na na,

und wenn du willst

auch noch ein bisschen mehr.

Es ist ein neuer Brauch,

er bringt uns beiden Glück.

So ein Schloss kann jeder seh’n,

und der Dom gibt Acht darauf.

Züge kommen und geh’n.

Ich schließe unser Schloss

am Brückengitter an,

und es ist doch nicht allein.

Gemeinsam werfen wir den Schlüssel

in den Rhein hinein.

Schenk mir heut’ Nacht dein ganzes Herz

und bleib’ bei mir,

dann schenk ich dir mein ganzes Herz

und zeige dir,

was dir gefällt – na na na na na na na,

die ganze Welt – na na na na na na na,

und wenn du willst,

auch noch ein bisschen mehr.

Was dir gefällt – na na na na na na na,

die ganze Welt – na na na na na na na.

Schenk mir dein Herz,

ich schenk dir mein’s.

Nur die Liebe zählt.

3. Amtsverzicht – Warum zwei Bischöfe zurücktraten


© KNA

In Deutschland war das Erschrecken über die ans Licht gekommene sexuelle Gewalt von Priestern gegenüber Kindern medial noch stark präsent, als sich die Kirchen 2010 bereits den nächsten Schwierigkeiten gegenübersahen: den Rücktritten von Bischöfin Margot Käßmann und Bischof Walter Mixa. Auch mit Blick auf diese beiden Kirchenoberen reagierte die Gesellschaft äußerst empfindlich auf das kirchliche Fehlverhalten. Sie war nicht bereit, den Kirchen bestimmte Sonderregeln für ihr Spitzenpersonal zuzubilligen. Entsprechend titelt die FAZ: „Todsünde, Laster und das öffentliche Dorf. Die 2010 erfolgten Rücktritte von Margot Käßmann und Bischof Mixa zeigen auch, dass die Öffentlichkeit keine Parallelgesellschaft mehr duldet.“92 Umso mehr stellt sich angesichts eines solchen journalistischen Statements – bezogen auf die Kirchen – folgende Frage: Welche Rolle spielen in der medialen Wahrnehmung der angesprochenen Rücktritte die gesellschaftlich beobachtbare Institutionenskepsis, die Wertschätzung von Individualität sowie das Mühen um Ganzheitlichkeit?

Auf der Basis von ausgewählten deutschsprachigen, überregionalen Zeitungen, Nachrichtenmagazinen und Illustrierten bietet das vergleichend angelegte Kapitel als Erstes eine Analyse des Echos auf den Rücktritt von Margot Käßmann als EKD-Ratsvorsitzende und Landesbischöfin von Hannover wegen Trunkenheit am Steuer. Als Zweites handeln die Ausführungen von den öffentlichen Stimmen zum Ausscheiden von Walter Mixa aus dem katholischen Bischofsamt von Augsburg aufgrund von Unregelmäßigkeiten im Umgang mit Geld sowie wegen Gewaltanwendung gegenüber Kindern.93 Damit bezieht sich der mediengestützte Vergleich auf eine Protestantin und auf einen Katholiken, auf eine Bischöfin und auf einen Bischof, auf eine 52-jährige Frau und auf einen beinahe siebzig Jahre alten Mann, auf ein „Nordlicht“ und auf einen Amtsträger aus dem Süden der Republik. In beiden Fällen gilt die Aufmerksamkeit der öffentlichen Sorge zugunsten einer glaubwürdigen Ausführung öffentlicher (hier: kirchlicher) Ämter.

a) Der Fall Margot Käßmann

Margot Käßmann wurde 1958 in Marburg geboren. Sie studierte Evangelische Theologie in Tübingen, Edinburgh, Göttingen und Marburg, bevor sie ihre wissenschaftliche Ausbildung mit einer Dissertation zum Thema „Armut und Reichtum als Anfrage an die Einheit der Kirche“ abrundete. Gemeinsam mit ihrem Ehemann teilte sie sich zwischen 1985 und 1990 eine Pfarrerstelle und das Familienleben mit vier Töchtern.94 1999 wurde sie zur Landesbischöfin der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche von Hannover gewählt.95 Seit Oktober 2009 amtierte sie als Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Von beiden kirchlichen Führungspositionen trat sie nach einer Autofahrt unter Alkoholeinfluss im Februar 2010 zurück, wohingegen sie ihr Pfarramt beibehielt.

