Herzensöffnung (3): Später

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Herzensöffnung (3): Später
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Herzensöffnung (2)

Herzensöffnung (3)

Später

(Jan. 2011 – Dez. 2011)

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2016

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Quellennachweis des Gedichts „Gefunden“

von Johann Wolfgang von Goethe:

Klassik Stiftung Weimar / ​Goethe- und Schiller-Archiv

Signatur: GSA 25/​W 30

Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2016

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Rückblick

1. Håp Land – Omas 66. Geburtstag

2. Sonnenberg – Disko-Queen

3. Håp Land – Zehn Jahre Urlauberdorf

4. Sonnenberg – André Thieme

5. Håp Land – Ferienlager in Håp Land

6. Sonnenberg – Urlaub in Sonnenberg

7. Håp Land – Zum Jahreswechsel

Rückblick

Nun sind schon zehn Jahre ins Land gegangen, seit die umfangreichen Baumaßnahmen in Håp Land begonnen haben. Alle Ferienhäuser sind inzwischen in den Besitz der Dorfbewohner übergegangen. Dadurch hat sich bei vielen Menschen im Dorf die Lebensqualität erheblich verbessert. Auch das Gesamtbild des Dorfes veränderte sich durch die vierzig neu gebauten Ferienhäuser. Inzwischen leben hier viel mehr Menschen. Zu den 270 Einwohnern von Håp Land zählt man nun ständig etwa 120 Touristen im Dorf und ebenso viele noch einmal im Hotel Snowdrop, welches nah am Fjord steht. Dadurch rentieren sich zusätzlich zur Bäckerei auch ein Lebensmittelgeschäft und ein Souvenirladen. Ebenso bieten zwei Bootsunternehmen Fjordrundfahrten und Hochseeangeln an. Dazu kommt eine Fahrradreparaturwerkstatt und -ausleihstation. So hat der aufblühende Tourismus das ganze Dorf und auch dessen Einwohner verändert. Das Erlebnisbad am Hotel Snowdrop zieht zusätzlich aus der weiteren Umgebung Touristen und Bewohner an. So ist aus dem einst verschlafenen, kaum bekannten Dorf ein attraktiver Ort geworden, den viele Besucher weiterempfehlen. Die Alten in Håp Land vermissen manchmal die absolute Ruhe, die hier einst herrschte. Dafür ist aber Wohlstand im Dorf eingezogen.

Seit 2008 ist Olaf Jansen Bürgermeister in Håp Land. Als der alte Bürgermeister Björn Nansen plötzlich verstarb, wurde er mit großer Mehrheit gewählt. Die Bewohner von Håp Land setzten ihr Vertrauen in ihn, weil er den Bau der Ferienhäuser so vorbildlich organisiert hatte und sich auch zusammen mit Andrea Aglund für das friedliche Nebeneinander zwischen Touristen und Einheimischen aktiv einsetzte. Viele der alteingesessenen Einwohner im Dorf bewunderten Olaf, wie er ständig mit seinen Aufgaben wuchs. Als er im Jahr 2001 mit der Organisation des Ferienhausbaus begonnen hatte, trauten ihm die meisten dies gar nicht zu. Damals glaubten viele, dass er diese Arbeit nur der Freundschaft zu Maria Kosch und ihrem Mann verdankte. Inzwischen denkt keiner mehr so. Mit seiner Fahrradwerkstatt und -ausleihstation hat er einen Service ins Dorf gebracht, welchen immer mehr Dorfbewohner in Anspruch nehmen. Besonders die Kinder des Dorfes lieben ihn, weil er nicht nur ihre Fahrräder repariert, sondern ihnen auch zeigt, wie man viele Reparaturen selbst machen kann.

Die Bäckerei von Mike und Wenke Schulze hat sich zu einer im großen Umkreis bekannten Bäckerei und Konditorei entwickelt. Mike und Wenke haben 2003 geheiratet, seitdem hat Mike Schulze den Handwerksbetrieb als Meister übernommen und bildet seit 2005 auch Lehrlinge aus. Das ursprüngliche Bäckereigebäude haben sie inzwischen erweitern müssen und beschäftigen jetzt elf Angestellte, die alle in Håp Land wohnten oder hierher umgezogen sind. Zu dem Bäckerladen im Dorf gehören mittlerweile auch noch zwei Verkaufswagen, die in den umliegenden Dörfern Backwaren und ein begrenztes Lebensmittelsortiment anbieten. Diese zusätzlichen Waren beziehen sie aus dem Lebensmittelgeschäft, welches seit 2002 in Håp Land ansässig ist. So haben viele im Dorf gelernt, miteinander zu arbeiten. Noch vor zehn Jahren hat es das nicht gegeben. Damals hat jede Familie eher für sich gelebt; verwandtschaftliche Bindungen ausgenommen.

