Czytaj książkę: «Männerrock»

Czcionka:

Holger Hähle

Männerrock

Geschlechterrollen in Mode und Gesellschaft

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwort

01 Kultur als Voraussetzung für Mode – Woher haben wir Kultur?

02 Mode als soziokulturelle Bekleidungsordnung

Gruppenkonformes Verhalten

Gesellschaftliche Kategorien und ihre Symbole

Sozialisation prägt normatives Verhalten

Neue Mode ist nonkonform

03 Sexus und Gender in Kultur und Mode

Das biologische Geschlecht

• Im Tierreich -

• Der Mensch -

Das soziokulturelle Geschlecht

• Im Tierreich -

• Der Mensch -

04 Eine kurze Geschichte des Männerrocks

Das Altertum – Von der Steinzeit bis zum Römischen Reich

• Steinzeit -

• Die Sumerer -

• Babylonier und Assyrer -

• Das alte Ägypten -

• Europäische Bronzezeit -

• Antikes Griechenland -

• Römisches Reich -

• Byzantinisches Reich -

Vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution

• Das Reich der Franken -

• Romanik -

• Gotik -

• Renaissance -

• Vom Barock zur Französischen Revolution -

Boys-Breeching (Hosenreife)

Ostasien

• China -

• Japan -

05 Heels machten Männer einst groß und wichtig

06 Männer als modische Vorreiter - Vom Badeanzug zur Badehose

07 Rockmode für Männer als traditionelle Tracht

Europa: Albanien, Griechenland, Schottland, Ungarn

Naher Osten und Nordafrika

Südliches Afrika

Asien und Ozeanien

• Indien, Myanmar, Sri Lanka, Bhutan -

• Indonesien, Philippinen -

• Ozeanien: Samoa, Tahiti -

08 Röcke für Männer im 20./21. Jahrhundert

09 Genderperspektiven in der Mode – Was denken junge Leute?

Ergebnisse der statistischen Erhebungen

• Welchen Einfluss haben Rollenbilder auf die Bewertung eines Outfits? –

• Wie tief verwurzelt sind Rollenbilder? –

• Machen Hosen die Frauen männlich? –

• Sind traditionelle Kleider für Männer zeitgemäß? –

• Wie werden moderne Rockkreationen für Männer gesehen? –

• Was macht Kleidung weiblich oder männlich? -

• Nimmt die Akzeptanz von Röcken am Mann zu, wenn die sich kaum von Hosen unterscheiden? –

• Können Röcke so wie Hosen unisex werden? –

• Welche Bedeutung haben geschlechtsspezifische Markierungsregeln? –

Zusammenfassung

Zukunftsweisend – Mode ohne Grenzen

Dank

Zum Autor

Endnotenverzeichnis

Kapitel 01

Kapitel 02

Kapitel 03

Kapitel 04

Kapitel 05

Kapitel 06

Kapitel 07

Kapitel 08

Impressum neobooks

Vorwort

Mode ist eine fundamentale kulturelle Ausdrucksform. Seitdem es Bekleidung gibt, dient sie nicht nur praktischen Zwecken, wie dem Schutz vor Kälte. Wichtiger ist die Bekleidung als nonverbales Kommunikationsmittel, das das Verhältnis der Menschen zueinander regelt. Bekleidung ist immer in erster Linie Ausdruck gesellschaftlicher Standards und Normen. Sie verweist auf den sozialen Status des Trägers und auf sein Geschlecht. Sie spiegelt somit die gesellschaftliche Ordnung und ihre Verhaltensregeln wider. Wer mit der Mode geht, gehört dazu.

In diesem Buch wird der Begriff Mode synonym mit dem allgemeinen Bekleidungsverhalten verwendet, das charakteristisch für eine bestimmte Zeit ist. In diesem Sinne wird der Begriff nicht nur auf die manifest gewordenen Trends aktueller Mode bezogen, sondern auch auf alle historischen Moden.

Der Fokus dieses Buches liegt auf den Geschlechterrollen in der Mode. Es will erklären, warum es in der Modegeschichte nur zwei Geschlechter gibt und warum es den Gesellschaften so wichtig war und oft noch ist, eine binäre Geschlechtszugehörigkeit durchzusetzen und mit spezifischer Kleidung zu markieren.