Heftig waren die jeweiligen medialen Reaktionen auf die biografischen Schlüsselstationen von Margot Käßmann schon lange ausgefallen: auf ihren Eintritt in das Bischofsamt 1999, auf ihre Wahl an die Spitze der EKD 2009, zwischendurch auf private Schicksalsschläge: auf die Brustkrebserkrankung 2006 oder auf die Scheidung von ihrem Ehemann 2007 – all das und noch vieles mehr im Echo von Funk und Fernsehen, von Presse und Internet mannigfaltig verstärkt.

Keine Wendung in der kirchlichen Laufbahn von Margot Käßmann fand freilich eine derartige öffentliche Aufmerksamkeit wie ihr Rücktritt im Februar 2010. Was war passiert? Im Anschluss an einen gemeinsamen Abend im Freundes- und Bekanntenkreis hatte sie das Auto bestiegen und eine rote Ampel überfahren. Trunkenheit am Steuer konnte ihr nachgewiesen werden. Nach wenigen Tagen schon zog sie die Konsequenz ihres öffentlich eingestandenen Fehlverhaltens: Rücktritt als Bischöfin und EKD-Ratsvorsitzende.

Was sagte Margot Käßmann selbst zu ihrer Rücktrittsentscheidung auf der Pressekonferenz am 24. Februar 2010?96 „Am vergangenen Samstagabend habe ich einen schweren Fehler gemacht, den ich zutiefst bereue“, lässt sie verlauten, um fortzufahren: „Aber auch wenn ich ihn bereue und mir alle Vorwürfe, die in dieser Situation berechtigterweise zu machen sind, immer wieder selbst gemacht habe, kann und will ich nicht darüber hinwegsehen, dass das Amt und meine Autorität als Landesbischöfin sowie als Ratsvorsitzende beschädigt sind.“ Tatsächlich verneinte sie angesichts der eingetretenen Situation, dass ihre „persönliche Überzeugungskraft uneingeschränkt anerkannt“ werde. Das entscheidende Wort für ihren Rückzug von ihren hohen kirchlichen Ämtern sei ihr in der Heiligen Schrift begegnet. „Einer meiner Ratgeber“, so Margot Käßmann, „hat mir gestern ein Wort von Jesus Sirach mit auf den Weg gegeben: ,Bleibe bei dem, was dir dein Herz rät.‘ (37,17) Und mein Herz sagt mir ganz klar: Ich kann nicht mit der notwendigen Autorität im Amt bleiben.“ Über ihre Sorge hinaus, das Amt zu beschädigen, sorgte sich Margot Käßmann auch um die unbedingte Wahrung ihrer eigenen Integrität: „,Mir geht es neben dem Amt auch um Respekt und Achtung vor mir selbst und um meine Gradlinigkeit, die mir viel bedeutet.“ Im Anschluss an das Rücktrittswort („Hiermit erkläre ich, dass ich mit sofortiger Wirkung von allen meinen kirchlichen Ämtern zurücktrete“) dankte sie allen nahen und fernen Weggefährtinnen und Wegbegleitern, um ihre Erklärung mit dem Wort abzuschließen: „Zuletzt. Ich weiß aus vergangenen Krisen: Du kannst nie tiefer fallen als in Gottes Hand. Für diese Glaubensüberzeugung bin ich auch heute dankbar.“ – Der folgende Pressespiegel veranschaulicht die unterschiedlichen Akzente, die in die Berichterstattung über den Rücktritt von Margot Käßmann eingegangen sind. In einem zweiten Schritt sollen sie daraufhin reflektiert werden, inwieweit sie auch die oben genannten religionssoziologisch relevanten Gegenwartstrends in puncto „gelebte Religion“ vermitteln.