Durch all diese Veränderungen ist in Håp Land ein unübersehbarer Optimismus eingezogen, der inzwischen andere Gemeinden zu eigenen Initiativen ermuntert hat. Diesen schnellen Aufschwung hat Håp Land zum großen Teil einer fairen Hilfe der deutschen KOSCH-GmbH bei der Finanzierung zu verdanken. Diese hat nun im Gegenzug ein wunderbares Urlaubsziel für ihre Belegschaft anzubieten. So entstand aus einer anfänglichen Idee von Wolfram Kosch eine Symbiose im Kleinen zwischen den Einwohnern des Dorfes und im Großen zwischen der KOSCH-GmbH und dem Ort Håp Land. Selbst das einst von den Bewohnern des Dorfes stark abgelehnte Hotel Snowdrop ist nun in den ganzen Touristenbetrieb von Håp Land mit eingebunden. Seit der Eröffnung des Erlebnisbades mit den vorteilhaften Eintrittspreisen für Einheimische lieben sie auch die Anwesenheit des Hotels. Vor zehn Jahren konnten die meisten in Håp Land nicht schwimmen. Jetzt gibt es kaum noch Bewohner des Dorfes, die nicht schwimmen können. Nur einige der Älteren halten vom Baden im Freizeitbad immer noch nichts.

Inzwischen ist das Hotel auch noch anders mit dem Dorf verwachsen, seit immer mehr Einwohner von Håp Land im Hotel Snowdrop arbeiten. Auch das war vor zehn Jahren noch nicht so. Zusätzlich wird das Hotel vom Dorf aus mit frischen Backwaren aus der Bäckerei und Konditorei beliefert. Ebenso kauft das Hotel seinen Bedarf an Eiern im Lebensmittelladen des Dorfes ein. Wobei dieses Geschäft nur Eier von den Hühnern der Dorfbewohner aufkauft und verkauft. So wächst auch das Hotel immer mehr mit dem Dorf und seinen Bewohnern zusammen.

Als das Hotel vor dreißig Jahren gebaut wurde, hatten die Dorfbewohner heftig dagegen protestiert, aber der „Betonklotz“ wurde trotzdem gebaut. Deshalb war ihnen dieser Schandfleck in der Natur immer ein Dorn im Auge. Es war für sie Ehrensache, dass keiner in diesem aufgezwungenen Bauwerk, der ihre dörfliche Idylle störte, arbeitete. Diesen Widerstand hat erst der neue Hoteldirektor Sven Aglund abgebaut. Er arbeitete von Anfang an in der Rezeption und hat vor zehn Jahren die Direktorin des Hotels abgelöst, als dieser Unterschlagungen nachgewiesen wurden. Sven hatte seine Frau vor elf Jahren unter den Bewohnern von Håp Land gefunden. Nach seiner Heirat wurde er durch den Umzug ins Dorf zum ersten Dorfbewohner, der im Hotel arbeitete. Damals war er noch Leiter der Rezeption. Von da an hat Sven dafür gesorgt, dass alle freien Stellen für ungelernte Arbeitskräfte mit Bewohnern aus seinem Dorf besetzt wurden. Auch bot das Hotel, seit er Direktor war, Lehrstellen im Hotelgewerbe an, welche wieder teilweise von der Jugend des Dorfes genutzt wurden. Damit hat er das Hotel in das Dorf eingegliedert. In den letzten drei Jahren bekam er vom neuen Bürgermeister zusätzliche Unterstützung dafür. Das wunderte auch niemanden, denn die Familien von Sven Aglund und Olaf Jansen sind seit vielen Jahren eng befreundet.