Interessanterweise gab es zu unterschiedlichen Zeiten und in verschiedenen Kulturen sehr unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie weibliche und männliche Kleidung auszusehen hatte. Manche Vorstellungen hierzu konnten sich im Laufe der Zeit sogar ins Gegenteil verkehren.

Das auffallendste Beispiel dazu ist der Rock und insbesondere der Männerrock, weswegen er in diesem Buch besondere Aufmerksamkeit findet. Über Jahrtausende haben Frauen und Männer Röcke und Kleider getragen, bis es im 18./19. Jahrhundert zu radikalen Veränderungen kam, die von der Französischen Revolution begleitet wurden. Die Männer wechselten endgültig vom Rock zur Hose, und mit der Zuordnung der Hose als männlichem Privileg wurde der Rock weiblich konnotiert. So wurde der Rock für Männer zum Tabu, so wie die Hose zum Tabu für Frauen wurde.

Diese neue Konstruktion kultureller Geschlechtlichkeit durch die Bürgerrechtsbewegung, öffnete ein weiteres Kapitel patriarchalischer Hegemonie. Der Widerstand der Frauen gegen diese Unterdrückung führte zur Frauenrechtsbewegung. Heute können Frauen in vielen Ländern an politischen Wahlen teilnehmen. In der Mode haben sie sich von rigiden Vorschriften total befreit. Selbst klassische Männermode ist für Frauen tragbar geworden, wie die Schauspielerinnen Anita Berber und Marlene Dietrich bereits in den 1920er Jahren mit Frack und Zylinder eindrucksvoll bewiesen haben. Und auch meine Töchter bedienen sich ganz selbstverständlich an Papas Kleiderschrank, wenn sie Hosen, T-Shirts oder eine Krawatte suchen.

Aber warum hat sich die Männermode nicht weiterentwickelt? Warum gibt es neben dem Boyfriendlook für Frauen nicht den Girlfriendlook für Männer? Die Jungs geben doch sonst auch gern mit ihren Eroberungen an? Die aktuellen Unisex-Trends sind bislang eine Einbahnstraße, weil fast nur Frauen davon Gebrauch machen. Dabei gibt es Angebote für eine buntere, abwechslungsreichere Mode für Männer, zu der auch Männerrockkreationen von renommierten Designern gehören. Darunter sind u. a.: Astrid Andersen, Thom Browne, Comme de Garçons, Jean Paul Gaultier, João Pimenta, Louis Vuitton, Vivian Westwood und Yohji Yamamoto. Es wird zu klären sein, warum Männer Angst vor einer freien Mode haben und warum ihnen zu anderen Zeiten Rock und Gewand nicht prächtig genug sein konnten.

Ich hoffe, es gelingt mir mit meinen Beispielen und Umfragen Mut zu machen, sich von den bürgerlichen Modekonventionen zu befreien. Konventionen legen die Ansprüche einer Gesellschaft an ihre Mitglieder fest. Sie sind eindimensional, wenn sie nicht die natürliche Vielfalt von Gesellschaften mit ihrer enormen Bandbreite individueller Heterogenität widerspiegeln.

Modevorschriften für die Geschlechter sind ein Eingriff in ein selbstbestimmtes Leben. Wer sich unabhängig und frei kleidet, zeigt seine Individualität. Es gibt mehr als den Einheitsmann - der Mode, besonders als Anzugsmann am Arbeitsplatz - wie eine Uniform benutzt. In der Antike, der Renaissance oder im Barock haben sich „wichtige“ Männer deutlich vielseitiger präsentiert.

Dieses Buch will zum Ungehorsam aufrufen gegen alle Rollenzuweisungen, die nicht mit uns als Individuum konform gehen. Ich habe dieses Buch geschrieben, weil ich verärgert darüber bin, dass mir Vorgaben gemacht werden, wie ich mich zu bekleiden habe. Besonders am Arbeitsplatz empfinde ich den Dresscode wie ein Korsett, das meine Identität verbiegt. Schon als Kind habe ich mich im Anzug zur Erstkommunion total verkleidet gefühlt. Das hat sich bis heute nicht geändert. Im Anzug spiele ich eine Rolle, die mit meiner Person oder meinem Geschlecht nichts zu tun hat. Mode als kulturelles Phänomen, das Geschlechterrollen konstruiert, die mit meiner allgemeinen Befindlichkeit und meinem biologischen Geschlecht nichts zu tun haben, lehne ich, wie jede andere Fremdbestimmung, ab.

