Czytaj książkę: «Parkour»
Titelseite
Herbert Lipsky
Parkour
Kriminalroman
Leykam
Prolog
Lara Bauer nahm ihre Dienstwaffe aus der Schreibtischlade, lud sie. Sicherte. Wog ihr Gewicht und zielte mehrmals beidhändig auf ein Bild an der Wand. Dann steckte sie die Waffe in ihr Halfter am Gürtel. Würde sie sie heute brauchen? Sie legte ihre kugelsichere Weste über ihrer Uniformjacke an. Fühlte sich durch die Weste beengt. Beim Verlassen ihres Büros warf sie einen prüfenden Blick in den großen Spiegel, den sie über dem Handwaschbecken anbringen hatte lassen. Die kurz geschnittenen blonden Haare waren nur teilweise unter der Kappe verborgen. Sie war mit dem, was sie sah, zufrieden. Ihre Haut war trotz einiger kleiner Fältchen um die Augen noch glatt und ohne Makel. Sie fand, dass sie etwas jünger aussah, als sie es tatsächlich war. Allerdings wirkte ihr Gesichtsausdruck heute angespannt und ernst, zwischen den Augen an der Nasenwurzel war eine tiefe Furche zu sehen. Sie strich sie glatt. Zwang sich zu einem Lächeln. Wie vor jedem Einsatz hatte sie zwar einen beschleunigten Puls, war aber nicht aufgeregt, sondern kalt und konzentriert, so wie sie es früher beim Judo vor den Wettkämpfen gewesen war.
Ort und Zeitpunkt der Razzia waren streng geheim gehalten worden. Nur die engsten Mitarbeiter der Sonderkommission waren eingeweiht. Die Sondereinheit, die man zusätzlich benötigte, die WEGA, hatte man angefordert, ohne den Einsatzort bekannt zu geben. Erst in letzter Minute würden die insgesamt vierzig Polizisten erfahren, wohin es gehen würde. Und während des Einsatzes durfte niemand sein Mobiltelefon benutzen, alle Befehle würden über Sprechfunk kommen. Denn die Leiterin der Kommission, Lara Bauer, hegte den Verdacht, dass die Betroffenen bei einigen Razzien zuvor gewarnt worden waren.
Das Zielobjekt war ein Bordell in der Leopoldstadt. Parksauna stand an der Fassade des Hauses, aber jeder wusste, was hinter seinen Mauern ablief. Doch bisher hatte es nie Schwierigkeiten mit den Behörden gegeben. Die Betreiber bezahlten ihre Steuern, und die beschäftigten Damen ebenso. Sie waren als Tänzerinnen, Masseusen und Bardamen angestellt und registriert, und alle unterzogen sich regelmäßig ärztlichen Untersuchungen. Eine Kontrolle im Vorjahr hatte nichts Verdächtiges ergeben. Das Publikum war zahlungskräftig, bekannte Persönlichkeiten gingen in dem Etablissement ein und aus. Auch ein Escortservice wurde angeboten.
Diesmal ging es jedoch um etwas anderes als Prostitution. Man hatte einen Tipp bekommen. Seit einiger Zeit sollte ein auf der Fahndungsliste stehender Tschetschene, ein gewisser Dimitri Kabakow, dort wohnen. Und Gruppeninspektorin Bauer vermutete, dass dieser Mann der Bande angehörte, zu deren Bekämpfung die Sondereinheit gebildet worden war. Er galt als überaus gefährlich.
Die Polizei hatte den ganzen Häuserblock weiträumig umstellt. Das Bordell selbst war ein lang gestrecktes einstöckiges Gebäude, seitlich gelangte man durch ein Tor in einen Hof, der als Parkplatz diente. Hier konnten die Kunden unauffällig parken, ohne von der Straße aus gesehen zu werden. Ein Schlagbaum schützte vor unerwünschten Besuchern. Der Hof war von den benachbarten Grundstücken durch eine hohe Mauer abgegrenzt.
