Czytaj książkę: «Am Tag, als Walter Ulbricht starb»

Czcionka:


Horst Bosetzky / Jan Eik

Am Tag, als

Walter Ulbricht starb

Kriminalroman

Jaron Verlag

Horst Bosetzky alias -ky lebt in Berlin und gilt seit über dreißig Jahren als einer der erfolgreichsten deutschen Kriminalautoren der Gegenwart. Innerhalb der Krimireihen «Es geschah in Berlin …» und «Berliner Mauerkrimis» erschienen von ihm zuletzt die Bände «Bücherwahn» (2010) und «Schau nicht hin, schau nicht her» (mit Steffen Mohr, 2009).

Jan Eik, geboren 1940 in Berlin als Helmut Eikermann, ist seit 1987 freiberuflicher Autor und Publizist. Er schrieb zahlreiche Kriminalromane und -erzählungen sowie Hör- und Fernsehspiele. Im Jaron Verlag erschienen von ihm «Schaurige Geschichten aus Berlin» (2007), «Der Berliner Jargon» (2009) und «DDR-Deutsch» (2010) sowie mehrere Bände der Reihe «Es geschah in Berlin …», zuletzt «Goldmacher» (2010).

1. Auflage 2010

© 2010 Jaron Verlag GmbH, Berlin

1. digitale Auflage 2013 Zeilenwert GmbH

Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

www.jaron-verlag.de

Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin, unter Verwendung eines Fotos von Martin Richter

ISBN 9783955520724

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titelseite

Impressum

DIEFAKTEN

EINS Mai 1972

ZWEI Mai 1972

DREI Juni 1972

VIER Juni 1972

FÜNF Juli 1972

SECHS Juli 1972

SIEBEN Juli 1972

ACHT Spätsommer 1972

NEUN september 1972

ZEHN Herbst 1972

ElF Jahreswechsel 1972/73

ZWÖLF April 1973

DREIZEHN Mai 1973

VIERZEHN Mai 1973

FÜNFZEHN Juni 1973

SECHZEHN Juni 1973

SIEBZEHN Juni 1973

ACHTZEHN Juli 1973

NEUNZEHN Ende Juli 1973

ZWANZIG Juli 1973

EINUNDZWANZIG 31. Juli 1973

ZWEIUNDZWANZIG 31. Juli 1973

DREIUNDZWANZIG 1. August 1973

Berliner Mauerkrimis

Es geschah in Berlin …

DIE FAKTEN

Während der 28 Jahre zwischen dem Bau der Mauer am 13. August 1961 und ihrem Fall am 9. November 1989 wagten etwa 5600 Menschen eine Flucht über die Ostsee.

In dem eng verknüpften Netz aus ziviler und militärischer Überwachung an Land und auf See verfingen sich über 4500 Frauen, Männer und sogar Kinder. Sie mussten meist mehrjährige Haftstrafen in den berüchtigten Haftanstalten von Rostock, Cottbus, Bautzen bzw. Hoheneck verbüßen. ( … )

Lediglich 913 Flüchtlinge erreichten ihr Ziel in Schleswig-Holstein, Dänemark oder Schweden, also nur etwa jeder 6. Ostseeflüchtling.

Mindestens 174 Menschen kamen zwischen Mauerbau und Mauerfall auf ihrer Flucht über die Ostsee ums Leben.

(Aus: Christine Vogt-Müller, Der Unerträglichkeit des «DDRSeins» davon paddeln, in: Binsenbummeln und Meeresrauschen, 4. Internationales Jahrbuch des Faltbootsports 2007/08, hrsg. von Herbert Kropp, Faltenreich Verlag, Oldenburg 2007, S. 42 f.)

Am Tag, als Walter Ulbricht starb ist ein Roman. Alle Personen und Handlungen, soweit nicht historisch belegt, sind erfunden.

EINS
Mai 1972

JE LÄNGER SIE PADDELTEN, desto mehr erschien ihnen die Ostsee wie ein schwarzes Loch. Die Landmassen Skandinaviens, der baltischen Länder, Polens und Deutschlands waren nur noch kosmischer Staub und freigesetzte Energie, und nun wurde auch ihr Boot, mit dem sie aus der DDR zu flüchten versuchten, langsam vom Mahlstrom verschlungen.

Sie waren Katholiken und hofften auf ihren großen und gütigen Gott, der sie erretten möge. Jeder betete für sich allein, denn das Tosen des Sturmes war zu stark, als dass einer den anderen hätte hören können.

