Ich wurde mir bewusst, dass ich in aufgeregtem Dunkel zusammengekauert saß. Lange Zeit konnte ich nicht begreifen, wo ich war, noch wie ich in diese Schwierigkeit geraten war. Ich dachte an den Schrank, in den ich als Kind zuweilen gesteckt worden war, und dann an ein sehr dunkles und geräuschvolles Schlafzimmer, in dem ich während einer Krankheit geschlafen hatte. Aber diese Geräusche um mich waren nicht die Geräusche, die ich gekannt hatte, und in der Luft hing ein dünner Geruch wie der Hauch eines Stalles. Dann nahm ich an, wir müssten noch an der Sphäre arbeiten, und irgendwie sei ich in den Keller von Cavors Haus geraten. Ich besann mich, dass wir die Sphäre vollendet hatten, und dann meinte ich, ich müsse noch darin sein und durch den Raum reisen.
»Cavor«, sagte ich, »können wir nicht etwas Licht machen?«
Es kam keine Antwort.
»Cavor!«, beharrte ich.
Ein Stöhnen antwortete mir. »Mein Kopf!«, hörte ich ihn sagen, »mein Kopf!«
Ich versuchte die Hände an die Stirn zu drücken, die schmerzte, und ich entdeckte, dass sie zusammengebunden waren. Das erschreckte mich sehr. Ich hob sie bis zu meinem Munde und fühlte die kühle Glätte von Metall. Sie waren zusammengekettet. Ich versuchte die Beine auseinanderzutun und erfuhr, dass sie ähnlich gefesselt waren, und auch, dass ich durch eine dickere Kette mitten um meinen Rumpf an den Boden gefesselt war.
Dies erschreckte mich mehr, als es in allen unsern seltsamen Erlebnissen noch irgend etwas getan hatte. Eine Zeit lang zerrte ich schweigend an meinen Fesseln. »Cavor!«, rief ich scharf. »Warum bin ich gebunden? Warum haben Sie mir Hände und Füße gebunden?«
»Ich habe Sie nicht gebunden«, antwortete er. »Das haben die Seleniten getan.«
Die Seleniten! dabei blieb mein Geist eine Weile stehen. Dann kamen mir meine Erinnerungen zurück: Die Schneewüste, das Auftauen der Luft, das Wachsen der Pflanzen, unser seltsames Hüpfen und Kriechen unter den Felsen und der Vegetation des Kraters. All die Not unserer wahnsinnigen Suche nach der Sphäre kam mir zurück … Schließlich die Öffnung des großen Deckels, der das Loch verbarg.
Dann, als ich mich anstrengte, unsere späteren Bewegungen bis zu unserer gegenwärtigen Lage aufzuspüren, wurde der Schmerz in meinem Kopfe unerträglich. Ich kam an eine unübersteigbare Schranke, eine hartnäckige Lücke.
»Cavor!«
»Ja?«
»Wo sind wir?«
»Wie soll ich das wissen?«
»Sind wir tot?«
»Was für ein Unsinn!«
»So haben sie uns?«
Er gab außer einem Grunzen keine Antwort. Die noch zögernden Reste des Giftes schienen ihn merkwürdig reizbar zu machen.
»Was gedenken Sie zu tun?«
»Wie sollte ich wissen, was zu tun ist?«,
»O, schön!«, sagte ich und verstummte. Dann erwachte ich aus einer Starrheit. »O Himmel!«, rief ich, »ich wollte. Sie ließen dies Summen!«
Wir versanken wieder in Schweigen und lauschten auf den dumpfen Wirrwarr von Geräuschen gleich den gedämpften Lauten einer Straße oder einer Fabrik, die uns die Ohren füllten. Ich konnte nicht daraus klug werden, mein Geist verfolgte erst einen Rhythmus und dann einen anderen und befragte ihn vergebens. Aber nach langer Zeit wurde ich mir eines neuen und schärferen Elements bewusst, das sich nicht mit dem Rest vermischte, sondern sich gleichsam von jenem wolkigen Hintergrund von Tönen abhob. Es war eine Reihe relativ sehr wenig bestimmter Töne, ein Klopfen und Reiben, wie wenn ein loser Efeuzweig an ein Fenster schlägt, oder ein Vogel auf einer Schachtel umherhüpft. Wir lauschten und spähten um uns, aber das Dunkel war eine sammetene Decke. Es folgte ein Geräusch wie die feine Bewegung der Hemmung einer gut geölten Uhr. Und dann erschien vor mir, gleichsam in einer schwarzen Unermesslichkeit hängend, eine dünne helle Linie.