Zwei in Zivil gekleidete Beamte steuerten direkt auf den Eingang zu, wo ihnen zwei Türsteher mit Brachialgewalt den Eintritt verwehren wollten. Die beiden Männer wurden in ihre Loge gedrängt, als einer losschlagen wollte, bekam er mit dem Stock einen Hieb über den Kopf. Beiden wurden Handschellen angelegt. Nun schwärmten die uniformierten Polizisten in das Lokal und besetzten alle Ausgänge. Die Musik verstummte jäh, und die zwei Mädchen, die an den Stangen auf der Bühne geturnt hatten, erstarrten in ihren obszönen Posen. Aus dem Saunabereich mit dem Swimmingpool erklangen Schreie. Am Rand des Beckens saßen nackte Mädchen, die ebenso nackte Männer betreuten. Um den Pool verlief im ersten Stock ringförmig eine Galerie, von der zahlreiche Zimmer abgingen. Türen öffneten sich, aus denen weitere Damen und Herren in derangiertem Zustand herausquollen, wohl durch den Lärm und die Schreierei gestört.
„Ruhe bewahren, dies ist nur eine Personen- und Ausweiskontrolle. Kleiden Sie sich in Ruhe an, und kommen Sie in die Halle“, schallte es aus Lautsprechern.
Lara Bauer war mit drei Kollegen sofort in die obere Etage gestürmt, wo auch, wie sie wusste, das Büro der Geschäftsführung und weitere private Räume lagen. Ein bulliger Mann stellte sich ihnen in den Weg, gab aber sofort auf, als er die gezogenen Waffen der Beamten erblickte. Die Polizisten traten ohne anzuklopfen ein. Der Raum war luxuriös eingerichtet. An einer Wand waren zahlreiche Monitore angebracht, auf denen wesentliche Räume des Etablissements zu sehen waren.
In einer Sitzgarnitur saßen zwei Männer. Einer der beiden erhob sich ohne ein Anzeichen von Nervosität.
„Ah, ein unerwarteter Besuch, die Frau Bauer mit ihrer Truppe. Das ist Geschäftsstörung. Sollten wir sie nicht verklagen?“
Bauer hielt ihm ein Schreiben unter die Nase.
„Das ist keine Routinekontrolle, sondern eine Fahndung, wir suchen einen Mörder. Wir dürfen uns diesmal sogar bei Ihnen hier umsehen.“
Mittlerweile war auch der zweite Mann aufgestanden. Er war groß, gut gekleidet und wirkte in seiner Arroganz unnahbar und gefährlich. Sie musterte ihn. Er hielt ihrem Blick stand und sagte etwas in einer fremden Sprache, die Lara Bauer verstand. Es waren Flüche auf Russisch.
Plötzlich krachten draußen Schüsse. Bauer verließ rasch das Zimmer und lief in das Lokal hinunter, in dem Chaos herrschte.
„Im Hof wurde geschossen“, rief man ihr zu.
Sie rannte ins Freie, sah in einer Ecke neben einem Auto eine Gruppe Männer stehen. Einer ihrer Mitarbeiter saß am Boden und hielt sich die Schulter. Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor.
„Er ist über die Mauer“, sagte er mit schwacher Stimme. „Er kam aus diesem Fenster.“ Er zeigte hinauf.
Der Gesuchte war vom Fenster auf die Mauer gesprungen und hatte, als er den Polizisten sah, sofort auf ihn geschossen. Ein Notarztwagen fuhr vor, und die Ärzte versorgten den verletzten Beamten, auf den mehrere Schüsse abgegeben worden waren. Nur seine kugelsichere Weste hatte ihn vor dem Tod bewahrt.
Bauer kehrte in das Lokal zurück. In der schummrigen Bar herrschte nun wieder eine gewisse Ordnung. Beamte kontrollierten Ausweise und Identitäten und ließen die registrierten Personen nach Hause gehen. Sie stieg in den ersten Stock. Vor der Tür zum Büro standen zwei Beamte. Sie ging weiter in das Zimmer, aus dessen Fenster Kabakow gesprungen war. Ein nicht gemachtes Bett, ein offener Koffer, ein Anzug und Hemden im Schrank, Toiletteartikel in der Duschnische. Er hatte offenbar hier gewohnt. Bauer ging mit den Kollegen in das Büro zurück, wo die beiden Herren immer noch ruhig warteten. Sie setzte sich zu ihnen.