Seit dem Jahr 2002 mietet sich die KOSCH-GmbH im Juli mit jeweils vierzehn Kindern und zwei Betreuern pro Ferienhaus in einigen Ferienhäusern in Håp Land ein. Es sind Kinder der Sonnenberger Firmenbelegschaft, die hier zwei Wochen ihrer Ferien mit den einheimischen Kindern zusammen verbringen. Anschließend organisiert die Firma im Gegenzug zwei Wochen Ferienlager für die Håp Länder Kinder in Sonnenberg zusammen mit den hier ansässigen Kindern. So entstehen immer mehr Freundschaften zwischen den norwegischen und deutschen Kindern in diesen gemeinsamen vier Wochen. Während dieser Zeit werden die Kinder in Håp Land sowie in Sonnenberg immer von norwegischen und deutschen Erwachsenen gemeinsam betreut, wobei die beiden Schwestern Maria Kosch und Andrea Aglund eine leitende Rolle dabei einnehmen. Anfangs waren es kaum zwanzig Sonnenberger Kinder, die nach Håp Land fuhren. Inzwischen sind es über fünfzig Kinder, die jedes Jahr in dem südnorwegischen Dorf „Kinderurlaub“ machen.

Wolfram Kosch hat seiner Familie in den vergangenen zehn Jahren den „Rest der Welt“ gezeigt. Sie flogen jedes Jahr im Winter oder während der Osterferien an einen anderen Ort. So lernten Maria und die Kinder Los Angeles, Moskau und London kennen, aber auch die Ruinen der Inkastadt Machu Picchu oder die Maya-Pyramiden in Chichen Itza und Tikal. Selbst Asien, Afrika und Hawaii haben sie in dieser Zeit kennengelernt.

 

Mit dem Eintritt Mikes in die Bäckerei und der von ihm ausgelösten Expansion ist auch das Ansehen von Wenke, ihren Kindern und ihrer Mutter im Dorf gestiegen. Schließlich ist seit dieser Zeit die Bäckerei nach dem Hotel der größte Arbeitgeber in Håp Land.

Am Pfingstsonnabend 2003 heirateten Mike und Wenke. Zu diesem Anlass waren auch Wolfram, Maria und ihre Kinder eingeladen. Als zusätzliches Hochzeitsgeschenk brachte Wolfram nicht nur Michael, sondern zum ersten Mal auch Manuela aus Mikes erster Ehe mit nach Håp Land. Die kleine Manuela sah ihren Vater dadurch zum ersten Mal, denn sie war erst zwei Monate alt, als Mike von seiner geschiedenen Frau aus dem Schwarzwald weggezogen war. Jetzt aber, mit zwei Jahren, konnte Mike einen regelmäßigen Kontakt zu seiner kleinen Tochter aufbauen, so wie es in der Vereinbarung mit seiner geschiedenen Frau geregelt war.

Als Hochzeitsgeschenk luden Maria und Wolfram die neue Familie Schulze für eine Woche zu sich nach Sonnenberg ein. Zwei Tage nach der Hochzeit flogen die Familien Kosch und Schulze zusammen mit dem Firmenjet nach Uelzen. Unterwegs erklärte Wolfram den frischgebackenen Eheleuten, wie er zu der KOSCH-GmbH steht. Besonders Mike war verblüfft darüber, dass Wolfram sein ehemaliger großer Chef gewesen war. Wenke begriff die Tragweite dieser Eröffnung erst beim Anblick der Villa in Sonnenberg. Nun bat Maria beide und auch ihre Söhne, dass sie dieses Wissen unbedingt für sich behalten sollten, damit es in Sonnenberg und auch in Håp Land niemand erfuhr. Sie wollten auch weiterhin in beiden Orten von den Einwohnern als ganz normale Menschen behandelt werden.

Am 15. Juni schaffte Mike seine beiden Kinder aus erster Ehe zurück nach Lahrsheim, wo seine geschiedene Frau lebte. Mit dem Firmenjet der KOSCH-GmbH war das kein Problem. Vom Flugplatz in Offenburg waren es nur noch fünfzehn Kilometer bis Lahrsheim. Während er seine beiden Kinder zurückbrachte, lernte Wenke mit ihren Söhnen Offenburg kennen. Maria und Wolfram begleiteten sie mit ihren Kindern. Als Mike mit dem Taxi wieder zurückkam, flogen sie alle zusammen nach Hamburg, von wo aus Schulzens mit der Linienmaschine weiter nach Bergen flogen. Dort konnten sie dann mit dem Urlauber-Zubringerbus des Hotels bequem bis nach Håp Land fahren. Koschs kehrten mit dem Firmenjet nach Uelzen zurück und fuhren von dort mit dem Auto nach Sonnenberg.

Maria und ihre Kinder begleiteten jedes Jahr im Juli die Belegschaftskinder nach Håp Land. So besuchten sie im Sommer immer ihre Eltern in Håp Land und flogen dann mit den Ferienlagerkindern zurück nach Sonnenberg. Auf diese Weise konnten sie während der Reise von Deutschland nach Norwegen und zurück zusätzlich die Betreuer unterstützen. Wolfram begleitete die Reisenden oft, konnte aber stets nur kurz in Håp Land bleiben.