«Herr, sieh unser Elend, und hilf uns!»

«Herr, sei mir gnädig, denn ich bin schwach; heile mich, Herr, denn meine Gebeine sind erschrocken!»

Günther und Annegret Kühn waren in ihrem Faltboot, einem Pouch WEZ 80, gegen 21 Uhr in Kinnbackenhagen gestartet, einem kleinen Ort am Barther Bodden, genau gegenüber dem östlichen Ende der Halbinsel Zingst. Vorher hatten sie lange gerechnet. Vom Darßer Ort bis nach Gedser waren es etwa 36 Kilometer, von Prerow bis zum Gedser Feuerschiff nur 25 Kilometer, von Zingst bis zur dänischen Insel Møn aber bereits 60 Kilometer. Sie hatten im letzten Sommer wie auch in diesem Frühjahr jede freie Stunde genutzt, um auf den märkischen und mecklenburgischen Gewässern zu trainieren, und dabei sechs Kilometer in der Stunde mühelos geschafft. Aber die Ostsee war von anderem Kaliber als der Wolziger See, und jetzt war auch noch ein Sturm aufgekommen, den kein Wetterbericht vorausgesagt hatte. Mit dem Wind wuchsen die Wellen.

Günther Kühn hatte seinen Kompass vor sich auf dem Verdeck befestigt, doch es war unmöglich, die Nadel zu erkennen. Laut Gebrauchsanweisung hätte sie im Dunkeln leuchten müssen, doch das tat sie nicht. Irgend- wie musste Seewasser in das Gehäuse eingedrungen sein und die Phosphorbeschichtung angegriffen haben. Mond und Sterne waren hinter einer dichten Wolkendecke verschwunden. Da hätte auch ein erfahrener Seemann den Kurs nicht halten können. Ihm war, als würden sie ständig im Kreis herumfahren.

«Da! Ein Hochhaus!», schrie Annegret Kühn.

«Mein Gott, das Hotel Neptun in Zinnowitz!» Dann waren sie also an Kap Arkona vorbei nach Osten abgetrieben worden und befanden sich jetzt dicht vor der Insel Usedom.

Kurz darauf erkannten sie jedoch, dass sie eine Fähre vor sich hatten, wahrscheinlich die von Warnemünde nach Gedser. Dann befanden sie sich also doch auf dem richtigen Kurs. Weiter!

Die Spanten und Streben ihres Faltbootes knarrten und ächzten. So elastisch die Hölzer auch waren, so viel die Konstruktion auch vertragen konnte, irgendwann würde alles brechen, so wie ein Bleistift brach, wenn man ihn über beide Daumen bog. Made in GDR.

Sie fühlten sich völlig hilflos, ihre Verzweiflung wuchs und wuchs. Sie verfluchten ihre Entscheidung, die Flucht über die Ostsee zu wagen, und hätten Jahre ihres Lebens dafür gegeben, jetzt in ihrer Dachkammer zu liegen, sich aneinanderzukuscheln und zu träumen. Von der Flucht im Faltboot.

Von Süden her drangen Motorengeräusche zu ihnen herüber. War es ein Boot der Grenzbrigade Küste, das sie hoppnehmen wollte? Waren es Fischer oder Privatleute aus Dänemark oder der BRD, die sie an Bord nehmen würden? Die Suchscheinwerfer, die nun eingeschaltet wurden, gaben eine eindeutige Antwort. Doch sie hatten Glück: Immer wenn die Lichtfinger sie zu erfassen drohten, tauchten sie in ein Wellental hinab. Die Motorengeräusche wurden schwächer und schwächer. Weiter!

Ihre Erschöpfung wuchs von Minute zu Minute, die Arme schmerzten. Lange waren diese Strapazen nicht mehr auszuhalten. Aber hörten sie auf zu paddeln, waren sie im Nu ein Opfer der Wellen.

Sie fühlten es: Der Tod war nahe. Günther Kühn konnte an nichts anderes mehr denken. Wir sind alle des Todes. Sei des Todes eingedenk! Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?

Wieder beteten sie.

«Wende dich, Herr, und errette meine Seele; hilf mir um deiner Güte willen!»

«Herr, erhöre die Gerechtigkeit, merke auf mein Schreien, vernimm mein Gebet, das nicht aus falschem Munde geht!»