»Sehn Sie!«, flüsterte Cavor sehr leise.
»Was ist das?«
»Ich weiß nicht.«
Wir starrten hin.
Die dünne helle Linie wurde ein Band und breiter und blasser. Sie nahm den Charakter eines bläulichen Lichtes an, das auf eine getünchte Wand fiel. Sie hörte auf, parallelseitig zu sein; sie entfaltete auf einer Seite eine tiefe Zahnung. Ich wandte mich, um Cavor darauf aufmerksam zu machen, und sah sein Ohr mit Entsetzen in glänzender Beleuchtung – sonst lag er ganz im Schatten. Ich drehte den Kopf herum, so gut meine Fesseln es mir erlauben wollten. »Cavor«, sagte ich, »das ist hinten!«
Sein Ohr verschwand – wich einem Auge!
Plötzlich verbreitete sich der Spalt, der das Licht eingelassen hatte, und offenbarte sich als der Rahmen einer sich öffnenden Tür. Dahinter lag ein bläulicher Durchblick, und in der Tür stand eine groteske Silhouette vor dem Glanze.
Wir machten beide krampfhafte Anstrengungen, uns umzudrehen, und da uns das nicht gelang, saßen wir da und starrten über unsere Schultern weg nach hinten. Mein erster Eindruck war der eines plumpen Vierfüßers mit gesenktem Kopf. Dann sah ich, dass es der schlanke, zusammengekniffene Leib mit den kurzen und außerordentlich verdünnten, gebogenen Beinen eines Seleniten war, der den Kopf zwischen die Schultern gedrückt hielt. Er war ohne Helm und ohne die Leibbedeckung, die sie äußerlich tragen.
Er war für uns eine leere, schwarze Gestalt, aber instinktiv lieh unsere Fantasie seinem sehr menschlichen Umriss Züge. Ich wenigstens nahm sofort an, dass er etwas Buckliges mit hoher Stirn und langen Zügen war.
Er kam drei Schritte näher und blieb eine Zeit lang stehen. Seine Bewegungen schienen absolut geräuschlos. Dann kam er von neuem näher. Er ging wie ein Vogel, seine Füße traten einer vor den anderen. Er trat aus dem Lichtstrahl, der durch die Tür einfiel, heraus, und es schien, als verschwinde er völlig im Schatten.
Einen Moment suchten meine Augen ihn am falschen Ort, und dann sah ich ihn im vollen Licht vor uns beiden stehen. Nur waren die menschlichen Züge, die ich ihm geliehen hatte, durchaus nicht da.
Natürlich hätte ich das erwarten sollen; ich tat es nur nicht. Es traf mich als ein absoluter für einen Moment überwältigender Schlag. Es war, als sei es kein Gesicht, als müsse es durchaus eine Maske sein, ein Grauen; eine Unförmlichkeit, die alsbald Lügen gestraft oder erklärt werden würde. Es war keine Nase vorhanden, und das Wesen hatte stumpfe, bauchige Augen auf der Seite – in der Silhouette hatte ich sie für Ohren gehalten. Ohren waren nicht da … Ich habe versucht, einen dieser Köpfe zu zeichnen, aber ich kann es nicht. Ein Mund war vorhanden, nach unten gebogen wie der menschliche Mund in einem wild starrenden Gesicht …
Der Hals, auf dem der Kopf saß, war an drei Stellen mit Gelenken versehen, fast wie die kurzen Gelenke an einem Krebsbein. Die Gelenke der Glieder konnte ich nicht sehen, weil sie in Binden gehüllt waren, die die einzige Kleidung ausmachten, die das Wesen trug.