Die Pflicht, sich durch spezifische Kleidung geschlechtlich zu markieren, ist gesellschaftlich schon längst nicht mehr erforderlich. Sie ist ein Anachronismus in einer freiheitlichen, demokratischen Gesellschaft, die die Persönlichkeitsrechte in ihrer Verfassung ausdrücklich schützt. Individuelle Vielfalt einschließlich geschlechtlicher Vielfalt ist ein Reichtum, der die Welt bunter und schöner macht.

01 Kultur als Voraussetzung für Mode – Woher haben wir Kultur?

Unsere gemeinsame Urmutter Lucy, wie die Forscher die etwa drei Millionen Jahre alten Überreste des weiblichen Vorfahren von Australopithecus afarensis nannten, hatte menschliche DNA und konnte bereits aufrecht gehen, aber Kultur hatte sie noch nicht. Sie gehörte zu den Vormenschen, deren Lebensweise sich nicht von anderen Primaten, wie z. B. den Gorillas, unterschied. Ihr Leben beschränkte sich darauf, Nahrung zu erjagen oder Früchte zu sammeln, sich gegen Feinde zu verteidigen oder vor ihnen zu flüchten, sich zu paaren und den Nachwuchs aufzuziehen. Die kulturelle Evolution begann mit den Vormenschen, denn sie konnten wie auch Schimpansen Stöcke oder Steine als Werkzeug benutzen, aber es fehlte vorausschauendes Denken, um in einem Stein ein Messer zu sehen, wenn der Stein entsprechend bearbeitet würde. Wahrscheinlich konnten sie aber Steine zertrümmern und die dabei zufällig entstehenden Splitter als Klingen benutzen.

Die Kultur kam erst mit den Urmenschen der Gattung Homo, zu deren letzter Spezies wir als Homo sapiens gehören. Es ist allgemeiner Konsens, dass die menschliche Kultur mit der Fähigkeit begann, Feuer zu machen. Die ältesten Funde von Lagerfeuern unseres Vorfahren Homo erectus sind etwa eine Million Jahre alt (1). Auch die Herstellung von Werkzeugen und Waffen wie Faustkeilen und Speeren kennzeichnen den Beginn von Kultur.

Und bekleidet haben sich die frühen Menschen damals auch schon, z. B. mit Gürteln aus den Ranken von Kletterpflanzen, an denen sie wahrscheinlich geflochtene Behältnisse für Angelhaken oder Pfeilspitzen befestigten (2). Mit Fell- oder Lederstücken, die um das Gürtelband gezogen wurden, entstand ein einfacher Lendenschurz.

Für Kleidung als kulturelles Produkt wurden im Laufe der kulturellen Evolution Naturfasern wie Wolle aus Pflanzen oder von Tieren gewonnen, durch Spinnen und Weben zu Tüchern verarbeitet und mit kreativen Ideen handwerklich zu einem Kleidungsstück verarbeitet. Die ältesten Darstellungen von Webtechniken finden sich als Wandmalereien in altägyptischen Gräbern.

Kultur umfasst alle gestalterischen Leistungen des Menschen. Das schließt die Umarbeitung von Materialien für technische und künstlerische Anwendungen als auch Geistesgebilde ein. Kunst, Handwerk, Moral und Ethik sind Kulturformen, die den Menschen schon immer begleiteten. Mit der Kultur beginnt die Historie, die Geschichte der Menschheit. Die Zeit davor mit Lucy ist die Prähistorie.

Kulturelles Verhalten braucht zwei Voraussetzungen: Zum einen sind Hände mit einem Daumen notwendig, der in Opposition zu den anderen Fingern bewegt werden kann und so Greifbewegungen ausführen kann. Das ist eine Grundbedingung, um Gegenstände zu halten und zu bearbeiten.

Dabei hilft auch der aufrechte Gang, denn die Arme werden nicht als Vorderläufe zum Gehen gebraucht. Sie stehen also für andere Tätigkeiten als der Fortbewegung zur Verfügung. So konnten unsere Vorfahren bei der Pirsch die Arme und Hände für eine Waffe benutzen.