Ihnen blieb nichts weiter übrig, als auf ein Wunder zu hoffen: dass plötzlich der Nebel aufriss und sie die Kreideküste von Møn vor sich hatten. Oder das Feuerschiff von Gedser. Oder ein Motorboot aus der BRD. Wunder gab es immer wieder …

Als sie schon glaubten, es doch noch geschafft zu haben, traf sie eine ungewöhnlich hohe Welle auf der Backbordseite und begrub sie unter sich. Eine Eskimorolle hätte sie noch retten können, aber die hatten sie nicht eingeübt.

In den Akten der Volkspolizei und der Grenzbrigade Küste finden sich einige Tage später folgende Eintragungen:

Durch den Stralsunder Fischkutter STR 173 wurde beim Hieven des Grundschleppnetzes am 19. Mai 1972, 10 sm nordwestlich von Kap Arkona, eine männliche Leiche geborgen. Die in der Hosentasche gefundene Geldbörse enthält einen Lohnstreifen auf den Namen Günther Kühn.

Am 24. Mai 1972 gegen 11.30 Uhr wurde durch den DDR-Logger ROS-104 – 17 sm nördlich von Mövenort – nach dem Einholen des Fanggeschirrs eine weibliche Leiche festgestellt.

Die MfS-Mitarbeiter sprechen den Angehörigen von Günther und Annegret Kühn gegenüber von einem Badeunfall.

ZWEI
Mai 1972

RAINER ERKENBRECHER fand zu seiner großen Überraschung sofort einen freien Parkplatz im Innenraum des großen U, das die kolossalen Gebäude des Zentralflughafens Tempelhof bildeten, kam man vom Platz der Luftbrücke und wollte in die Abflughalle. Wie immer war er begeistert von diesem innerstädtischen Flughafen, und es erfüllte ihn mit leiser Wehmut, dass Tempelhof in zwei Jahren geschlossen und der gesamte Flugverkehr bis auf den der US Air Force über Tegel abgewickelt werden sollte, wo die Bauarbeiten kräftig vorangetrieben wurden.

Jedes Mal, wenn er die Abflughalle betrat, hörte er förmlich eine Schicksalsmelodie aufbranden: Hier empfängt Berlin die Großen der Welt, und von hier aus kannst du, frei wie ein Vogel, in alle Welt fliegen, wann immer du willst. Er hörte Ernst Reuter plädieren: Ihr Völker der Welt, ihr Völker in Amerika, in England, in Frankreich, in Italien! Schaut auf diese Stadt, und erkennt, dass ihr diese Stadt und dieses Volk nicht preisgeben dürft und könnt! Er hörte John F. Kennedys berühmte Worte: Vor zweitausend Jahren war der stolzeste Satz, den ein Mensch sagen konnte, der: «Ich bin ein Bürger Roms!» Heute ist der stolzeste Satz, den jemand in der freien Welt sagen kann: «Ich bin ein Berliner!» Und er hatte auch genau im Kopf, was in Curt Riess’ Buch Berlin Berlin geschrieben stand: Wenn die Russen damals hätten marschieren wollen, hätte nichts sie daran hindern können, bis zum Kanal, zum Atlantischen Ozean oder auch zu den Pyrenäen vorzustoßen. Nichts – außer Berlin.

An diesem Gefühl von historischer Größe und Einmaligkeit konnte sich Erkenbrecher wie jeder West-Berliner immer wieder berauschen. Schön, man war eingemauert und abgeschnitten vom märkischen Umland, aber man gehörte zu den Helden der Weltgeschichte und lebte in der interessantesten Stadt der Welt, irgendwie auf einer Insel der Seligen, war das «Schaufenster der freien Welt», wurde reichlich alimentiert und konnte das alternative Leben zulassen, das sich im Schatten der Mauer zu entwickeln begann. West-Berlin war ebenso spießbürgerlich wie irre und surrealistisch, einmalig eben.

Rainer Erkenbrecher, am 20. Mai 1946 in Berlin zur Welt gekommen, war klein und drahtig, so ein Terrier wie Berti Vogts. Immer überdreht, wieselte er durch die Straßen und Flure. Zu übersehen war er schon, aber nicht zu überhören. Er redete andauernd, am liebsten über seine Heldentaten. Aus der Angst heraus, nicht wahrgenommen zu werden, hatte er ständig Dutzende von Projekten am Köcheln. Etwas anleiern nannte er das. Mal gründete er einen neuen Kinderladen, mal eine Stadtteilzeitung, mal einen Tennisverein, mal eine neue linke oder linksliberale Studentenvereinigung. Sein Verhalten war aber nicht nur mit seiner geringen Körpergröße zu erklären, sondern auch mit seinem verzweifelten Bemühen, aus dem Schatten seines übermächtigen Vaters und seiner Mutter zu treten.