Da stand das Ding und blickte uns an.
Mein Geist wurde ganz von der tollen Unmöglichkeit des Geschöpfes in Anspruch genommen. Ich glaube, er selber war auch entsetzt, und vielleicht mit mehr Grund zum Entsetzen als wir. Nur, zum Henker! er zeigte es nicht. Wir wussten wenigstens, was diese Begegnung unvereinbarer Geschöpfe zustande gebracht hatte. Aber man stelle sich vor, wie es zum Beispiel anständigen Londonern Vorkommen würde, wenn sie auf ein Paar lebender Wesen stießen, so groß wie Menschen und allen anderen irdischen Tieren absolut unähnlich, und diese Geschöpfe liefen unter den Schafen im Hyde Park umher! So muss es ihm vorgekommen sein.
Man stelle sich uns vor! Wir waren an Hand und Fuß gebunden, ermüdet und schmutzig; unsere Bärte zwei Zoll lang, und unsere Gesichter verschrammt und blutig. Cavor muss man sich in seinen Kniehosen denken (die an mehreren Stellen von dem Bajonettstrauch zerrissen waren), in seinem Jägerhemde und seiner alten Kricketmütze, seinem strähnigen Haar in so wilder Unordnung, dass es eine Strähne in jede Himmelsrichtung streckte. In diesem blauen Lichte sah sein Gesicht nicht rot aus, sondern sehr dunkel, seine Lippen und das trocknende Blut auf meinen Händen erschienen schwarz. Womöglich war ich in noch schlimmerer Verfassung als er, weil ich noch in den gelben Schwammpilz hineingesprungen war. Unsere Jacken waren aufgeknöpft, und unsere Schuhe waren uns ausgezogen und lagen zu unsern Füßen. Und wir saßen mit dem Rücken nach diesem wunderlichen blauen Licht gewendet und spähten auf ein Ungeheuer, wie Dürer es hätte erfinden können.
Cavor unterbrach die Stille; begann zu reden, wurde heiser und räusperte sich. Draußen begann ein schreckliches Brüllen, als wäre ein Mondkalb in Not. Es endete mit einem Kreischen, und dann war alles wieder still.
Plötzlich machte der Selenit kehrt, schwenkte in den Schatten, stand einen Moment an der Tür still und blickte zurück und schloss sie dann, und noch einmal waren wir in diesem murmelnden Geheimnis des Dunkels, in das wir erwacht waren.
Eine Zeit lang sprach keiner von uns. All die Dinge, die wir über uns gebracht hatten, in einen Brennpunkt zu bringen, schien meine Geisteskräfte zu übersteigen.
»Sie haben uns«, sagte ich schließlich.
»Es war dieser Pilz!«
»Ja – wenn ich ihn nicht gegessen hätte, wären wir schwach geworden und verhungert.«
»Wir hätten die Sphäre finden können.«
Ich verlor über seiner Hartnäckigkeit die Geduld und fluchte vor mich hin. Eine Weile hassten wir uns schweigend. Ich trommelte mit den Fingern zwischen meinen Knien auf den Boden und knirschte mit den Gliedern meiner Fesseln gegeneinander. Dann zwang es mich, wieder zu reden.
»Einerlei, was machen Sie daraus?«, fragte ich demütig.
»Es sind vernünftige Geschöpfe – sie können Dinge machen und tun – – Die Lichter, die wir sahen …«
Er hielt inne. Es war klar, er konnte nichts daraus machen.
Als er wieder sprach, geschah es, um zu gestehen: »Schließlich sind sie menschenähnlicher, als wir zu erwarten ein recht hatten. Ich glaube – –«
Er hielt aufreizend inne.
