Czytaj książkę: «Das Frühlicht»
Das Säulentor
– Heut ist es neblig. Wollen wir gehn?
Poterloo hat diese Frage an mich gerichtet und sieht mich an mit seinem gutmütigen, blonden Kopf, dem das blaue Augenpaar eine gewisse Durchsichtigkeit verleiht.
Poterloo ist von Souchez gebürtig, und seit die Jäger Souchez endlich wieder zurückerobert haben, möchte er das Dorf wiedersehn; er hat dort einst glücklich gelebt, zur Zeit, als er noch ein Mensch war.
Eine gefährliche Wallfahrt. Nicht, dass es weit wäre; Souchez liegt dort ganz in der Nähe. Seit sechs Monaten sitzen und arbeiten wir, sozusagen auf Sprechweite vom Dorf entfernt, im Schützengraben und in den Laufgräben. Es handelt sich einfach darum, von hier aus gerade hinauf auf die Strasse von Bethune zu klettern, an der sich der Graben hinschlängelt und darunter die Zellen unserer Schutzlöcher liegen. Dann geht's noch vier oder fünfhundert Meter die Strasse abwärts nach Souchez. Aber diese ganze Gegend wird regelmässig und fürchterlich beschossen. Seit ihrem Rückzug schicken die Deutschen mächtige Geschosse hinüber, die von Zeit zu Zeit unsere unterirdische Behausung donnernd erschüttern; dabei sieht man bald hier, bald dort schwarze Erde und Schutt über die Böschung hoch aufspritzen und senkrechte Rauchsäulen turmhoch aufsteigen. Warum sie Souchez beschiessen, weiss man nicht; denn kein Mensch, kein Haus steht mehr im Dorf, das erobert und wieder erobert wurde, nachdem man es sich gegenseitig hartnäckig immer wieder entrissen hatte.
Heute morgen allerdings hüllt uns ein dichter Nebel ein; unter dem Schutze dieses grossen Schleiers, den der Himmel auf die Erde wirft, könnte man es wagen . . . Jedenfalls wird man bestimmt nicht gesehen werden. Der undurchsichtige Nebel verschleiert die Fernsicht für die Instrumente, die irgendwo dort oben in der Nebelwatte eingewickelt sind, und der Nebeldunst bildet eine leichte und undurchsichtige Mauer zwischen unseren Linien und dem Beobachtungsposten von Lens und Angres, wo der Feind auf der Lauer liegt.
– Abgemacht! sag ich zu Poterloo.
Adjutant Barthe, den wir einweihten, nickte mit
dem Kopfe und senkte die Lider zum Zeichen, dass er die Augen zudrücken wolle.
Es war das erstemal, dass ich tags über dieses Gelände ging. Wir hatten sie immer nur von weitem gesehn, diese schreckliche Strasse, die wir oft in der Dunkelheit und unterm Sausen der Granaten sprungweise überschritten hatten, oder auf der wir hin- und hergelaufen waren.
– Nun, kommst du, alter Knabe?
Kaum aber halten wir im Nebel, der seine Baumwollfäden über die Strasse zerrupfte, ein paar Schritte gemacht, da blieb Poterloo mitten auf des Strasse stehn und riss seinen roten, halboffenen Mund und seine horizontblauen Augen auf.
– O je, o je, o je! . . . murmelte er.
Und als ich mich nach ihm umschaute, deutete er auf die Strasse und sagte kopfschüttelnd:
– Das wär's also. Du lieber Gott, wie die aussieht! . . . Hier grad kenn ich mich so gut aus, dass ich es ganz genau sehe, wie's war, wenn ich die Augen zumache, und ich brauch gar nicht weiter nachzudenken. Das Wiedersehn aber ist schrecklich. So schön war die Strasse, mit lauter Bäumen auf beiden Seiten . . . Und jetzt, wie sieht sie aus? Da schau nur mal einer her: wie so 'n langes, verrecktes Zeug, traurig, traurig . . . Guck mal her, die beiden Gräben rechts und links, der ganzen Länge nach aufgerissen, das aufgewühlte Pflaster mit Löchern drin und die ausgerissenen Bäume, durchgesägt, brandicht, zu Scheiterhaufen zerhackt, überall hingeschmissen, mit Kugellöchern drin, da guck mal her, wie 'n Sieb sieht das aus! – Herrgott! kannst dir nicht vorstellen, wie die Strasse entstellt ist!