Im August 2005 kamen auch Andrea und Sven, Ivonne und Olaf sowie Wenke und Mike nach Sonnenberg. Wolfram und Maria hatten beschlossen, alle drei Jahre mit ihren Freunden in Sonnenberg zwei Wochen Urlaub zu machen.

Ab und zu besuchten Wolfram und Maria ihre Verwandten in Leipzig. Annefrieds Vater war als Deutscher während des Krieges in Norwegen gewesen und hatte ihre Mutter sehr geliebt. Kurz vor Kriegsende waren die beiden für immer getrennt worden. Maria und ihre Mutter suchten ihn 2001 und fanden sein Grab und seine Tochter aus erster Ehe. So lernten sie Sigrid, ihre Tochter Angelika und deren Familie kennen. Maria besuchte sie mit ihrer Familie, und wenn möglich mit ihren Eltern, in größeren Abständen.

Im Januar 2006 verstarb Annefrieds Halbschwester Sigrid. Der Kontakt zwischen Maria und ihrer Cousine Angelika blieb trotzdem.

Im Oktober 2009 starb Marias Vater an einer schweren Krankheit. Er wäre zwei Monate später siebzig Jahre alt geworden. Trotz des traurigen Anlasses war es für Marias Mutter eine Entlastung, denn sie hatte ihn über zwei Jahre aufopferungsvoll gepflegt. Annefried Lizell zog auf Anraten ihrer beiden Töchter im darauffolgenden Jahr bei ihrer Tochter Andrea und ihrem Schwiegersohn Sven ein und verkaufte das Haus. So konnte sie sich um ihren Enkel Uwe kümmern, wenn es notwendig war. Sie half auch Andrea bei ihrer Büroarbeit, wenn diese Hilfe brauchte.

Im April 2010 holte Maria ihre Mutter für sechs Wochen nach Sonnenberg, um Julias und Marias Geburtstag mitzufeiern. Hier konnte sie am Leben von Maria, Wolfram und ihren vier Kindern teilnehmen. Nach dem Muttertag, den sie gemeinsam feierten, flog sie zurück nach Håp Land.

Im Februar 2010 feierten Maria und Wolfram den zehnten Jahrestag ihres Kennenlernens und Marias Rettung. Dabei erinnerten sie sich sehr lebhaft noch einmal an die Anfangszeit ihrer Beziehung mit allen Höhen und Tiefen. Dieses Jubiläum feierten sie in Håp Land zusammen mit all ihren Freunden.

Gegen Ende des Jahres, am 21. Dezember 2010, flogen Koschs nach Håp Land und feierten zusammen mit Andrea und Sven ihren gemeinsamen zehnten Hochzeitstag, ihre Rosenhochzeit. Für Wolfram war die standesamtliche Trauung die eigentliche Hochzeit. Die kirchliche Trauung war für ihn eher eine Formsache gewesen, auf die er sich mehr wegen seiner Frau eingelassen hatte. Deshalb begingen sie ihren Hochzeitstag immer am 21. Dezember, am Tag der Wintersonnenwende. Zu ihrer Rosenhochzeit mieteten sie im Sovende Elg den kleinen, abgetrennten Saal und feierten dort mit ihren Eltern und Freunden zusammen ihr Jubiläum.

1. Håp Land – Omas 66. Geburtstag

Über den Jahreswechsel waren Wolfram und Maria mit ihren Kindern wie immer in Håp Land. 2011 blieben sie bis zum Geburtstag von Marias Mutter am 5. Januar. In diesem Jahr wurde sie 66 Jahre alt. Als sie bei Kaffee, Kakao und Kuchen saßen, erinnerten sie sich an die vergangenen Zeiten. Dabei gedachten sie des Vaters von Maria und Andrea, der nun schon über ein Jahr nicht mehr unter ihnen weilte. Auf seinem Platz stand jetzt eine Kerze. So war er virtuell anwesend. Wolfram erzählte davon, wie seine Tante Elfriede mit dem Tod umgegangen war. Für sie war es nur ein Überwechseln in eine andere Existenzebene. Diese Ansicht hatte Wolfram schon damals gefallen. Die Trauer um den Verstorbenen wurde dadurch nicht so schmerzhaft. Und so wünschten sie alle im Stillen Kjeld alles Gute in der Welt, in der er sich jetzt aufhielt.