»Ja?«
»Ich glaube auf jeden Fall – auf allen Planeten, wo es ein intelligentes Tier gibt – wird es die Hirnschale nach oben tragen, Hände haben und aufrecht gehen …«
Dann schweifte er plötzlich in anderer Richtung ab.
»Wir sind ein Stück drinnen«, sagte er. »Ich meine – vielleicht ein paar tausend Fuß oder mehr.«
»Warum?«
»Es ist kühler. Und unsere Stimmen sind so viel lauter. Dieser verblasste Charakter – der ist völlig fort. Und das Gefühl in den Ohren und im Hals.«
Das war mir nicht aufgefallen, aber jetzt tat es das.
»Die Luft ist dichter. Wir müssen in einiger Tiefe sein – vielleicht sogar eine Meile innerhalb des Mondes.«
»Wir haben nie an eine Welt im Mond gedacht.«
»Nein.«
»Wie konnten wir auch!«
»Wir hätten daran denken können. Nur – man nimmt geistige Gewohnheiten an.«
Er dachte eine Zeit lang nach.
»Jetzt«, sagte er, »scheint es so selbstverständlich.«
»Natürlich! Der Mond muss ungeheure Höhlen haben, eine innere Atmosphäre und im Zentrum seiner Höhlen ein Meer.«
»Man wusste, dass der Mond ein geringeres spezifisches Gewicht hat als die Erde, man wusste, dass er draußen wenig Wasser oder Luft hat, man wusste auch, dass er ein Schwesterplanet der Erde war, wenn er in seiner Zusammensetzung verschieden wäre. Der Schluss, dass er hohl ist, war so klar wie der Tag. Und doch hat man das nie als Tatsache gesehen. Kepler natürlich –«
Seine Stimme verriet jetzt das Interesse eines Mannes, der eine hübsche Schlussfolge entdeckt hat.
»Ja«, sagte er »Kepler mit seinen subvolcani hatte recht.«
»Ich wollte, Sie hätten sich die Mühe gemacht, das vor unserer Ankunft herauszufinden«, sagte ich.
Er antwortete nichts, sondern summte leise vor sich hin, als er seinen Gedanken folgte. Ich verlor die Geduld. »Was meinen Sie denn, ist aus der Sphäre geworden?«, fragte ich.
»Verloren«, sagte er wie einer, der eine uninteressante Frage beantwortet.
»Unter diesen Pflanzen?«
»Wenn sie sie nicht finden.«
»Und dann?«
»Wie kann ich das wissen?«
»Cavor«, sagte ich mit einer Art hysterischer Bitterkeit, »die Dinge sehen glänzend aus für meine Gesellschaft …«
Er gab keine Antwort.
»Gütiger Himmel!«, rief ich aus. »Denken Sie doch nur an all die Mühe, die wir uns gegeben haben, um in diese Patsche zu geraten! Wozu sind wir gekommen? Was ging uns der Mond an oder wir den Mond? Wir haben zu viel gewollt, wir haben zu viel versucht. Wir hätten mit den kleinen Sachen beginnen sollen. Den Mond haben Sie vorgeschlagen! Diese Cavorit-Rolljalousien! Ich bin sicher, wir hätten sie für irdische Zwecke anwenden können. Sicher! Hatten Sie wirklich verstanden, was ich vorschlug! Ein Stahlzylinder – –«
»Quatsch!«, sagte Cavor.
Wir hörten auf miteinander zu reden.
Eine Zeit lang unterhielt Cavor ohne viel Hilfe von mir einen gebrochenen Monolog.