Dann schreitet er vorwärts und sperrt bei jedem Schritt mit schrecklichem Erstaunen die Augen auf.
Die Strasse sieht in der Tat furchtbar aus, nachdem sich auf beiden Seiten anderthalb Jahre lang zwei Armeen geduckt, dran festgeklammert und ihr von hüben und drüben die entsetzlichsten Schläge versetzt hatten. Sie ist eine grosse Bahn der Wirrnis, auf der nur Kugeln einherjagen. Granaten haben sie gefurcht; sie ist aufgerissen und mit Ackererde bespritzt, zerwühlt und umgestochen bis auf die Knochen. Sie ist wie ein vermaledeiter Steg, farblos, alt und zerschunden, schaurig und grossartig anzuschaun.
– Wenn du sie früher gesehen hättest, sagt Poterloo, wie sauber und glatt war sie damals! Alle Bäume standen aufrecht, es fehlte kein Blatt und keine Farbe; wie Schmetterlinge schimmerten sie, und immer ging gerade jemand vorbei, der einem guten Tag wünschte: ein altes Frauchen, die zwischen zwei Körben wackelte, oder sonst Leute, die auf einem Wagen sassen und laut miteinander sprachen, im gütigen Wind mit aufgeblasenen Blusen. Ach, war das ein glückliches Dasein früher!
Er geht an den Rand jenes dunstigen Flusses, der über das Strassenbett fliesst, bis zur aufgeworfenen Brustwehr. Er bückt sich und bleibt vor verschwommenen Erdhaufen stehen, auf denen man Kreuze entdeckt: es sind Gräber, die in gewissen Abständen in die Nebelmauer eingelassen sind, wie Kreuzstationen in einer Kirche.
Ich rufe ihn. Wir kommen niemals hin, wenn wir kriechen wie 'ne Prozession. Los!
Wir kommen an eine Geländesenkung, ich zuerst und dann Poterloo, der mit wirrem und schwerem Kopfe vergebens mit den Dingen Blicke zu tauschen versucht. Dort senkt sich die Strasse und verschwindet nach Norden in einer Geländefalte.
An dieser geschützten Stelle herrscht ein wenig Verkehr.
Auf der verschwommenen, schmutzigen und kranken Erde, wo Gras in schwarzer Schmiere versumpft, liegen Tote nebeneinander. Sie werden nachts dorthin gebracht, wenn man die Schützen graben und die Ebene säubert. Dort warten sie, die einen schon lange, darauf, nachts in die Kirchhöfe hinter die Front gebracht zu werden.
Wir treten leise an sie heran. Sie liegen dicht aneinander; ein jeder zeigt noch, mit den Beinen oder den Armen, die eigentümliche Gebärde seines erstarrten Todeskampfes. Manche haben halbverweste Gesichter, brandige, gelbe Haut mit schwarzen Punkten. Mehrere haben ein vollständig verkohltes, teeriges Gesicht, geschwollene und ungeheure Lippen. Aufgedunsene Negergesichter. Zwischen zwei Leichen hervor starrt, diesem oder jenem angehörend, ein durchhackter Handknöchel, an dem ein Faserknäuel hängt.
Andre wieder sind nur noch unförmige, beschmutzte Larven, aus denen unerkennbares Rüstzeug oder Knochenfetzen ragen. Etwas weiter weg liegt ein so schrecklich zugerichteter Leichnam, dass man ihn an zwei Pfählen in ein Drahtnetz legen musste, um ihn unterwegs, beim Tragen, nicht zu verlieren. So haben sie ihn, wie einen Ballen, in der metallenen Hängematte herübergetragen und hier niedergelegt; dran ist kein Unten und kein Oben mehr zu unterscheiden; aus dem unförmigen Haufen ist nur eine klaffende Hosentasche erkennbar, aus der ein Insekt herauskriecht und wieder hineinschlüpft.
Um die Toten flattern Briefe, die aus ihren Kleidern oder ihren Patronentaschen geflogen sind, als man den Leichnam niederlegte. Auf einem dieser schneeweissen Papierfetzen, die im Wind umherflattern und die der Kot beschmiert, lese ich, leise darübergeneigt, diesen Satz: »Lieber Henri, wie schön das Wetter zu deinem Geburtstage ist! . . .« Der Soldat liegt auf dem Bauch; von einer Hüfte zur andern klafft eine tiefe Furche; sein Kopf liegt halb nach hinten gedreht; man sieht ein hohles Auge und auf der Schläfe, auf der Backe und dem Hals ist sowas wie grünes Moos gewachsen.