„Nun ja, diesmal wird es ein wenig schwierig für Sie werden, fürchte ich. Sie haben einen gesuchten Verbrecher bei sich aufgenommen. Und ein Polizist wurde angeschossen.“
„Das ist doch nicht meine Schuld.“
Der zweite Mann war aufgestanden und sagte in perfektem Englisch mit stark amerikanischem Akzent: „I am only a businessman. I want to go.“
„You may go … after you have given your identity to my collegue.“
Gemeinsam mit einem Polizisten verließ er den Raum.
„Nun zu Ihnen, lieber Herr Jaroschka. Wir werden Ihr Haus, im Speziellen ein Zimmer kriminaltechnisch unter die Lupe nehmen und dabei feststellen, dass der geflohene Mann bei Ihnen gewohnt hat. Dann wird es eng für Sie. Sie haben ihm Unterschlupf gewährt. Sagen Sie mir doch lieber gleich die Wahrheit.“
Sie schob ihm ein Foto von Dimitri Kabakow über den Tisch. Auf Jaroschkas Stirn bildeten sich Schweißtropfen.
Er schwieg einige Zeit lang, dann fragte er: „Lassen Sie mich dann in Ruhe?“
„Sie meinen, ob es wieder zu Razzien kommen wird? Während Sie sitzen sicher nicht.“
„Kabakow ist mit einem Schreiben eines Geschäftspartners aus Russland gekommen, der mich gebeten hat, ihn in Wien aufzunehmen und ihm die Stadt zu zeigen. Ich habe keine Ahnung gehabt, dass er polizeilich gesucht wird.“
„Und, haben Sie ihm Wien gezeigt?“
„Natürlich, man will ja freundlich sein. Dieser russische Freund schickt mir viele reiche Kunden. Ich bin ihm verpflichtet.“
„Haben Sie das Empfehlungsschreiben noch?“
„Nein, ich habe es weggeworfen.“
„Was wissen Sie über diesen Herrn Kabakow?“
„Nichts.“
„Wo könnte er sein? Mit wem war er hier zusammen, wen hat er getroffen?“
„Ich habe keine Ahnung. Er kam und ging, wie er wollte. Ich hatte keine Zeit, mich ständig um ihn zu kümmern.“
„Wie lange wohnt er schon bei Ihnen?“
„Einige Wochen.“
„Sie sind ein großzügiger Gastgeber.“
Dabei blieb Jaroschka, mehr war ihm nicht zu entlocken. Man konnte die Angst, die er hatte, förmlich riechen. Die Razzia dauerte bis in die Morgenstunden. Alle Personen waren registriert, alle Mädchen kontrolliert worden.
Es dauerte den ganzen nächsten Tag, um die gewonnenen Daten zu bearbeiten. Trotz des entkommenen Verbrechers war die Razzia nicht unergiebig gewesen: Eine der Damen hatte gefälschte Papiere, drei waren mit Österreichern verheiratet, vermutlich Scheinehen. Ein Mann hatte keine Dokumente bei sich gehabt. Zwei andere wurden wegen Betrugsdelikten gesucht. Allen Mädchen hatte man Kabakows Foto gezeigt, die meisten hatten ihn jedoch angeblich nie gesehen, keine hatte mit ihm Kontakt gehabt.
Lara Bauer lud die drei Frauen, bei denen der Verdacht auf Scheinehe bestand, zu sich ins Kommissariat. Die Mädchen taten ihr eigentlich leid, aber sie wollte von ihnen etwas wissen. Man wollte sie verunsichern, sagte, dass ihre Papiere überprüft werden würden. Ob da wohl alles mit rechten Dingen zugegangen sei? Die Ehen seien, soweit man es beurteilen könne, wahrscheinlich ungültig. Man sah den Armen an, dass sie Angst vor der Ausweisung hatten. Eine von ihnen kam aus Nigeria, eine stammte aus Moldawien und eine aus der Ukraine, alle zwischen 20 und 30 Jahre alt. Ohne Schminke und Kunstlicht sahen sie alltäglich und unansehnlich aus. Auf der Straße würde man ihnen nicht unbedingt nachschauen. Ihr Deutsch war miserabel.