»Wenn sie sie finden«, begann er, »wenn sie sie finden … was werden sie damit anfangen? Ja, das ist eine Frage. Vielleicht ist das die Frage. Auf jeden Fall werden sie sie nicht verstehen. Wenn sie solch Zeug verständen, wären sie längst auf die Erde gekommen. Wären sie? Warum sollten sie nicht? Aber sie hätten etwas geschickt – – Sie hätten von einer solchen Möglichkeit nicht die Hand lassen können. Nein! Aber sie werden sie untersuchen. Offenbar sind sie intelligent und neugierig. Sie werden sie untersuchen – hineinsteigen – mit den Knöpfen spielen. Weg! … Das hieße für uns: auf den Rest unseres Lebens den Mond! Seltsame Geschöpfe, seltsames Wissen …«
»Was das seltsame Wissen angeht« – sagte ich, und die Worte versagten mir.
»Hören Sie, Bedford«, sagte Cavor, »Sie sind aus eigenem, freiem Willen auf diese Expedition gegangen.«
»Sie sagten zu mir: ›Nennen Sie es Prospektern‹.«
»Beim Prospektern läuft man immer Risiko.«
»Besonders, wenn man es unbewaffnet unternimmt, und ohne vorher jede Möglichkeit auszudenken.«
»Ich war so von der Sphäre in Anspruch genommen. Die Sache stürzte auf uns los und trug uns fort.«
»Stürzte auf mich los, meinen Sie.«
»Stürzte ebensosehr auf mich. Woher sollte ich wissen, als ich über Molekularphysik zu arbeiten begann, dass die Geschichte mich hierher bringen würde – von allen Orten hierher!«
»Das ist diese verfluchte Naturwissenschaft«, rief ich. »Die ist der wahre Teufel. Die mittelalterlichen Priester und Verfolger hatten recht, und die Modernen haben völlig unrecht. Sie lassen sich mit ihr ein – und sie bietet Ihnen Gaben, sind so wie Sie die Gaben nehmen, schlägt sie Sie auf eine unerwartete Art in Stücke. Alte Leidenschaften und neue Waffen – bald wirft sie Ihre Religion um, bald wirft sie Ihre sozialen Ideen um, bald wirbelt sie Sie in die Wüste und ins Elend davon!«
»Auf jeden Fall nützt es nichts, wenn Sie jetzt mit mir zanken. Diese Geschöpfe – diese Seleniten oder wie wir sie auch nennen wollen – haben uns an Händen und Füßen gebunden. In welcher Stimmung es Ihnen auch beliebt, die Sache durchzumachen, durchmachen werden Sie sie müssen … Wir haben Erlebnisse vor uns, die unsere ganze Kühle erfordern werden.«
Er hielt inne, als verlange er meine Beistimmung. Aber ich grollte. »Zum Henker mit Ihrer Wissenschaft!«, sagte ich.
»Das Problem lautet: Mitteilung. Gesten, fürchte ich, werden anders sein. Zeigen, zum Beispiel. Außer Menschen und Affen zeigen keine Geschöpfe.«
Das war mir zu handgreiflich verkehrt. »Ziemlich jedes Tier«, rief ich, »zeigt mit den Augen oder mit der Nase.«
Cavor dachte darüber nach. »Ja«, sagte er schließlich, »und wir nicht. Es gibt solche Verschiedenheiten – solche Verschiedenheiten?«
»Man könnte … Aber wie kann ich das sagen? Da ist die Sprache. Die Töne, die sie von sich geben, eine Art Flöten und Pfeifen. Ich sehe nicht, wie wir das nachahmen sollten. Ist das ihre Sprache? Sie können andere Sinne haben, andere Mittel der Mitteilung. Natürlich sind sie Geister, und wir sind Geister; es muss etwas Gemeinsames geben. Wer weiß, wie weit wir nicht zu einer Verständigung kommen können?«