Dann erinnerte sich Marias Mutter mit einem Schmunzeln an die Zeit, als Pappa Wolfram ständig bedrängte, wann er nun Maria heiraten würde. „Könnt ihr euch noch entsinnen, wie er mich aus dem Haus werfen wollte, als ich nach Weihnachten 2000 zu ihm sagte, dass ich Maria nicht mehr heiraten könne? Er beruhigte sich erst, als Maria ihn überzeugte, dass wir schon eine Woche vorher geheiratet hatten“, erinnerte Wolfram.

„Dieses Problem hatte ich nicht“, sagte Sven.

„Ja!“, ergänzte ihn seine Schwiegermutter. „Du warst ihm von Anfang an sympathisch. Das hätte sich aber ganz schnell geändert, wenn er mehr über euren Urlaub in Sonnenberg gewusst hätte.“

Andrea und Sven blickten sich vielsagend an und schmunzelten.

Annefried erzählte weiter zu Wolfram gewandt: „Ich kann mich auch noch gut daran erinnern, als du mit Maria das erste Mal unser Haus betreten und ihm Minuten später so massiv widersprochen hast, dass ihm die Worte fehlten. Dieser Widerspruch hat ihm damals fast die Luft genommen. Es war das erste Mal, dass ihm in seinem Haus jemand widersprochen hatte. Aber im Großen und Ganzen war er kein schlechter Mensch. Er hat dich, Maria, trotz deiner Fehler und der Kinder genauso geliebt wie Andrea. Nur zeigen konnte er das nicht. Pappa war stur und einsichtig zugleich. Er war mir ein guter Mann und ich habe ihm nur einmal wirklich widersprochen, als er dich, Maria, nicht nach Sonnenberg zu deinem Wolfram fahren lassen wollte. Erinnerst du dich?“

Aus Marias Gesicht verschwand sofort das Lachen, als sie nickte. Ihre Mutter wusste bis zum heutigen Tag nicht genau, was sich damals in Maria abgespielt hatte. Und das war auch besser so, dachte Maria.

Nun erinnerte Wolfram an den ersten Besuch seiner Schwiegereltern in Sonnenberg. „Wisst ihr noch, wie entgeistert Pappa geguckt hat, als ich ihm sagte, dass die KOSCH-GmbH unserer Familie gehört?“

„Wir haben sicher auch nicht besser ausgesehen“, sagte Sven und sah dabei seine Frau an. „Wenn ich da an den Stress mit der Kette kurz vorher denke“, warf er zusätzlich ein.

Wolfram schmunzelte. „Ja, ja. So hatte jeder seine Sorgen. Aber glaubt nicht, dass ich keine hatte. Ich habe mir tagelang den Kopf zerbrochen, wie ich euch das mit der Firma schonend beibringe. Erst musste ich Maria einweihen. Das war schon ein riesiges Problem, weil ich ihr ja ein Dreivierteljahr den einfachen Angestellten vorgespielt hatte. Glaubt mir, das war damals gar nicht so leicht. Am einfachsten war es bei unseren Kindern.“

Eva und Laura sahen sich an und zuckten mit den Schultern. Julia konnte sich daran nicht mehr erinnern und Wolfram Junior hatte damals noch gar nicht gelebt. Für ihn waren all diese Erinnerungen an die Vergangenheit eher langweilig.

So war dieser Geburtstag von Mamma voller Erinnerungen an vergangene Zeiten; an gute und weniger gute Erlebnisse. Annefried tauchte noch einmal richtig ein in die Zeit mit ihrem Mann. Als der Tag zu Ende ging, waren alle mehr oder weniger voller Erlebnisse an vergangene Zeiten. Mit diesen vielen Erinnerungen im Herzen gingen sie zu Bett.

Am nächsten Tag besuchten Maria und Wolfram die Familie Jansen. Olaf wollte unbedingt noch mit Wolfram sprechen, bevor sie am Sonnabend wieder zurück nach Sonnenberg flogen.

Er überfiel Wolfram gleich, als sie eintraten. „Habt ihr unser Jubiläumsfest Zehn Jahre Urlauberdorf in eurem Kalender eingeplant? Ihr kommt doch am 30. April nach Håp Land?“

„Gut, dass du noch einmal davon sprichst, Olaf. Was hast du denn an diesem Wochenende vor?“, fragte Wolfram.