Zunächst ließ Bauer sie einmal warten, dann nahm sie sich jede einzeln vor. Sie blätterte in ihren Unterlagen, musterte sie eindringlich und fing erst dann an, Fragen zu stellen. Wie lange sie schon da sei, wo sie ihren österreichischen Mann kennengelernt habe, ob sie Kinder habe und ob denn ihr Mann nichts dagegen habe, dass sie in einem Bordell arbeite. Die Inspektorin stellte die gleichen Fragen immer wieder, drohte, sie würde, wenn sie die Unwahrheit sagte, aus Österreich ausgewiesen werden. Die Frau aus Nigeria gab an, ihren Mann in Österreich kennengelernt zu haben, sie sei als Tänzerin eingereist und habe eine Arbeitsbewilligung erhalten. Die Moldawierin war als Pflegehelferin ins Land gekommen, und die Ukrainerin hatte ihren Mann durch das Internet kennengelernt. Soweit die üblichen Geschichten. Kabakow hatte keine der drei jemals gesehen.
Mit der Ukrainerin, die Bauer sich als Letzte vornahm, sprach sie russisch. War es die Vertrautheit, die durch den Gebrauch der bekannten Sprache entstand, oder die zunehmende Furcht, jedenfalls sagte die Frau plötzlich: „Er war mit Sylvia zusammen.“
„Wer ist diese Sylvia?“
„Sie hatte an diesem Abend frei, sie ist Österreicherin und hat ein Kind.“
„Ihr Name und ihre Adresse?“
„Weiß ich nicht.“
„Gut, danke, du kannst gehen. Ich werde niemandem sagen, was ich gehört habe.“
Es würde kein Problem sein, die Adresse von Sylvia herauszufinden.
Parkour 1
Lukas Bernard saß schläfrig im Streifenwagen. Sein Kollege war zu einem Würstelstand gegangen, um etwas Essbares zu holen. Es war kurz nach Mitternacht, und es lagen noch einige Stunden Dienst vor ihnen. Bisher war es ungewöhnlich ruhig gewesen. Als Bucher zurückkam, kauten beide schweigend an ihren Würsten. Nach den Jahren in Paris hatte Lukas einige Zeit gebraucht, um an den Burenwürsten Geschmack zu finden. Und wenn die Wiener von der Käsekrainer als der Eitrigen sprachen, ekelte es ihn immer noch. Eine barbarische Speise und ein noch schrecklicherer Name. Jetzt, nach über einem Jahr Polizeidienst, hatte er sich neben den Burenwürsten auch an vieles anderes gewöhnt. An die Betrunkenen, die Verkehrsunfälle, die Zwiste zwischen den Ehepaaren, zu denen sie geholt wurden und wo sie zum Dank für ihr Einschreiten von den Frauen meist beschimpft wurden. Die jungen Drogensüchtigen, die sie im Rinnstein auflasen, die Beschwerden über die zu lauten Nachbarn. Die vielen Schlägereien, bei denen man immer wieder einmal selbst was abbekam. Eigentlich hatte Lukas genug von der Streife, er wollte sich für die WEGA bewerben, aber es würde noch eine Zeit lang dauern, bis das möglich war. Er hatte die Bedingungen für die Bewerbung durchgelesen. Vor der Aufnahmeprüfung hatte er keine Angst. Er hatte sich im letzten Jahr oft gefragt, ob es die richtige Wahl gewesen war, Polizist zu werden. Er wusste, dass sein Vater von ihm eigentlich erwartet hatte, dass er nach seinem Jusstudium die Anwaltslaufbahn einschlagen würde, aber es waren keine Einwände gekommen, als er ihm seinen Berufswunsch mitgeteilt hatte. Lukas dachte sich, dass er die Erfahrungen, die er hier machte, sehr wohl in einem zukünftigen Rechtsberuf brauchen könne.