»Die Dinge sind anders als wir«, sagte ich. »Sie sind mehr von uns unterschieden als die fremdartigsten Tiere auf der Erde. Sie sind ein verschiedener Lehm. Was nützt es, so zu reden?«
Cavor überlegte. »Das sehe ich nicht ein. Wo Geister sind, werden sie etwas Ähnliches haben – selbst wenn sie auf verschiedenen Planeten entwickelt sind. Natürlich, wenn es eine Frage der Instinkte wäre, wenn wir oder sie nichts wären als Tiere – –«
»Ja, sind sie etwas anderes? Sie gleichen viel eher Ameisen auf den Hinterbeinen als menschlichen Wesen, und wer ist je mit Ameisen zu irgendwelcher Verständigung gekommen?«
»Aber diese Maschinen und die Kleidung! Nein, ich bin nicht Ihrer Meinung, Bedford. Der Unterschied ist groß – –«
»Er ist unübersteiglich.«
»Die Ähnlichkeit muss ihn überbrücken. Ich erinnere mich, dass ich einmal einen Aufsatz von dem verstorbenen Professor Galton über die Möglichkeit einer Mitteilung zwischen den Planeten gelesen habe. Leider schien es mir damals nicht wahrscheinlich, dass mir das von irgendwie materiellem Nutzen sein könnte, und ich fürchte, ich habe ihm nicht die Aufmerksamkeit geschenkt, die ich ihm hätte schenken sollen – wenn man diesen Stand der Dinge berücksichtigt. Aber … Halt, lassen Sie mich sehen! – Seine Idee war, mit jenen allgemeinen Wahrheiten zu beginnen, die allen denkbaren geistigen Existenzen zugrunde liegen müssen, und darauf eine Basis zu begründen. Zunächst mit den großen Prinzipien der Geometrie. Er schlug vor, irgendeinen führenden Lehrsatz des Euklid zu nehmen und durch Konstruktion zu zeigen, dass uns seine Wahrheit bekannt sei, zum Beispiel zu beweisen, dass die Winkel an der Basis eines gleichseitigen Dreiecks gleich sind, und dass, wenn man die gleichen Seiten verlängert, auch die Winkel auf der anderen Seite der Basis gleich sind, oder dass das Quadrat auf der Hypotenuse eines rechtwinkligen Dreiecks gleich der Summe der Quadrate über den beiden Katheten ist. Dadurch, dass wir unsere Kenntnis dieser Dinge dartäten, würden wir zeigen, dass wir im Besitz eines vernünftigen Intellekts sind … Wenn ich nun … wenn ich die geometrische Figur mit einem nassen Finger zeichnete, oder sie auch nur in der Luft andeutete …«
Er verstummte. Ich überlegte seine Worte. Eine Zeit lang bannte mich diese wilde Hoffnung aus Mitteilung, auf Verständigung mit diesen gespenstischen Wesen. Dann nahm jene zornige Verzweiflung, die ein Teil meiner Erschöpfung und meines physischen Elends war, ihre Herrschaft wieder auf. Ich sah mit plötzlicher, neuer Lebendigkeit, wie furchtbar töricht alles war, was ich je getan hatte. »Esel!«, sagte ich, »o, Esel, unsäglicher Esel … es scheint, ich bin nur da, um herumzulaufen und widersinnige Dinge zu tun … Warum haben wir das Ding jemals verlassen? … Hüpfen auf der Suche nach Patenten und Konzessionen in den Mondkratern herum! … Wenn wir nur den Verstand gehabt hätten, ein Taschentuch an einen Stock zu binden, um zu zeigen, wo wir die Sphäre gelassen haben!«
Ich sank in Wut zusammen.