„Ich will das ganz groß aufziehen“, begann Olaf begeistert. „Karussells müssen her und auch das norwegische Fernsehen. Kannst du eventuell auch ein deutsches Fernsehteam mobilisieren?“

Wolfram wiegte den Kopf. „Deutsches Fernsehen? Das halte ich für keine gute Idee. Du weißt ja, warum wir nicht auffallen wollen. Schon bei dem norwegischen Fernsehen habe ich eine Bitte. Unsere Namen sollten nicht erwähnt werden.“

„Weshalb? Es ist doch dein Verdienst, dass alles so gekommen ist. Warum willst du dich nicht ehren lassen?“

„Olaf, bitte nicht. Du weißt ja nicht, was du damit auslösen würdest. Unser Inkognito-Leben wäre dahin. Wir könnten uns weder hier noch bei uns in Sonnenberg so offen zeigen wie bis jetzt. Ständig wären Reporter hinter uns her und die einfachen Menschen würden uns aus dem Weg gehen. Bitte versprich mir, dass wir nicht genannt werden und auch nicht vor die Kamera müssen. Auch alle anderen, die vielleicht interviewt werden, sollen uns einfach weglassen. Olaf! Das ist mir sehr wichtig!“

„Gut! Wenn du das so willst, dann verspreche ich es dir. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, dass es wirklich so ist, wie du befürchtest.“

Wolfram lächelte und meinte: „Das glaube ich dir gern. Du hattest noch nie so ein Problem. Ich bin damit aufgewachsen. Anfangs habe ich mich in den Millionärskreisen bewegt. Das ist kein Leben in dieser abgehobenen Gesellschaft. Man ist vom einfachen Volk wie abgeschnitten. Wünsch dir nie so ein Leben. Es sieht wirklich nur von außen toll aus. Stehst du mittendrin, dann hast du bald Sehnsucht nach den einfachen Menschen, die dich nun meiden oder dir mit Ehrfurcht begegnen. Wahre Freunde findest du auch nicht mehr, denn in diesen gehobenen Kreisen geht es nur ums Geld. Dabei ist das so unwichtig. Richtig leben kann man nur, wenn man völlig frei von Medienrummel und Reporternachstellungen leben kann, wenn man einfach ein Niemand ist. Natürlich vorausgesetzt, dass man keine wirklichen Geldprobleme hat. Ich meine, wenn das Einkommen ausreicht, um ein ganz normales Leben zu führen.“

„Vielleicht hast du recht“, antwortete Olaf nachdenklich.

Maria und Ivonne tauschten in der Zeit Informationen über ihre Kinder aus. Olafs Frau war ganz stolz auf Gerdas Freund Lars. „Haben Eva und Laura noch keinen Freund?“, fragte Ivonne.

Maria antwortete: „Laura schon ab und zu, aber das ist nie etwas Ernstes. Eva hingegen ist wie ich. Sie nimmt sich Zeit. In ihrem Leben haben Jungs noch keinen hohen Stellenwert.“

 

Da kicherte Ivonne und meinte: „Du hast dich von den Jungs ferngehalten? Das habe ich aber irgendwie anders in Erinnerung.“

Da ihre Kinder nicht hier waren, konnte Maria offen reden. „Ivonne! Eva ist erst siebzehn Jahre alt. Ich war damals dreiundzwanzig, als sie geboren wurde. Das ist doch wohl ein Unterschied!“

„Das stimmt schon, aber bist du mit siebzehn den Jungs aus dem Weg gegangen?“

„Nicht unbedingt, aber irgendwie waren wir damals schüchterner als die Jugend heute. Du nicht?“

Ivonne erwiderte: „Ich war achtundzwanzig, als Gerda zur Welt kam. Mehr muss ich da wohl nicht sagen.“

Maria sagte abschließend: „Siehst du, genau das meine ich. Eva ist eben noch so wie wir. Laura und Gerda gehen mehr mit der heutigen Zeit mit.“

Nun setzten sich die Freunde an den Tisch, den Ivonne mit Marias Hilfe gedeckt hatte. Ivonne hatte extra Kuchen gebacken. Am Kaffeetisch verfielen sie wie am Vortag in die alten Zeiten, als ihre Kinder noch klein waren und sie Wolfram kennenlernten. Olaf hingegen bedankte sich bei ihm für seine Initiative, die das Dorf so zu Wohlstand gebracht hatte.