Ernest Erkenbrecher war Professor an der Staatlichen Hochschule für Bildende Künste in der Hardenbergstraße und eine feste Größe im Kulturbetrieb. Es gab kein Kuratorium, in dem er nicht saß, und er war Duzfreund vieler Senatoren und erlesener Schöngeister. Zudem konnte er Essays verfassen wie kein Zweiter. Um gegen diesen Vater eine Chance zu haben, musste sich Rainer Erkenbrecher schon viel einfallen lassen.

Auch seine Mutter, Oberstudienrätin für Chemie und Mathematik an einem Steglitzer Gymnasium, setzte ihm mit ihrem Bildungsfimmel gehörig zu und hielt ihn schon deswegen für geistig zurückgeblieben, weil er nie recht begriffen hatte, wozu ein Algorithmus oder die Primzahlen gut sein sollten.

Das Abitur hatte Rainer Erkenbrecher nur mit Ach und Krach geschafft, dann in seinem Politologiestudium an der FU Berlin jedoch so viel geleistet, dass sie ihn nach dem Diplom zum Assistenten gemacht hatten. Nun war er zwar kein echter Linker, sondern fühlte sich eher als freischwebender Intellektueller mit einem Hang zum Liberalen, wenn nicht gar zum Konservativen, doch weil er mit einer solchen Geisteshaltung an der FU keine Chance gehabt hätte, spielte er Kommilitonen wie Professoren den gläubigen Marxisten vor.

Er war Assistent und saß an einer Dissertation zum Thema Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold im Kampf gegen Hakenkreuz und Sowjetstern. Außerdem schrieb er an einem Artikel über die Hintergründe und Folgen des Lichtenberger Butter-Krawalls. Darin ging es um die Revolte hungernder Berliner, die es am 16. Oktober 1915 auf dem Boxhagener Platz gegeben hatte. Der lag nun in Ost-Berlin, und vor Ort zu recherchieren war für einen West-Berliner faktisch unmöglich. Da sein Vater aber in der Nähe von Wunsiedel ein Wochenendhaus besaß, war es ihm gelungen, sich einen bundesrepublikanischen Reisepass zu verschaffen, so dass er jederzeit in die Hauptstadt der DDR einreisen konnte.

Was seine Freunde und seine Frauen betraf, so bevorzugte er jene Typen, über die sich seine Eltern am meisten aufregten.

Erkenbrecher sah die Maschine der Pan Am, in der sein Onkel sitzen musste, über Treptow und Neukölln einschweben, über die Hermannstraße und die Gräber des St.-Thomas-Friedhofes hinweg. Ihm war dabei immer ein wenig mulmig zumute, aber seit den Tagen der Blockade hatte es über dem Stadtgebiet keinen Flugzeugabsturz mehr gegeben.

Der Verwandte, den er abholen wollte, war ein Cousin seines Vaters. Dr. Julius Lilienblum, ein Jude, der 1933 als junger Arzt in die USA gegangen war. Sie hatten sich nicht öfter als dreimal in ihrem Leben gesehen, aber er mochte den Kauz aus Massachusetts. Er kam ihm vor wie ein Dinosaurier, wenn er aus der Zeit zwischen dem Ersten Weltkrieg und der Machtergreifung der Nationalsozialisten erzählte.

Aus dem Lautsprecher kam die Ansage, dass die Maschine soeben gelandet sei, und Erkenbrecher stellte sich an das Tor, aus dem die Passagiere nach Pass- und Zollkontrolle kommen mussten. Wieder einmal ärgerte ihn die Tatsache, dass nur die Fluggesellschaften der Alliierten West-Berlin anfliegen durften, also die Pan Am, die BEA und die Air France, nicht aber die Lufthansa. Die drei Luftkorridore nach Berlin waren den Besatzungsmächten, offiziell Schutzmächte genannt, vorbehalten.

Erkenbrecher fragte sich, ob der Mann, der ihm nun entgegeneilte, wirklich sein Onkel war, doch als sich der untersetzte Herr mit der fliegenden Einsteinmähne aus er sich sicher, den Richtigen vor sich zu haben. Dennoch fragte er: «Herr Dr. Lilienblum?»

«Ja, mein Junge. Hallo! Du bist der Rainer Erkenbrecher?»

«Richtig erraten!»

Sie gaben sich die Hand.