Eine eklige Luft kriecht mit dem Wind um die Toten und die Schutthaufen: Zelltücher oder Kleiderfetzen verdreckten Stoffes, durch das trockene Blut steif geworden oder durch Geschossbrand verkohlt, hart, erdig und schon verfault; darauf krabbelt und wühlt eine lebende Schicht. Man hält den Geruch kaum aus. Wir schauen uns kopfnickend an und wagen es nicht, laut zuzugestehn, dass es hier übel riecht. Und doch entfernen wir uns nur langsamen Schrittes.
Dann sahen wir im Nebeldunst Männer auftauchen. Sie waren vornübergebeugt und die Last, die sie trugen, kettete sie aneinander. Es sind Träger von der Landwehr, die einen frischen Leichnam herbringen. Keuchend schreiten sie vorwärts mit ihren alten, abgezehrten Köpfen und schwitzen; die Anstrengung verzerrt ihre Gesichter zu Fratzen.
Zu zweit einen Leichnam im Kot durch die Gräben tragen, ist eine fast übermenschliche Aufgabe.
Sie legen den Toten ab; er trägt noch eine frische Uniform.
– Noch nicht lange, stand er noch aufrecht, meint einer der Träger. Grad vor zwei Stunden ist ihm die Kugel in den Kopf gefahren, als er ein deutsches Gewehr in der Ebene holen wollte: nächsten Mittwoch hätte er gerade Urlaub gehabt und wollte das Gewehr nach Hause mitnehmen. Es ist ein Sergeant vom 4051en, von der Klasse 14. Ein netter kleiner Kerl.
Dann zeigte er ihn uns; er lüftete das Taschentuch, das ihm das Gesicht verdeckte; er ist blutjung und schien zu schlafen; nur dass der Augapfel verdreht war, die Wange wachsfarbig, und ein rötliches Wasser nässte ihm Nasenlöcher, Mund und Augen,
Dieser Leib, der wie ein reiner Ton in jener Leichengegend liegt und noch gelenkig beim Tragen den Kopf auf die Seite neigt, als mache er sich's bequem, erweckt die kindliche Illusion, er sei weniger tot, als die andern. Er ist auch weniger entstellt und hat etwas Pathetischeres, Mitteilsameres, und merkt auf, wenn man ihn anschaut. Und wenn wir überhaupt angesichts dieser Anhäufung erloschner Wesen ein Wort herausbrächten, so wär's: »Der arme Junge!«
Dann gingen wir auf die Strasse zurück; von hier ab führte sie hinunter nach Souchez. Und auf der bleichen Nebelstrasse war es wie in einem schrecklichen Jammertal. Ein stets wachsendes Durcheinander von Schutt, Ueberresten und Auswurf häuft sich an auf dem zerschundenen Rückgrat des Pflasters bis an die kotigen Strassenränder. Die Bäume liegen auf dem Boden oder sind verschwunden und ausgerissen, wie zerfleischte Stummel. Die Geschosse haben die Böschungen über den Haufen geworfen und zerfetzt. Längs der Strasse auf beiden Seiten, oder auch vereinzelt, stehn nur noch die Kreuze auf den Gräbern aufrecht; sonst sieht man nur zwanzigmal verschüttete und wieder ausgegrabene Gräber. Löcher mit Uebergängen oder Flechtwerk über sumpfigen Stellen.
Je weiter wir kommen, desto schrecklicher, zerwühlter, verfaulter und sündflutlicher erscheint alles. Man schreitet auf einem Pflaster von Granatsplittern. Auf Schritt und Tritt stösst der Fuss daran und verfängt sich alle Augenblicke in ihre Fallen. Man stolpert über einen Wust von zerbrochenen Waffen, Scherben von Kochgeschirren, Kannen, Oefen, Nähmaschinen und über elektrische Drahtknäuel, über deutsche und französische, zerrissene Ausrüstungen, die eine trockene Kotrinde bedeckt, über zweifelhafte Kleidungsstücke, an denen eine rotbraune Kittmasse klebt. Dazu muss man auf die Blindgänger aufpassen, die überall ihre Spitzen herausstecken, ihr Verschlusstück zeigen oder auch auf der Flanke liegen, rot, blau oder schwarzbraun angestrichen.
– Das ist der alte deutsche Schützengraben, den sie endlich aufgegeben haben.