„Weißt du, Olaf, was wirklich glücklich macht?“ Er schüttelte den Kopf und Wolfram sprach weiter: „Wenn man anderen helfen kann, glücklich zu werden. Geld allein macht sicher zufrieden, aber nicht wirklich glücklich. Wenn man aber mit dem Geld, das man übrig hat, anderen dauerhaft helfen kann, dann hat man selbst ein wunderbares Glücksgefühl. Am schönsten ist es, wenn die anderen gar nicht wissen, woher die Hilfe kommt. So kann man sich mitten unter sie setzen und sich gemeinsam mit ihnen freuen. Das ist wahres Glück! Sobald sie aber wissen, woher die Hilfe kommt, heben sie dich auf ein Podest, von dem du nie wieder herunterkommst. Und dann hast du die Situation, von der ich vorhin gesprochen habe.“

„Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr beginne ich dich zu verstehen. Trotzdem, so ein paar Millionen im Rücken würden mich nicht stören“, meinte Olaf lächelnd. Nun musste auch Wolfram lächeln, denn das verstand er.

Jetzt fragte Ivonne: „Jedes Mal, wenn ihr hier seid, geht ihr runter an den Fjord. Dabei gibt es doch dort gar nichts zu sehen. Hat das eine besondere Bedeutung?“

Maria und Wolfram sahen sich an. Den Grund konnten Olaf und Ivonne ja nicht wissen. So klärte Maria sie auf: „Die Brücke über dem Millstream kurz vorm Fjord ist dabei unser Ziel. Ohne sie hätten wir uns wahrscheinlich nie kennengelernt. Hier sind wir uns zum ersten Mal eher zufällig begegnet. Erinnert ihr euch, als Wolfram mich damals im Februar das erste Mal nach Hause brachte? Ich war in den Millstream gestürzt und Wolfram hatte mich herausgezogen. Das war, wenn man es genau nimmt, der Grundstein unserer späteren Ehe, das war unsere erste Begegnung. Wenn wir unsere Brücke besuchen, dann erinnern wir uns daran, wie viel Freude und auch Leid sie mit uns geteilt hat. Als mein Vater mich und die Kinder nicht zu Wolfram fahren lassen wollte, war diese, unsere Brücke mein einziger Freund, dem ich mein Herz ausschütten konnte. Ja, diese Brücke hat auch sehr viel von meinem Leid erfahren. Zum Glück liegt das alles schon weit in der Vergangenheit.“

Ivonne begriff jetzt noch einmal so richtig, wie sehr Maria in der Zeit vor Wolfram gelitten hatte. Sie nahm sich vor, dieses Thema nie wieder anzuschneiden.

Maria sah an Ivonnes Blick, was sie bewegte. Deshalb sagte sie: „Ihr wart damals meine besten Freunde, die Einzigen, die zu mir und meinen Kindern gehalten haben, als das ganze Dorf gegen uns war. Das werde ich nie vergessen.“

Ivonne war gerührt. Sie antwortete: „Du warst uns von Anfang an sympathisch, als wir neben euch in das Haus von Olafs verstorbenen Großeltern einzogen. Auch Olaf fand dich liebenswert, trotz deiner zweiten Schwangerschaft. Damals musste ich ihn immer mal freundschaftlich daran erinnern, dass er mit mir verheiratet ist.“

Maria blickte ganz verwundert zu Olaf, der jetzt etwas verlegen wurde. „Kann man denn nicht einen anderen Menschen sympathisch finden, ohne dass gleich alle verrücktspielen?“, verteidigte sich Olaf.

Da ergriff Wolfram das Wort: „Lass dich nicht ärgern. Ich habe solche Ermahnungen auch schon von Maria bekommen, als ich damals bei unserer Hochzeitsfeier und auch während eures Urlaubs in Sonnenberg Ivonne bewunderte. Dabei denke ich nicht, dass sie Grund dafür hatte. Unsere Frauen passen eben auf uns auf. Vielleicht würde ich das sogar vermissen, wenn sie es nicht täten. Ist es nicht ein Zeichen ihrer Liebe?“

„Da könntest du recht haben“, bestätigte Olaf lachend.

Am späten Nachmittag verließen Wolfram und Maria ihre Freunde wieder und saßen pünktlich bei Andrea am Abendbrottisch.

„Hast du gewusst, dass Olaf das zehnjährige Jubiläum des Urlauberdorfs groß feiern will?“, fragte Maria ihre Schwester.

Andrea lächelte und sagte: „Ich bin doch selbst halb Bürgermeisterin. Zumal ich Olafs Idee gut finde. Das zieht noch mehr Touristen an und belebt unser Dorf.“

„Bitte achte auch du darauf, dass unser Name da nicht mit reingezogen wird. Du weißt ja, was für uns davon abhängt.“

Ihre Schwester nickte verständnisvoll.