Wohl selten wurde ein Rücktritt von der Öffentlichkeit mit so viel Respekt, ja mit einem solchen Maß an ausdrücklicher Bewunderung zur Kenntnis genommen wie das Ausscheiden von Margot Käßmann als EKD-Ratsvorsitzende. So zeigt das Titelbild in DER SPIEGEL vom 1. März 2010 das Gesicht der soeben Zurückgetretenen in Nahaufnahme mit geschlossenen Augen. Diese Frau ist in sich eingekehrt, soll hier zum Ausdruck gebracht werden. Sie schaut den Betrachter nicht an und nimmt keinen Kontakt mit ihm auf. Jene Frau, die während der vorangegangenen Jahre eine so zentrale Rolle in der Öffentlichkeit spielte, ist ganz bei sich – und eben so in der Öffentlichkeit. Nicht sie – so soll hier veranschaulicht werden – nimmt die Öffentlichkeit in ihrer Selbstreflexion angesichts des Fehltrittes zur Kenntnis, sondern die Menschen schauen auf die offensichtlich in sich gekehrte Frau: „Mensch Käßmann“, so lautet in großen Lettern der Obertitel der Bildunterschrift. Beinahe fühlt man sich durch das „Mensch Käßmann“ an das „Ecce homo“ erinnert – mit dem Unterschied, dass der damit ursprünglich gemeinte Jesus als Unschuldiger dem Urteil der Öffentlichkeit ausgeliefert war, wohingegen der „Mensch Käßmann“ eine unstrittige Verfehlung auf sich geladen hatte. – Im Untertitel lautet die Bildunterschrift „Vom Umgang mit der Schuld“. Während diese fünf Worte noch erwarten lassen könnten, dass es auch im Leitartikel der damaligen Ausgabe von DER SPIEGEL erstrangig um die individuelle Umkehr und den Neuanfang von Margot Käßmann geht, wird die Leserschaft stattdessen mit einer anderen Perspektive überrascht.

Der mehrseitige und bebilderte Beitrag ist nämlich überschrieben mit „Aufstieg einer Sünderin“97. Während sich die irritierte Leserin und der irritierte Leser fragen könnten, ob hier die Geschichte einer soeben Gefallenen vom Anfang her erzählt wird (Kindheit, Studium etc.), erstaunt der Essay mit einer eher unerwarteten Schwerpunktsetzung. Er befasst sich mit der öffentlichen „Verarbeitung“ des kurz zuvor erfolgten Rücktritts. Neben einem großen Bild von Margot Käßmann, das sie diesmal mit Kostüm, vor allem mit geöffnetem Mund und dem Betrachter zugewandten wachen Augen, zeigt, intoniert die kurze Anmoderation des Artikels, was DER SPIEGEL unter dem „Aufstieg einer Sünderin“ versteht: „Die Bischöfin Margot Käßmann fiel tief […]. Doch ihr schneller, schnörkelloser Rücktritt macht sie zum Maßstab. Bislang verhalten sich Politiker eher verdruckst, wenn sie Schuld auf sich geladen haben.“ Der angeschlagene Tenor durchzieht den gesamten Artikel: „Margot Käßmann ist nicht mehr Bischöfin, sie ist nicht mehr Ratsvorsitzende. Aber jetzt ist sie die Frau, die einen neuen Maßstab für Rücktritte gesetzt hat.“ – „Mit dem Fall Käßmann beginnt ein neues Kapitel in der langen Geschichte im Umgang mit Schuld. Ihr schnelles Handeln weist weit über sie hinaus“, wie es bedeutungsvoll heißt.98

DER SPIEGEL stellt heraus, dass die Bedeutung der Authentizität in der Amtsführung für Margot Käßmann womöglich größer sei als für andere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, weil sie ihr Mühen um radikal-ehrliche Subjektivität und Glaubwürdigkeit in das Zentrum ihrer Amtsführung gestellt hätte: „,Authentisch‘ zu sein ist bei Käßmann nicht nur Selbstanspruch, sondern beinahe eine religiöse Kategorie. Dazu gehört auch, dass ihr das ,Ich‘ wichtiger wurde als das Amt.“99