Stellenweise ist er verstopft, dann wieder wütend durchschossen. Die Erdsäcke sind zerrissen, aufgeschlitzt, zertrümmert und wehn leer im Winde; die Stützbalken sind zerbrochen und strecken ihre Stümpfe nach allen Seiten. Die Unterstände sind bis obenan mit Erde und Gott weiss womit noch verstopft. Alles das sieht aus wie ein halb ausgetrocknetes, zertretenes, aufgerissenes und sumpfiges Flussbett, das vom Wasser und von den Menschen sich selbst überlassen ist. An einer Stelle hat die Beschiessung den Graben wörtlich weggewischt; der ausgehöhlte Graben ist hier nur noch ein Feld frischer Erde und symmetrisch der Länge und der Breite nach nebeneinander liegender Löcher.
Ich mache Poterloo auf dieses aussergewöhnliche Feld aufmerksam, worüber ein Riesenpflug gegangen zu sein scheint.
Aber ihn beschäftigt bis in sein tiefstes Innere die Aenderung, die die Landschaft erlitten hat.
* * *
Plötzlich, als erwache er aus einem Traum, zeigt er verblüfft mit dem Finger nach einer Stelle in der Ebene.
– Das Cabaret Rouge!
Man sieht dort ein flaches Feld, mit zerbrochnen Backsteinen belegt.
Und das? Was ist das?
Ein Randstein? Nein, es ist kein Randstein. Es ist ein Kopf, ein schwarzer, gegerbter, gewichster Kopf. Der Mund sitzt ganz schief, und man sieht Schnurrbarthaare, die auf beiden Seiten nach oben starren: ein dicker, verkohlter Katzenkopf. Darunter sieht man einen Leichnam – es ist ein Deutscher –, der aufrecht in der Erde steckt.
Und das?
Eine grausige Zusammenstellung: ein ganz weisser Schädel, dann zwei Meter vom Schädel abseits ein Paar Stiefel und zwischen beiden ein Haufen zerfaserten Lederzeugs und in brauner Kotmasse erstarrte Lumpen.
– Komm. Der Nebel hat nachgelassen. Beeilen wir uns.
Hundert Meter vor uns, in den durchsichtigeren Nebelwellen, die vor uns herwehn und ihre Schleier mehr und mehr lüften, pfeift ein Geschoss und platzt . . . Es schlug gerade in die Stelle ein, an der wir im Augenblick vorübergehen werden.
Dann geht's bergab. Die Senkung ebnet sich allmählich. Wir gehn nebeneinander her. Mein Begleiter spricht kein Wort, er schaut nach rechts und schaut nach links.
Dann bleibt er wieder stehn, wie vorhin auf der oberen Strasse. Ich höre ihn halblaut stottern:
Ja? Wir sind doch da . . . ja, ja, hier ist es.
Wir haben in der Tat die Ebene nicht verlassen und stehn immer noch in jener öden, ausgebrannten
Wüste, – und dennoch sind wir im Dorfe Souchez!
* * *
Das Dorf steht nicht mehr. Nie hab ich ein derartig verschwundenes Dorf gesehen. Allain-Saint-Nazaire und Carency haben noch den äusseren Anschein einer Ortschaft gewahrt, mit ihren eingefallnen und abgebrochnen Häusern, ihren mit Kalk und Ziegeln verschütteten Höfen. Hier dagegen hat alles jegliche Form verloren; übrig blieb nur noch der Rahmen niedergerissener Bäume, der uns mitten im Nebel, mitten in einer Scheinumgebung umgibt. Nicht eine Wand, kein Gitter, kein Tor ist stehn geblieben; überrascht bemerkt man ein Pflaster im Durcheinander von Balken, Steinen und Eisen; hier also war eine Strasse!
Alles das sieht aus wie verworrenes, schmutziges und sumpfiges Vorstadtgelände, auf das die Stadt jahrelang, ohne ein leeres Plätzchen zu schonen, ihren Schutt, ihre Abfälle, ihr morsches Baumaterial und ihr altes Geschirr regelmässig abgelagert hätte: es ist eine gleichmässige Schutt- und Abfallschicht, in der man einsinkt und langsam und mühevoll vorwärtskommt. Die Beschiessung hat die Dinge so sehr entstellt, dass sie den Lauf des Mühlenbaches abgelenkt hat; dieser bildet, dem Zufall anheimgelassen, auf dem übrigen Stück des kleinen Platzes, wo ein Kreuz stand, einen Teich.