Am letzten Nachmittag in Håp Land besuchten sie auch Mike und Wenke. Wolfram und Maria hatten Michael und Manuela, Mikes Kinder aus erster Ehe, aus Deutschland mitgebracht und mussten sie am nächsten Tag auch wieder mit zurück nehmen.

Zu Schulzens wollten Koschs Kinder merkwürdigerweise immer mit. Wolfram und Maria lächelten heimlich darüber, aber ließen sich nichts anmerken. Hier warteten drei Jungs und ein Mädchen im fast gleichen Alter. Alle acht unternahmen viel gemeinsam, wenn sie in Håp Land waren. Selbstverständlich besuchten die Großen auch immer die sonnabendliche Disko im Sovende Elg.

Jetzt waren die sechs Größeren im Zimmer von Knut und Arne. Da meinte Laura: „Michael, wie wäre es denn, wenn ihr noch ein paar Tage bei uns in Sonnenberg bleiben würdet. Dann könnten wir auch morgen Abend bei uns zusammen zur Disko gehen.“

Michael überlegte. „Ich weiß nicht, ob das geht. Bei mir ist das kein Problem, aber Manuela ist erst neun. Ob meine Eltern da auch Ja sagen?“

Michael ging in das Besucherzimmer, in dem Manuela immer schlief, wenn sie bei ihrem Vati in Håp Land waren. Hier fragte er seine Schwester, was sie von ein paar zusätzlichen Tagen in Sonnenberg halte. Manuela meinte: „Wenn Mutti und Vati nichts dagegen haben, dann will ich auch.“ Dabei sah sie Wolfram Junior mit einem merkwürdigen Blick an.

Nun ging Laura zu ihren Eltern und überbrachte ihre Idee. Wolfram fragte Mike: „Hast du etwas dagegen, wenn die beiden noch ein paar Tage bei uns bleiben? Sie haben doch noch eine Woche Ferien und es ist der Wunsch unserer Kinder.“

Mike sah seine Wenke fragend an, doch sie sagte: „Das muss deine Geschiedene entscheiden.“

„Am besten, ich rufe sie gleich mal an“, sagte Mike.

Da kam Wolfram eine Idee: „Vielleicht ist es besser, wenn Michael selbst anruft. Er wird schließlich in einem Monat siebzehn.“

„Stimmt! Er kommt mit seiner Mutter sicher besser zurecht als ich.“ Michael war auch schnell überzeugt und überredete seine Mutter nach einer Weile am Telefon. Somit war es beschlossen, dass Michael und Manuela noch ein paar Tage bei Wolfram und Maria in Sonnenberg blieben.

Knut und Arne beneideten Michael etwas. „Da habt ihr’s ja gut. So ein paar Tage Sonnenberg zusätzlich würde ich auch gern machen“, sagte Knut.

Dazu meinte Arne: „Wie soll denn das gehen? Wir müssen doch in die Schule und Vati und Mutti müssen wir auch helfen. Und was würde deine Nina sagen?“

„Wer ist Nina? Ist das deine Freundin?“, fragte Laura neugierig. „Hm! Arne, du hast recht. Das würde gar nicht gehen“, bestätigte Knut jetzt seinem Bruder und schüttelte leicht den Kopf.

„Ist deine Freundin hier aus dem Dorf?“, wollte Laura weiter wissen. „Nein“, antwortete er zögernd. „Sie ist aus Bergen und lernt mit mir zusammen Bäcker und Konditor.“

„Lernen wir sie auch mal kennen?“

„Sie war doch zur Silvesterfeier mit im Hotel“, klärte Arne Laura auf. „Ich habe niemanden gesehen“, meinte nun Julia.

„Sie war mit ihren Eltern hier und die wissen von mir noch nichts. Deshalb konnte ich nur ab und zu mit ihr tanzen. Und ihr? Habt ihr denn schon Freunde?“

Die drei Schwestern zuckten mit den Schultern.

„Laura, du auch nicht?“, wollte Knut jetzt wissen, denn das konnte er sich einfach nicht vorstellen.

„Na ja, so einen richtigen Freund nicht. Das sind immer nur QuÜPs.“

„QuÜPs? Was ist denn das?“

„Quartalüberbrückungspartner!“

„Was es bei euch alles gibt.“ Knut schüttelte schmunzelnd mit dem Kopf.

„Das ist Lauras Privatsprache“, meinte Eva lachend. „In Sonnenberg versteht das auch niemand.“