Der Rücktritt eines politischen oder kirchlichen Amtsträgers gilt den Redakteuren von DER SPIEGEL als die zeitgemäße Sühne für einen prominenten Amtsinhaber: „Der moderne Mensch erkennt den Verlust an Aufmerksamkeit als Höchststrafe. Ein Rücktritt gilt somit als nachhaltiger Akt der Reinigung.“100 Während die Illustrierte STERN ihren entsprechenden Leitartikel unter die Überschrift „Schuld und Sühne“ stellt101, hebt die BUNTE hervor, dass die Republik angesichts des Käßmann-Rücktritts in eine Debatte über die entsprechenden theologischen Schlüsselthemen eingetreten sei: „Auf allen Fernsehsendern wurde atemlos über Schuld, Sühne und Vergebung diskutiert.“102

Mit ausgesprochen nüchternem Ton berichtet das Wochenmagazin FOCUS über das Versagen und den Rücktritt von Margot Käßmann unter der doppeldeutigen Überschrift: „Schnell weg vom Steuer. Mit ihrem Rücktritt erweist Margot Käßmann ihrer Kirche einen wichtigen Dienst, sich selbst – und der Alkoholprävention.“103 Aus ihrem Gottesbezug heraus hätte sie „in nur wenigen Minuten die unbedingte Glaubwürdigkeit und Vorbildfunktion der kirchlichen Ämter wieder hergestellt und ihre persönliche Autorität gerettet“.

Ein Kommentar der FAZ bringt die Rede darauf, wie es Jesus mit dem Wein hielt und was das Neue Testament grundsätzlich zu diesem Getränk sage: „Es ist ja nicht so, dass es an Warnungen gefehlt hätte. Das Buch der Bücher hat da eine ganze Palette zur Auswahl. Der Evangelist Lukas, der am letzten Sonntag davon berichtet hat, wie Jesus nach vierzigtägigem Fasten beinahe kaltschnäuzig den Versuchungen des Teufels widerstand, mahnt im Hintergrund auf das Ende aller Tage eine moderate Lebensführung an. ,Nehmt euch in Acht, dass Rausch und Trunkenheit und die Sorgen des Alltags euch nicht verwirren und dass jener Tag euch nicht plötzlich überrascht.‘ Absolute Fahruntüchtigkeit kannte der Evangelist noch nicht. Er war eher zu Fuß unterwegs. Das hätte seine Glaubensschwester Margot auch beherzigen sollen.“104

Die TAZ aus Berlin stellt ihre faktenorientierte Berichterstattung unter den Titel „Autofahrt mit Imageschaden“105. Dazu gehört ein Bild der nachdenklich blickenden Margot Käßmann im lutherischen Predigertalar, das mit einer knappen Bildunterschrift versehen ist: „Als ,schlimmen Fehler‘ bewertet Margot Käßmann ihre Alkoholfahrt.“ In einem angeschlossenen Kommentar wird die ehemalige Bischöfin in eine Reihe mit Jesus gestellt, der dem Alkohol gleichfalls bisweilen zugesprochen hätte („dem Feiern und dem Wein nicht abgeneigt“)106. Im Unterschied zu Jesus wäre die Kirchenpolitikerin allerdings mit Alkohol im Blut Auto gefahren und hätte dadurch „Menschen gefährdet“.