Aber auch bei der Verteidigung gegenüber Raubtieren, deren Beute Vormenschen und Urmenschen waren, war das überlebenswichtig. Eine der bedeutendsten kulturellen Leistungen der Frühzeit bestand darin, dass sich Menschen mit Waffen und strategischen Überlegungen vom Gejagten zum Jäger entwickeln konnten.

Ja, und für das Erdenken von Strategien ist ein geeignetes Gehirn notwendig. Das Hirn der Menschen ist deutlich größer als das der Vormenschen. Das beweisen die größeren Schädel. Die Größe ist ungewöhnlich. Im Tierreich werden kleine Hirne bevorzugt, weil sie weniger Energie verbrauchen. Wer viel Energie benötigt, muss auch viel Beute machen oder noch viel mehr pflanzliche Nahrung konsumieren. Unser Menschenhirn macht nur etwa 3 % des Körpergewichts aus, verbraucht aber selbst im Ruhezustand noch 25 % der Körperenergie (3). Wer intensiv für wichtige Prüfungen lernt, der weiß, wie ausgelaugt und müde man sich nach stundenlangem Pauken durch den hohen Energieumsatz fühlen kann.

Durch Schädelfunde wissen wir, dass das Hirn des Urmenschen viel größer war als das der Vormenschen. Wie es funktionierte, können wir trotz fehlender fossiler Funde rekonstruieren, wenn wir von unserem Gehirn als Referenz für unsere Gattung ausgehen. Im Hirn der Gattung Homo ist für dessen besondere Leistungen, die uns zum Menschen macht, die Entwicklung des Neocortex und seine Vernetzung mit anderen Hirnteilen verantwortlich.

Der Neocortex ist der motorische Teil des Großhirns, der Sinneswahrnehmungen zusammenfügt und begreifbar macht. Er gehört zu dem großen grauweißen „darmähnlichen Gewusel“, das die darunter liegenden Hirnteile verdeckt. Dieser Gehirnteil ist in seiner Größe, Komplexität und Leistungsfähigkeit charakteristisch für Säugetiere. Beim Menschen ist er besonders umfangreich ausgebaut und mit dem limbischen System vernetzt.

Der Limbus ist das emotionale Zentrum. Es besteht aus ursprünglichen Teilen der Großhirnrinde und darunter befindlichen subkortikalen Arealen. Durch seine Vernetzung mit dem Neocortex sind uns feindifferenzierte Gefühle und fantasievolle Imaginationen möglich. Erst die Hormone des limbischen Systems, wie die Endorphine, geben unseren Empfindungen den Sinneseindruck eines Gefühls.

Ein so ausgestattetes Gehirn kann eine Lautsprache entwickeln, die für die komplexe Verarbeitung von Eindrücken extrem wichtig ist. Ich möchte das an einem Beispiel erklären.

Ein Affe, der ein Raubtier sieht, wie es sich der Horde nähert, wird einen Warnlaut ausstoßen, den andere Tiere der Horde wiederholen, um die Warnung weiter zu verbreiten und um zu bestätigen, dass die Warnung angekommen ist.

Jetzt stellen wir uns vor, da sitzt statt der Affen eine Horde Menschen auf den Bäumen. Dann könnte der erste Mensch, der das Raubtier sieht, rufen: „Vorsicht Leute, von der Lichtung her kommt ein Leopard.“ Ein anderer Mensch könnte darauf reagieren mit: „Hey Leute, vorsicht! Peter sagt, dass da ein Leopard auf der Lichtung ist und näher kommt.“ Und wieder andere Menschen könnten antworten: „Okay, wir haben verstanden. Ein Leopard kommt von der Lichtung.“

Erst mit Sprache können aus Lauten Wörter gebildet werden, mit denen sich Bedeutungen feindifferenziert wiedergeben lassen. Wenn die Wörter dann auch noch im Rahmen grammatischer Möglichkeiten vielfältig zu Sätzen kombiniert werden, entstehen weitere Bedeutungen und Sinnzusammenhänge. So lässt sich eine Wahrnehmung unterschiedlich wiedergeben, je nachdem, welche Aspekte hervorgehoben oder vernachlässigt werden sollen. Gleichzeitig können die Informationen variiert oder ergänzt werden. So hatten die Menschen am abendlichen Lagerfeuer reichlich Gelegenheit, sich mit sprachlichen Mitteln über Erfahrungen, Ideen und Visionen auszutauschen und dabei voneinander zu lernen oder Behauptungen kritisch zu hinterfragen (4).