Sein Kollege, Inspektor Karl Bucher, war älter als er, über dreißig, und er war dabei, sich zu einem zynischen und abgebrühten Polizisten zu entwickeln, der niemandem mehr vertraute und allen gegenüber misstrauisch war. Seine berufliche Erfahrung war bereits beträchtlich, und Lukas gestand sich ein, viel von ihm gelernt zu haben. Ihr Verhältnis war gut, er sprach mit ihm auch über persönliche Dinge. Überhaupt war die Kameradschaft unter den Kollegen groß. Man traf sich auch außerhalb des Dienstes.
Ein Ruf der Zentrale erreichte sie: „Welche Position habt ihr?“
Lukas gab ihre Koordinaten durch. „Wir fahren gerade los, den Donaukanal entlang.“
„Fahrt Richtung Norden, ein Notfall in der Gartenstraße 52, aber schaltet kein Blaulicht ein. Ihr seid von allen verfügbaren Wagen am nächsten. Vorsicht, höchste Gefahrenstufe, schusssichere Westen anlegen.“
Lukas gab die Adresse in das GPS-System ein, und Bucher, der die Stadt wie seine Westentasche kannte, gab Gas. Wenige Minuten später waren sie am Zielort. Ein Auto parkte quer über die Straße. Eine Frau stand neben dem Fahrzeug und hob ihre Hand. Sie sprangen aus dem Wagen.
„Gruppeninspektorin Bauer, ich glaube, dass wir einen gefährlichen Kunden gestellt haben, im dritten Stock, in der Wohnung seiner Freundin. Er hat sich vor zwei Tagen einer Festnahme entzogen und einen Kollegen angeschossen. Ein gewisser Kabakow, Tschetschene. Er ahnt nicht, dass wir hier sind. Mein Kollege überwacht den Hof. Allein kriegen wir ihn nicht, ich habe schon die WEGA alarmiert, aber die kommen gerade von einem Einsatz zurück, es wird sicher noch fünzehn Minuten dauern.“
Sie zogen sich gerade ihre kugelsicheren Westen an, als ein Streifenwagen mit lautem Folgetonhorn und Blaulicht einbog.
„Diese Idioten“, stieß die Inspektorin hervor.
Im dritten Stockwerk wurde ein Fenster hell, kurz wurde die Gestalt eines Mannes sichtbar, verschwand aber schnell wieder. Er tauchte wieder auf, öffnete das Fenster, neben sich eine Frau, die er am Hals gepackt hatte, in der anderen Hand eine Pistole.
„Wenn ihr mich nicht gehen lässt, dann lege ich sie um, und das Kind auch.“ Er hob ein kleines Mädchen in die Höhe. „Ich verlange freien Abzug.“
Ein weiterer Streifenwagen bog mit Sirenengeheul um die Ecke. Der Mann schien nervös zu werden, gab einen Schuss in die Luft ab.
Bauer verhielt sich ruhig, gab nur Bucher und Lukas die Order, ihren Kollegen an der Rückseite des Gebäudes bei der Absicherung des Hofes zu unterstützen. Lukas holte sich vom Rücksitz des Streifenwagens eine Sporttasche, zog sich Sportschuhe an und setzte sich eine Mütze auf.
„Was soll das?“, fragte die Inspektorin.
„Damit kann ich schneller laufen.“
„Sei vorsichtig und pass auf, dass dein hübsches Gesicht nichts abbekommt. Wie ich schon sagte: Der Bursche ist gefährlich, er hat schon mehrere Menschen auf dem Gewissen. Und er hat meinen Partner angeschossen.“
Die zwei Streifenpolizisten begaben sich durch den Hausflur in den Hof, wo der Kollege sie schon erwartete, die Inspektorin hatte ihn per Mobiltelefon instruiert, dass er Verstärkung bekommen würde. Es war ein typischer Innenhof wie viele in Wien, umgeben von unterschiedlich hohen Häusern mit kleinen Balkonen. Lukas betrachtete alles genau. Die meisten Balkone hatten eine Umrandung aus Beton, die Abstände zwischen den Stockwerken waren beträchtlich. Der Balkon der Wohnung, in der sich der Täter befand, war nicht vom unteren aus zu erreichen. Die entsprechenden Balkone des Nachbarhauses lagen eine Spur höher, dazwischen Stiegenhausfenster. Hier war seiner Meinung nach ein Aufstieg möglich.