Auch die SZ stellt in einem Kommentar heraus, dass das Verkehrsvergehen von Margot Käßmann deshalb so schwer wiege, weil besonders „Vertreter der Kirchen, die für Wert und Schutz des Lebens eintreten, ein Taxi nehmen [sollten], wenn sie zu viel getrunken“ hätten.107 Für Margot Käßmann treffe derlei mehr als für andere Amtskollegen zu, weil sie ein „Vorbild für viele“ sei, indem sie „ihr Amt und ihr Leben“ in kaum überbietbarer Weise miteinander verknüpft hätte. Was sie predige, speise sich aus ihrer Lebenserfahrung: „Sie hat dadurch etwas Ikonenhaftes bekommen.“ Nachdem nun aber offensichtlich geworden sei, dass auch diese Frau nicht ausschließlich gut, authentisch und moralisch handeln könne, sei „nun die Ikone Margot Käßmann zerbrochen, das ohne Tiefe gemalte Bild“.

Johann Schloemann lenkt in DIE ZEIT den Blick auf den Zeitpunkt des Alkoholvergehens: „Käßmanns Vollrausch fällt in die Fastenzeit. Das Fasten vor Ostern ist – das scheint vielen Kommentatoren entgangen zu sein – den Protestanten zwar gar nicht als Pflicht auferlegt. So heißt es in Luthers und Melanchthons Apologie zum Artikel 15 der Augsburger Konfession: ,Gott will, dass wir allzeit nüchtern und mäßig leben, und wie die Erfahrung zeigt, so helfen dazu nicht viele Fasttage.‘ Aber die Kirche, der Käßmann bis Mittwoch vorstand, hat sich das Fasten, also eine typische Praxis altgläubiger Werkgerechtigkeit, in den letzten Jahren immer mehr zu eigen gemacht – vom Wunsch getragen, die Entritualisierung im Protestantismus auszugleichen und ein Bedürfnis nach lebensreformerischer Sinnsuche und antikapitalistischer Askese zu befriedigen.“ Der Glaubwürdigkeitsverlust falle dadurch noch schlimmer aus, dass Margot Käßmann für die Fastenzeit ausdrücklich einen allgemeinen Alkoholverzicht unterstützt und ihn sich für die eigene Person vorgenommen hatte: „Käßmann wurde am Samstag spätabends von der Polizei angehalten. Da war schon seit Mittwoch Fastenzeit. Und am verkaterten Morgen nach dem Vergehen, also am Sonntag, der im Kirchenjahr Invokavit heißt und die Versuchung zum Bösen zum Thema hat, wurde offiziell die diesjährige Fastenaktion der evangelischen Kirche eröffnet: ,7 Wochen ohne‘. Die mitteilsame Bischöfin hat zudem in der Fastenzeit des vergangenen Jahres dem Online-Sportmagazin ACHIM-ACHILLES.DE, das mit SPIEGEL ONLINE kooperiert, ein Interview gegeben, in dem sie sagte: ,Fasten bringt eine Chance für einen neuen Blick auf das Leben und unsere Welt mit sich. Es geht um eine Konzentration auf das, was wirklich wichtig ist im Leben.‘ Auf die Nachfrage des Magazins: ,Worauf verzichten Sie gerade?‘, antwortete sie: ,Ich verzichte auf Alkohol.‘ Nun ja.“108

Im Sinne einer klugen Zusammenfassung reflektiert Tanjev Schultz in der SZ Margot Käßmanns Beweggründe für ihren Rückzug von den Spitzenämtern: „Der Häme setzt sie Reue entgegen, der Demütigung Demut. ,Du kannst nie tiefer fallen als in Gottes Hand.‘ Ämter sind nicht alles im Leben; sie zur rechten Zeit aufzugeben ist eine Kunst, die viele Politiker und Prominente nicht beherrschen. Diesen Fehler wollte sich Käßmann nicht auch noch nachsagen lassen.“109 Für die Prominente müsse der Ämterverlust „keine Strafe“ sein, sondern könnte sich auch als ein „Weg der Besinnung“ und damit als ein „Gewinn“ erweisen – ein Gewinn, an dem sich andere Betroffene ein Beispiel nehmen sollten.110 Insofern Margot Käßmann ihrem Markenzeichen, nämlich der von ihr beanspruchten Authentizität, mit ihrem Rücktritt treu blieb, kürt die FAZ sie zu einer charismatischen „Artistin der Fehlbarkeit“111.