»Es ist klar«, überlegte Cavor, »sie sind intelligent. Man kann gewisse Dinge aufstellen. Da sie uns nicht sofort getötet haben, müssen sie Gedanken des Erbarmens haben. Des Erbarmens! auf jeden Fall der Selbstbeherrschung. Vielleicht des Verkehrs. Sie werden uns vielleicht entgegenkommen. Und dieser Raum und der Eindruck, den wir von seinem Hüter hatten. Diese Fesseln! Ein hoher Grad von Intelligenz!«
»Ich wollte zum Himmel«, rief ich, »ich hätte nur zweimal gedacht! Sprung nach Sprung. Erst ein Anfang aufs Geratewohl und dann ein zweiter. Es war mein Vertrauen zu Ihnen! Warum bin ich nicht bei meinem Drama geblieben? Dem war ich gewachsen. Das war meine Welt, und das Leben, zu dem ich geschaffen war. Das Drama hätte ich zu Ende bringen können. Ich bin sicher … es war ein gutes Drama. Ich hatte das Szenarium so gut wie fertig. Dann … stellen Sie sich vor! auf den Mond zu springen! Praktisch betrachtet – hab’ ich mein Leben weggeworfen! Die alte Frau in dem Gasthofe bei Canterbury hatte mehr Verstand.«
Ich blickte auf und unterbrach mich mitten im Satz. Die Dunkelheit war von neuem dem bläulichen Lichte gewichen. Die Tür ging auf, und mehrere geräuschlose Seleniten kamen in den Raum. Ich wurde ganz still und starrte ihre grotesken Gesichter an.
Dann verwandelte sich plötzlich meine Empfindung unangenehmer Fremdheit in Interesse. Ich sah, dass der vorderste und der zweite Schüsseln trugen. Ein elementares Bedürfnis wenigstens konnten unsere Geister gemeinsam verstehen. Es waren Schüsseln aus einem Metall, das wie unsere Fesseln in dem bläulichen Licht dunkel aussah, und jede enthielt eine Anzahl weißlicher Fragmente. All der neblige Schmerz und das Elend, das mich bedrückte, stürzte zusammen und nahm die Gestalt des Hungers an. Ich blickte wölfisch nach diesen Schüsseln, und obgleich es mich in Träumen heimgesucht hat, damals erschien es mir als eine Kleinigkeit, dass am Ende der Arme, die einer zu mir senkte, keine Hände saßen, sondern eine Art Lappen und ein Daumen, wie am Ende eines Elefantenrüssels.
Das Zeug in der Schüssel war losen Gewebes und von weißlich brauner Farbe – etwa wie Stücke eines kalten soufflé, und es roch wie Pilze. Nach einem teilweise geöffneten Leichnam eines Mondkalbes, den wir bald darauf zu sehen bekamen, neige ich zu dem Glauben, dass es Mondkalbfleisch gewesen sein muss.
Mir waren die Hände zu eng gefesselt, dass es mir kaum gelingen wollte, die Schüssel zu erreichen; aber als sie meine Anstrengung sahen, lösten zwei von ihnen sehr gewandt eine der Windungen um mein Handgelenk. Ich fasste sofort einen Bissen von der Nahrung. Sie war ebenso loser Textur, wie sie auf dem Mond alles organische Wachstum zu haben scheint; sie schmeckte etwa wie eine Waffel oder ein nasser Baiser, aber sie war durchaus nicht unangenehm. Ich nahm zwei weitere Bissen. »Ich musste – essen!«, sagte ich und riss ein noch größeres Stück ab …
Eine Zeit lang aßen wir in äußerster Selbstvergessenheit. Wir aßen und tranken dann auch wie Landstreicher in einer Garküche. Nie zuvor oder seither bin ich bis zu dem rasenden Grade heißhungrig gewesen, und hätte ich es nicht erlebt, ich hätte nie glauben können, dass ich eine Viertelmillion Meilen von unserer eigentlichen Welt entfernt in äußerster Seelenbeklemmung, umgeben, beobachtet, berührt von groteskeren und unmenschlicheren Wesen, als es die schlimmsten Schöpfungen eines Albs sind, in äußerster Vergessenheit all dieser Dinge hätte essen können.
Sie umstanden uns und beobachteten uns, und hin und wieder gaben sie ein leises, flüchtiges Zwitschern von sich, das, glaube ich, bei ihnen die Stelle der Sprache vertrat. Ich schauderte nicht einmal bei ihrer Berührung. Und als der erste Eifer meines Essens vorüber war, konnte ich bemerken, dass auch Cavor mit derselben schamlosen Hingebung gegessen hatte.