Ist Ihnen schon aufgefallen, dass Sie ohne Worte nicht sehr weit denken können? Wann immer Sie lautlos denken, benutzen Sie gedanklich Ihre Muttersprache. Babys können auf ihre Gefühle nur sehr einfach mit Mimik und Lauten reagieren. Sie weinen, wenn sie Hunger haben. Sie können zu ihrem Hungergefühl noch keine Gedanken anstrengen. Ihr Gehirn und damit ihr Sprechvermögen muss erst reifen.

Und damit kommen wir zu einem wichtigen Aspekt, der erklärt, warum Kultur so prägend ist. Als Kind war ich beeindruckt, wie schnell die Welpen aus dem Wurf vom Hund meines Freundes erwachsen wurden. Auch die Blaumeiseneier im Nistkasten wurden schnell ausgebrütet. Schon nach wenigen Wochen sah ich die fast flüggen Jungtiere bei ersten Flugübungen. Natürlich fragte ich mich, warum ich als Mensch noch so viele Jahre mehr bis zu meiner Volljährigkeit vor mir hatte? Wie konnte sich der Mensch trotz dieses Nachteils zur „Krone der Schöpfung“ entwickeln?

Gerade in der Frühzeit des Menschen war es wichtig, schnell erwachsen zu werden. Eine gerade erst geborene Gazelle, die nicht schnell genug auf die Beine kommt, um der Herde zu folgen, wird leicht zur Beute für Raubtiere. Eine junge Gazelle muss auch schnell lernen, die richtigen Pflanzen zu fressen und Giftpflanzen zu meiden. Tatsächlich ist das Hirn einer Gazelle von Geburt an schon sehr weit entwickelt. Tiere, so könnte man vereinfachend sagen, werden praktisch mit einem erwachsenen Gehirn geboren. Viel lernen können sie nicht mehr.

Menschlicher Nachwuchs hingegen, war ein Hindernis bei den Wanderungen der Sippe und musste besonders geschützt werden. Die Raubtiere werden sicher nicht nur bei den Kitzen der Gazellen versucht haben, Beute zu machen. Wer war aus Raubtiersicht wohl leichter zu erjagen?

Diesem offensichtlichen Nachteil steht ein gewaltiger Vorteil gegenüber. Menschenkinder müssen lernen, erwachsen zu werden. Hier passt der Spruch, dass man nicht als Mann geboren, sondern zum Mann gemacht wird. Menschen haben die sogenannte Adoleszenz, also die Zeit, um zum Erwachsensein zu reifen, vor sich.

Dieser Zeitraum ist prägend. Alle Lebenserfahrungen werden auf unsere noch weitgehend leere „Festplatte“ im Gehirn geschrieben. Unsere kulturelle Umgebung wird so gespeichert einschließlich ihrer Veränderungen. Weil wir mit der Geburt erst anfangen aus Erlebnissen und Erfahrungen zu lernen, können wir uns der Umwelt und ihren Veränderungen anpassen. Ein Gazellenkitz und seine Artgenossen, die dramatische und schnelle Umweltveränderungen erleben, werden sterben, wenn sie bei einem Klimawandel z. B. nicht lernen können, sich auf andere Nahrung umzustellen.

Es sind die enormen Möglichkeiten eines anfangs unentwickelten Menschenhirns, sich in einer Weise zu entwickeln, die sich bei der Geburt noch nicht erahnen lässt, die den Menschen so sehr von anderen Lebensformen unterscheidet.

Der Mensch kann durch Lernen auf seine Umwelt reagieren und er kann durch Lernen die Umwelt selbst verändern. Die geistigen Fähigkeiten, die sich durch neuronale Vernetzungen im Gehirn entwickeln, sind das Potential unserer kulturellen Perspektiven. Je mehr wir denken, umso mehr vernetzen sich unsere Neuronen. Dies hilft besonders Babys, Kleinkindern und Teenagern, wenn wir sie beschäftigen. Aber die Fähigkeit, unser Gehirn zu entwickeln, besteht ein Leben lang. In diesem Sinne funktioniert unser Hirn ähnlich wie ein Muskel, der erst leistungsfähig wird, wenn er trainiert wird. Denken macht schlau. Das ist eine aktuelle Erkenntnis der Neurowissenschaften (5).