«Du bist also das ganze Empfangskomitee?», fragte Lilienblum scheinbar ein wenig enttäuscht.

«Ja, dein Herr Vetter sitzt in einer Prüfungskommission und versucht, junge Menschen glücklich zu machen, und meine liebe Mutter ist zu sehr preußische Beamtin, als dass sie auch nur eine Sekunde daran denken würde, eine Unterrichtsstunde ausfallen zu lassen, um dich vom Flughafen abzuholen.»

«Aber du konntest kommen», stellte Lilienblum fest, während sie an das Förderband traten, um auf seinen Koffer zu warten. «Bist du arbeitslos?»

«Nein, ich habe eine Assistentenstelle am OSI.»

«Wo?» Lilienblum versuchte, das zu deuten. «Am Ordentlichen Sozialistischen Institut?»

«Am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität. Politologie und Politische Soziologie. Aber deine Interpretation bringt es besser auf den Punkt. Otto Suhr war Regierender Bürgermeister, daher die Otto-Suhr-Allee zwischen Ernst-Reuter-Platz und Charlottenburger Schloss.»

«Das kenn ich wohl, aber wo liegt der Ernst-Reuter-Platz?»

«Der hieß früher Knie.»

Lilienblum grinste. «Ah ja. Früher haben wir immer gesungen: ‹Was machst du mit dem Knie, lieber Hans, beim Tanz.› Am Knie – das war doch ein origineller Name.»

Band. Erkenbrecher packte ihn, schleppte ihn zum Wagen, einem Renault R4, und verstaute ihn.

«Was nun?», fragte Erkenbrecher. «Willst du dich ein wenig ausruhen, sollen wir gleich nach Lichterfelde fahren – oder hast du Lust auf eine kleine Stadtrundfahrt?»

Lilienblum musste einen Augenblick überlegen. «Bitte keine große Sightseeing-Tour, aber vielleicht machen wir einen kleinen Umweg über den Bayerischen Platz. Ich habe immerhin zehn Jahre in der Münchener Straße gewohnt.»

«Aye, aye, Sir, wird gemacht.» Erkenbrecher umrundete den Platz der Luftbrücke und erklärte dem Gast, dass die Berliner einen Hang dazu hatten, ihren Bauten witzige Namen zu geben. «Der Funkturm ist der Lange Lulatsch, die Kongresshalle die Schwangere Auster und das Luftbrückendenkmal zu unserer Linken die Hungerharke.» Damit überquerte er die Kreuzung Mehringdamm / Tempelhofer Damm und fuhr in die Dudenstraße.

Lilienblum schloss die Augen und versuchte, sich den Berliner Stadtplan ins Gedächtnis zu rufen. «Kolonnenstraße, rechts in die Potsdamer, dann an dem riesigen Gebäudekomplex vorbei, in dem die Bauleitung der Reichsautobahn sitzt, und links rein in die Grunewaldstraße.»

«Lilienblum, setzen, Eins bis Zwei!», rief Erkenbrecher im Tonfall seiner Mutter.

«Warum keine glatte Eins?»

«Weil es kein Reichsautobahnamt mehr gibt», erklärte ihm Erkenbrecher. «Da sitzt jetzt die Hauptverwaltung der BVG.»

«Wie soll ich das denn in meinem kleinen Nest in «Dafür eine halbe Note Abzug zu bekommen ist ungerecht. Mein Vater wird das seinem Rechtsanwalt übergeben.»

Als sie das Viertel um den Bayerischen Platz erreicht hatten, war jede Heiterkeit verflogen. Kamen sie an den Erinnerungstafeln vorbei, die vom Bezirksamt an Laternenpfählen angebracht worden waren, musste Erkenbrecher langsam fahren, damit sein Onkel sie lesen konnte.

1938: Jüdische Ärzte dürfen nicht mehr praktizieren.

1940: Brot und Lebensmittel dürfen Juden nur nachmittags von 4 bis 5 Uhr einkaufen.

Vor der Deportation 1941: Nun ist es so weit, morgen muss ich fort, das trifft mich natürlich. Ich werde schreiben.

Lilienblum schwieg.

Es mochte eine gute halbe Stunde vergangen sein, bis er wieder Worte fand. «Was wäre geschehen, wenn die Nationalsozialisten 1933 nicht an die Macht gekommen wären, was wäre aus mir geworden, welchen Menschen mit dem Namen Julius Lilienblum würdest du heute durch die Gegend fahren?» Er seufzte. «Wenn ich das Zeug dazu hätte, würde ich einen Roman darüber schreiben.»