„Es wäre ein Kinderspiel, auf den Balkon zu kommen.“
„Du spinnst.“
„Ich brauche dreißig Sekunden dazu.“
„Du bist aber nicht Spiderman.“
„Ja, doch.“
Der Kollege sprach mit der Einsatzleiterin.
„Du kannst es versuchen, aber bleib am Balkon des Nachbarhauses, du darfst nicht allein in die Wohnung. Warte, bis die WEGA kommt.“
Frau Gruppeninspektor Bauer hatte die Bewohner der umliegenden Häuser mittlerweile per Lautsprecher ermahnt, in ihren Wohnungen zu bleiben. Nachdem zunächst hinter vielen Fenstern Licht gebrannt hatte, war jetzt alles finster. Auch der Innenhof lag wieder im Dunkeln. Man sah zwar niemanden, konnte aber annehmen, dass hinter den Fenstern neugierige Augen in die Dunkelheit starrten.
Lukas legte seine Ausrüstung bis auf die Pistole ab, zog sich die Haube ins Gesicht und streifte sich dünne Lederhandschuhe über. Dann nahm er Anlauf, sprang mit einer flüssigen Bewegung die Mauer an, katapultierte sich nach oben und zog sich mit den Händen auf den ersten Balkon. Er sprang erneut, erreichte das Geländer des Balkons am Nebenhaus einen Stock höher, von dort zurück auf den nächsten Balkon im zweiten Geschoß. Es vergingen kaum dreißig Sekunden, bis er im dritten Stock des Nachbarhauses war und sich hinter der Betonumrandung duckte. Nur wenig später öffnete sich die Balkontür der belagerten Wohnung, Kabakow trat heraus und spähte vorsichtig ins Dunkel der Höfe und Gärten. Aus der Wohnung hörte man die hysterische Stimme einer Frau. Der Verbrecher zog sich wieder zurück. Weitere Schreie ertönten, und dann ein dumpfes Geräusch. In der folgenden Stille hörte man nur das leise Weinen eines Kindes. Mit einem mächtigen Satz sprang Lukas auf den niederer gelegenen Balkon der Wohnung und kam geräuschlos wie eine Katze auf. Er griff nach seiner Glock und entsicherte sie. Kabakow hatte die Balkontür offen gelassen. Im Raum dahinter war es finster. Lukas ging vorsichtig hinein, die entsicherte Pistole in der Hand, konnte erkennen, dass er sich in einer Küche befand. Er stieg über eine bewusstlose Frau, hörte sie leise stöhnen, neben ihr am Boden das wimmernde Kind. Lautlos schlich er in den Vorraum, spähte durch eine angelehnte Tür, aus der ein Lichtschein drang. Kabakow stand in der Mitte des Zimmers und telefonierte. In der rechten Hand hielt er eine Pistole.
Ohne zu zögern richtete Lukas seine Waffe auf den rechten Oberschenkel des Mannes und drückte zweimal ab. Die Wucht der Schüsse warf den Verbrecher zu Boden, er blieb bewegungslos liegen. Lukas stürzte ins Zimmer, Kabakow sah ihn mit leeren, verwunderten Augen an. Blitzschnell ergriff Lukas die Pistole, die neben ihm lag, und feuerte damit zwei Schüsse in Richtung Tür ab. Er tastete den Mann nach weiteren Waffen ab und legte ihm Handschellen an. Die Pistole legte er für ihn unerreichbar auf einen Tisch. Dann öffnete er das Fenster und rief hinunter: „Ich hab ihn, ihr könnt kommen. Ich mach euch die Tür auf.“
Danach ging er zu der bewusstlosen Frau, fühlte ihren Halspuls und legte sie in eine seitliche Position. Das schreiende Mädchen nahm er in seine Arme.