Mit den besonderen Ausformungen des Menschenhirns und der Sprachentwicklung haben sich die kognitiven Fähigkeiten, die Umwelt wahrzunehmen und Sinneseindrücke mit strategischem Denken zu verarbeiten, gegenüber anderen Säugetieren drastisch verbessert. Der Vollständigkeit halber möchte ich erwähnen, dass grundsätzlich alle Säugetiere einen Neocortex haben und dass sie diesen nutzen. Der Psychologe Wolfgang Köhler konnte bei seiner Arbeit mit Schimpansen bereits von 1913-1920 feststellen, dass die Tiere nicht nur nach dem Trial-and-Error-Prinzip, also durch zielloses Ausprobieren, lernten.

Die Affen in seinen Versuchen unterbrachen ihre Versuche an Nahrung zu kommen, wenn diese erfolglos blieben, nur vorübergehend. Sie nutzten die Zeit zum Schlafen oder Nachdenken und probierten danach neue Strategien. In ähnlichen Situationen in späteren Versuchen griffen sie dann direkt auf die gelernte und erfolgreiche Strategie zurück (6).

Und zu welchen Gefühlsleistungen ein Affenhirn in der Lage ist, hat Jane Goodall Anfang der 1960er Jahre mit ihren Langzeituntersuchungen an Menschenaffen und Schimpansen in deren natürlicher Umgebung eindrucksvoll dokumentiert. Selbstverständlich können Primaten auch trauern (7).

Aber Menschen können das alles noch viel komplexer, womit auch die Folgerungen und Möglichkeiten für Reaktionen größer werden. Die Fähigkeit zu Reflektion, Abstraktion, Deutung und vorausschauenden Planungsprozessen sind erstmals im menschlichen Gehirn realisiert. Der Mensch kann Dinge denken, die es noch gar nicht gibt. Darüber hinaus ist sich der denkende Mensch seiner selbst bewusst. Die Auseinandersetzung mit sich zeigt er in rituellen Handlungen und Kulten. Es entsteht über Generationen Kultur durch die Weitergabe von Erfahrung, deren Weiterentwicklung und Tradierung.

Leider werden wir es nie erfahren, aber der Urmensch war sicher zu einer Äußerung, wie wir sie vom Philosophen René Descartes kennen fähig, die da heißt „Ich denke, also bin ich“.

Mit dem Gehirn als geistigem Prozessor für Handlungsmöglichkeiten und den Händen als Werkzeug zur Umsetzung gedachter Intentionen, schafft der Mensch Leistungen, die grundverschieden sind von den Leistungen aller anderen Lebewesen, einschließlich der Vormenschen wie Lucy. Der Mensch beginnt sich die Welt so zu denken und zu machen, wie er sie haben möchte. Kultur ist die Gestaltung der Umwelt, die so immer unabhängiger von der Natur wird. Es zählt nur noch der Wille und das Wissen um Möglichkeiten.

Mit diesem modernen Menschen beginnt der Aufstieg an die Spitze der Nahrungskette. Die geistige und handwerkliche Dominanz machte die Menschen autark und gab ihnen Zeit für Muße. Töpferwaren und Kleidung wurde verziert und animistische Kulte kunstvoll praktiziert, wie wir es von atemberaubenden Wandmalereien kennen.

In diesem geistigen Umfeld entwickelt sich unsere Kulturgeschichte. Kultur ist unser Gegenentwurf zur Natur. Sie wird den Menschen immer mehr von der Natur entfremden. Gerade in den Städten leben wir heute weitgehend ohne Natur. Wir arbeiten für Geld in Büros oder Fabriken. Damit kaufen wir Lebensmittel im Supermarkt, die wir somit weder in der Wildnis sammeln noch erjagen müssen. Wir reisen nie zu Fuß, häufig aber mit Autos, Schiffen und Flugzeugen. Wir treiben Sport in Fitnessstudios und Schwimmbädern. Wir konsumieren kulturelle Angebote im Fernsehen, Internet, Theater, Opernhaus etc. Der moderne Mensch hat mit seiner Kultur das Anthropozän geschaffen (8). Das ist das Zeitalter, in dem Menschen fast alle Prozesse auf unserer Erde beeinflussen oder gar kontrollieren und die „wilde“ Natur immer mehr zurückdrängen.

34,24 zł