«Vielleicht versuchst du’s mal», sagte Erkenbrecher.

«Ich gründe dann extra einen Verlag dafür. Wenn es dir recht ist, fahren wir jetzt nach Lichterfelde raus. Die Bundesallee runter und dann die Schloßstraße, Unter den Eichen, Drakestraße, Ringstraße …»

Lilienblum konnte ihm nicht ganz folgen. «Die Bundesallee?»

«Ja, früher Kaiserallee.»

«Wie in Erich Kästners Emil und die Detektive. Warum muss denn bei euch immer alles umbenannt werden?»

«Alles nicht, aber du weißt doch: Neue Namen, neues Glück.»

Munter plaudernd fuhren sie in den tiefen Berliner Südwesten, wo Ernest Erkenbrecher am Kadettenweg eine ansehnliche, wenn auch nicht pompöse Villa gekauft hatte. Dem Sohn war das Souterrain überlassen worden.

Als sie vor der Garageneinfahrt hielten, kam Georgia Erkenbrecher in wehenden indischen Gewändern die Treppe herunter, um den Gast aus den USA mit großer Geste zu begrüßen. «Willkommen, lieber Julius, in der alten Heimat!» Dann redete sie in bestem Englisch auf ihn ein.

Georgia Erkenbrecher war die Tochter eines sächsischen Schriftstellers, der ein paar Jahre in den USA, im Bundesstaat Georgia gelebt hatte, und einer deutschstämmigen Stenokontoristin. Kurz nach der Hochzeit war das junge Paar nach Berlin gezogen und hatte seine erste Tochter, die nach Ende des Ersten Weltkriegs auf die Welt gekommen war, Georgia genannt.

Im Zweiten Weltkrieg waren sie zweimal ausgebombt worden, hatten aber überlebt, und Georgia war eine der ersten Studentinnen gewesen, die sich an der wiedereröffneten Berliner Universität für Chemie und Mathematik eingeschrieben hatten. Nach der Teilung der Stadt war sie zur West-Berliner FU gewechselt und nach einigen Irrungen und Wirrungen im Schuldienst gelandet. Bei einer der legendären Faschingsfeiern der Hochschule für Bildende Künste war sie Ernest Erkenbrecher begegnet und hatte sofort gewusst, dass er der Mann fürs Leben war. Was sie zusammenschweißte, waren ebenso genetische Programlichen Bildung und zu allem Schöngeistigen.

Man führte Julius Lilienblum ins Gästezimmer und gab ihm Gelegenheit, sich zwei, drei Stunden lang auszuruhen. Dann wollte man weitersehen.

Auch Erkenbrecher warf sich auf die Couch. Ins Institut musste er nicht mehr, sein Professor hielt nichts von festen Arbeitszeiten, und eine Lehrveranstaltung lag heute auch nicht an. Er rief nur schnell seine Verlobte an, dann hielt er Siesta und wachte erst wieder auf, als er seinen Vater kommen hörte.

Ernest Erkenbrecher malte zwar, fotografierte kunstvoll, spielte Cello, komponierte Filmmelodien und unterrichtete im Fach Architektur, war aber in der Hauptsache Kulturmanager, warb Gelder ein und organisierte Festivals. Er kannte Hinz und Kunz und konnte auf Knopfdruck Erhabenes sagen, so dass er ständig Festvorträge halten musste und stets im Gespräch war, wenn in Berlin ein neuer Kultursenator gesucht wurde. Er war 1916 in Liegnitz geboren worden, aber seine Eltern waren nach dem Ersten Weltkrieg nach Berlin gegangen, wo sie in Schöneberg einen Lebensmittelladen eröffnet hatten. 1933 hatten sie Hakenkreuzfähnchen ins Schaufenster gestellt, was Ernest, ein Verehrer Max Liebermanns, gar nicht gut gefunden hatte. Nach dem Abitur hatte er Architektur studiert, war aber bald eingezogen worden. Die Eltern und eine Schwester waren ins Erzgebirge evakuiert worden und dort hängengeblieben. Ein paar Mal leicht verwundet, hatte Ernest an der Westfront überlebt und zwei bittere Jahre in französischer Kriegsgefangenschaft einigermaßen unversehrt überstanden. 1947 war er nach Berlin zurückgekehrt, hatte ein Leben als Bohemien begonnen und war mit Chuzpe und Können zu dem aufgestiegen, was er jetzt war: einer Größe im West-Berliner Kulturleben.