Kaum hatte er das Kind aufgenommen, stürmten schreckenerregende vermummte Gestalten mit ihren Waffen im Anschlag in die Wohnung herein. Er kannte eine derartige Situation nur aus diversen Filmen, live hatte er die WEGA noch nie in Aktion gesehen, und war froh, dass seine kugelsichere Weste die Aufschrift Polizei trug. Auch Frau Gruppeninspektor Bauer betrat die Wohnung. Sie nahm ihm das Mädchen ab.
„Na, mein Kindchen, ist dir etwas passiert?“
Zu Lukas gewandt fragte sie barsch: „Was war da los? Erzähl!“
Seine Erklärungen differierten etwas von der Wahrheit. Er sei am Nebenbalkon gewesen, das stimmte, dann habe er Schreie gehört, das stimmte auch noch. Dann sei er hinübergesprungen und habe vom Balkon aus gesehen, wie der Verbrecher die Frau misshandelt habe, er habe ihr mit der Pistole auf den Kopf geschlagen und sei ins Wohnzimmer verschwunden. Er selbst sei durch die Küche gegangen und habe vom Vorraum aus den Kerl im Wohnzimmer stehen gesehen, dann habe er gerufen: „Achtung, Polizei, lassen Sie die Waffe fallen!“ Der Mann habe sofort auf ihn gefeuert, ihn aber wegen der Dunkelheit verfehlt. Erst darauf habe er geschossen und ihn am Oberschenkel erwischt. Die Frau, die bewusstlos war, habe er in Seitenlage gebracht. Dann habe er die Kollegen verständigt.
„Hast du seine Waffe berührt?“
„Selbstverständlich, ich habe sie dort auf den Tisch gelegt.“
Gruppeninspektorin Bauer übergab das Kind einer jungen Polizistin und ging mit Lukas auf den Balkon.
„Da bist du heraufgekommen?“
„Es war kein Problem. Ich bin ein Traceur.“
„Was ist das?“
„Ich betreibe Parkour und bin auch Free Runner. Das sind Sportarten.“
„Das erklärst du mir morgen, wenn wir das Protokoll schreiben. Auf alle Fälle war das sehr kaltblütig. Und wo hast du so schießen gelernt?“
„Ich schieße seit meiner Jugend. Mein Vater hat es mir beigebracht. Zum Parkour bin ich auch durch ihn gekommen. Parkour ist nicht nur eine Sportart, hier geht es um mehr, es gibt auch philosophische Ansätze, wie beim Zen-Buddhismus. Man gelangt dabei zu einer inneren Reife.“
„Du bist ein erstaunlicher junger Mann. Wir treffen uns morgen um vierzehn Uhr hier zu einer genauen Rekonstruktion der Geiselbefreiung. Denk genau nach, was du dann aussagst. Denn auf alle Fälle hast du meinen Befehl missachtet. Ihr könnt jetzt mit eurer Streife weitermachen.“
Lukas saß neben seinem Kollegen im Streifenwagen, es war bereits vier Uhr morgens.
„Lukas, ich bin ganz weg. Wie du da hinaufgeklettert bist, wirklich wie Spiderman.“
„Es war nicht schwer. Wenn du etwas über Parkour wissen willst, geh ins Internet, es gibt viele Filme darüber.“
„Und wie war das in der Wohnung?“
Lukas gab ihm die gleiche Version des Hergangs wie der Gruppeninspektorin.
„Wie geht es dir jetzt?“
„Ich bin müde, und mir zittern die Knie.“
„Dann schlaf ein wenig, ich werde an einer ruhigen Stelle parken.“
Der Rest der Nacht verlief ohne weitere Probleme. Sein Kollege sagte ihm, er werde den Bericht über Nacht schreiben. Lukas fuhr nach Hause, nahm eine Dusche und sank ins Bett.