Den Cousin aus Massachusetts begrüßte er so theatralisch, als würden sie auf der Bühne des Schillertheaters stehen: «Willkommen, mein lieber Julius, willkommen in Berlin. Mensch, wie freu ick ma! Um es mit Max von Schenkendorf zu sagen: Muttersprache, Mutterlaut! / Wie so wonnesam, so traut! / Erstes Wort, das mir erschallet, / Süßes erstes Liebeswort. / Erster Ton, den ich gelallet, / Klingest ewig in mir fort. / Überall weht Gottes Hauch, / Heilig ist wohl mancher Brauch; / Aber soll ich beten, danken, / Geb ich meine Liebe kund, / Meine seligsten Gedanken, / Sprech ich wie der Mutter Mund.»

Lilienblum lachte. «Hör auf mit so viel Pathos, Ernest. Bei der Mutter Mund denke ich sofort an einen Muttermund, der sich nicht öffnet, und frage mich, was ich meiner Patientin spritzen soll, damit sie ihre Wehen besser ertragen kann.»

Die beiden lagen sich nun in den Armen, und Erkenbrecher bemerkte schmunzelnd, dass die ältere Nachbarin, die dem Schauspiel hinter ihrer Hecke atemlos folgte, schon Tränen in den Augen habe.

Man setzte sich auf die Terrasse, um Kaffee zu trinken, dann wurde beschlossen, in die Stadt zu fahren und dem Gast die Mauer zu zeigen. Das war ein Ritual, das dem West-Berliner als unverzichtbar galt. Die Mauer erhöhte ihn, denn keine andere Stadt im gesamten Kosmos hatte ein solches Bauwerk aufzuweisen, und sie sorgte für große Gefühle: Man konnte dem Gast das eigene Elend schildern, mehr aber noch aus tiefstem Herzen das Schicksal der Deutschen drüben beklagen, der Brüder und Schwestern, man konnte die kommunistischen Diktatoren in Moskau und ihre DDR-Vasallen verfluchen. Hinzu kam die große Wut auf die Nationalsozialisten, ohne deren Schandtaten der Potsdamer Platz turbulenter gewesen wäre als Times Square und Broadway zusammen und nicht eine jämmerliche Brache. Die Mauer wühlte jeden auf, der auf die Podeste kletterte, die man an prominenten Stellen errichtet hatte.

Auch Lilienblum war ergriffen, als sie am Potsdamer Platz angekommen waren. «Nichts als Leere, wo früher einmal … Da drüben hat das Haus Vaterland gestanden, in dem ich immer mit Claire gesessen habe in einem der vielen Säle … Grinzing, Löwenbräu, Wild-West-Bar, Csardas, Bodega, Rheinterrassen … Du brauchtest nicht extra zu verreisen, mitten in deiner Stadt warst du woanders.»

«Das würde heute nicht mehr funktionieren», sagte Ernest Erkenbrecher. «Man will reisen, reisen, reisen.»

«Und dass sie das nicht können, ist für die Leute drüben in der DDR ganz besonders schmerzlich», fügte Georgia Erkenbrecher hinzu. «Wenn ich da an Carola denke …»

Günther Zützer war vor zehn Jahren aus Bad Urach geflohen. Zum einen, um der Bundeswehr zu entgehen, denn als West-Berliner war man von der Wehrpflicht befreit, zum anderen, weil er fürchtete, in der Enge der Kleinstadt zu ersticken. Die schwäbische Gemütlichkeit war ihm ein Greuel geworden, und gern zitierte er Nietzsche: Gutmütig und tückisch – ein solches Nebeneinander, widersinnig in Bezug auf jedes andre Volk, rechtfertigt sich leider zu oft in Deutschland: Man lebe nur eine Zeitlang unter Schwaben!

Eine Weile hatte er in West-Berlin studiert, mal dieses, mal jenes, es dann aber zu seinem Beruf gemacht, an Demonstrationen teilzunehmen und leerstehende Häuser «instand zu besetzen». Schließlich hatte er sein Studium sausen lassen und verdiente nun sein Geld als Kleindarsteller sowie mit einer Kneipe in der Kreuzberger Oranienstraße. An deren Wänden standen Sprüche wie Lieber eine schmutzige Unterhose als eine saubere Uniform oder Lieber eine Schwester im Puff als einen Bruder beim Bund.

Wenn Zützer etwas hasste, dann war es das Establishment, und zu dem zählte er auch die Erkenbrecher-Sippe. Besonders verhasst war ihm Ernest Erkenbrecher. Nicht nur wegen seiner Villa in Lichterfelde – galt doch: «Frieden den Hütten, Krieg den Palästen!» –, sondern auch, weil er, Zützer, alles Schöngeistige und Parfümierte ebenso verabscheute wie alle Kulturfunktionäre. Ernest Erkenbrecher war für ihn der GröSchwäZ, der größte Schwätzer aller Zeiten, oder ersatzweise Old Sabberlippe.

Auch auf Georgia Erkenbrecher hatte er sich eingeschossen, denn die Lehrkräfte der West-Berliner und westdeutschen Gymnasien waren für ihn allesamt Büttel des Kapitalismus, von den Herrschenden engagiert, um die Arbeiterklasse und Kinder der kleinen Angestellten und Beamten – mochten sie auch noch so begabt sein – von den Universitäten und damit den Schalthebeln wie den Fleischtöpfen dieses Landes fernzuhalten.

Dass ausgerechnet Rainer Erkenbrecher sein bester Freund war, erschien Günther Zützer als Witz der Weltgeschichte. Aber so war es nun einmal. Die berühmte Chemie. «Wie bei Romeo und Julia», spottete er des Öfteren.

Kennengelernt hatten sie sich ganz unspektakulär bei einem Sit-in an der FU, und zwar im Gebäude der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät an der Garystraße. Als ein paar Professoren dumme Reden geführt hatten, waren zwei Kommilitonen neben ihm auf die Idee gekommen, einen Feuerwehrschlauch aus einem Kasten zu reißen, ihn an einen Hydranten anzuschließen und die Räume der Hardliner unter Wasser zu setzen. Ihm war es bei dieser Aktion zugefallen, eine Glastür zu zertrümmern, während Rainer Erkenbrecher versucht hatte, die gusseiserne Spritze durch die Öffnung zu schieben. Dabei hatte Erkenbrecher sich die Unterarme aufgerissen und so geblutet, dass sich Zützer sein Oberhemd vom Körper gerissen hatte, um ihn zu verbinden. Anschließend war er mit Erkenbrecher ins Krankenhaus gefahren, und sie waren sozusagen Blutsbrüder geworden. Unter Fotos aus dieser Zeit stand: Winnetou und Old Shatterhand an der FU.

So fand er es auch nicht verwunderlich, dass er von Rainer Erkenbrecher gebeten wurde, Yvonne von zu Hause abzuholen und mit nach Lichterfelde zu bringen. Yvonne wohnte in einer WG in der Pflügerstraße und war Schauspielerin. Sie gehörte zum Ensemble eines Off-Theaters, verdiente ihr Geld als Statistin beim Film, insbesondere als unterklassige Liebesdienerin, und träumte von einer großen Karriere an der Schaubühne. Zützer hatte mit ihr zwei- bis dreimal geschlafen und sie sofort ins Spiel gebracht, als Erkenbrecher davon gesprochen hatte, seine Eltern und seine Verlobte damit schocken zu wollen, dass er sich eine Nutte zum Geburtstag wünsche. Eine echte zu engagieren hatte er dann aber doch nicht gewagt. Zützer hatte kommentiert, Erkenbrecher habe die besten Anlagen, um einmal bei den Sozialdemokraten zu landen.

Als er Yvonne in der Pflügerstraße am Straßenrand stehen sah, stieß er die Tür auf der Beifahrerseite auf.

«Wie viel kostet es heute bei dir?»

«Fünfzig, aber mit Präser.»

«Gut, die zahl ich gerne.» Zützer zog den Zündschlüssel ab und schwang sich aus seinem Kleinwagen.

«Das ist Rainers Geburtstagsgeschenk und nicht deines!», rief Yvonne.

«Ja, symbolisch. Du denkst doch nicht etwa, dass Martina ihn einen Augenblick aus den Augen lässt und ihr beide wirklich …» Schon stand Zützer neben ihr. «Ich mein das ernst: Fünfzig Mark, und du spielst die Nutte.»

«Okay.» Yvonne liebte solche Szenen. «Her mit dem Geld, sonst läuft nüscht, mein Kleena.»

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32,39 zł
Ograniczenie wiekowe:
0+
Data wydania na Litres:
23 grudnia 2023
Objętość:
261 str. 2 ilustracje
ISBN:
9783955520724
Wydawca:
Właściciel praw:
Автор
Format pobierania:
Audio
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