Hie und da ein paar Granatenlöcher, in denen verzerrte und aufgeblähte Pferde faulen; in anderen Löchern liegen die Ueberreste dessen, was ein menschliches Wesen war und durch die entsetzliche Wunde der Granate entstellt wurde.
Quer über dem Pfad, der uns über diesen Zusammenbruch führt und über jene Schuttflut unter der tiefen Trübsal des Himmels, liegt ein Mann, als ob er schliefe; aber er liegt platt auf der Erde, woran man die Toten von den Schläfern unterscheidet. Es ist ein Suppenträger mit seinem Brotkranz, den ein Lederriemen zusammenhält, und die Kannen der Kameraden hängen ihm an einem Riemenbündel traubenförmig über die Schulter. Letzte Nacht hat ihm offenbar ein Granatsplitter den Rücken eingestossen und durchlöchert. Wir sind jedenfalls die ersten, die ihn entdecken, diesen verborgenen Soldaten, der im Verborgenen gefallen ist. Vielleicht ist er schon zersetzt, wenn andere hier vorbeikommen. Ich suche nach seiner Erkennungsmarke; sie klebt im geronnenen Blut, in welchem seine rechte Hand liegt. Ich schreibe den mit blutigen Buchstaben gezeichneten Namen ab.
Poterloo lässt mich das allein besorgen. Er sieht aus wie ein Nachtwandler. Er schaut und schaut in einem fort wie wahnsinnig überall hin; er sucht und sucht in diesen zerfetzten, verwischten Dingen, in dieser Leere, er sucht und forscht den dunstigen Horizont aus.
Dann setzt er sich auf einen guerliegenden Balken, nachdem er einen ausgerenkten Kochkessel mit dem Fuss heruntergeschlagen hat. Ich setze mich neben ihn. Ein Nebelregen rieselt leise. Die Feuchtigkeit des Nebels fliesst zu Tropfen zusammen und belegt die Dinge mit einem leichten Schimmer.
Poterloo murmelt:
– Herr Gott!
Er wischt sich die Stirn e ab und blickt mich flehentlich an. Er möchte verstehn, die Zerstörung dieses Erdstrichs möchte er umarmen und diese Trauer zur seinen machen. Er stottert unzusammenhängendes Zeug und nimmt seinen grossen Helm vom Kopfe und man sieht, wie sein Schädel dampft. Dann sagt er mühevoll zu mir:
– Kannst dir nicht vorstellen, du kannst es nicht, kannst es einfach nicht . . .
Dann keucht er:
– Das Cabaret Rouge, wo der deutsche Schädel liegt mit nichts als Abfall drum herum . . ., diese Kloake, das war früher . . . am Weg, ein Backsteinhaus mit zwei niederen Gebäuden neben dran . . . Wie oft, Herr Gott, da gerade wo wir stehn geblieben sind, wie oft hab ich der alten Frau, die auf der Türschwelle lachte, »auf Wiedersehn« gesagt und wischte mir dabei den Mund ab und guckte nach Souchez hin und ging dann heim! Und nach ein paar Schritten drehte ich mich immer noch mal um und rief ihr noch einen Witz zu! Ach! du kannst dir das gar nicht vorstellen . . . Ja, und das hier?
Er führte den Arm im Kreis um sich und deutete damit die ganze Leere an, die ihn umgab . . .
– Wir wollen nicht zu lange hier bleiben. Der Nebel steigt wieder auf, weisst du.
Dann stand er mühevoll auf.
– Gehn wir . . .
Das schwerste war noch nicht getan. Sein Haus . . . Er stutzt, orientiert sich und geht . . .
– Da ist es . . . Nein, ich bin schon dran vorbei. Da stand es nicht. Ich find die Stelle nicht mehr, wo es stand. Gott, ist das ein Elend!
Er ringt verzweifelt die Hände und hält sich nur schwer aufrecht auf dem Durcheinander von Verputz und Balken. Dann plötzlich fühlt er sich verloren in dieser verschütteten Ebene, ohne Anhaltspunkt und schaut zum Himmel wie ein unbewusstes Kind, wie ein Wahnsinniger. Er sucht das Heimelige jener in den unendlichen Raum verwehten Zimmer und sucht die Gestalt und das Halbdunkel der Wohnungen, die in den Wind gestreut sind.
Nachdem er verschiedene Male hin- und hergegangen ist, bleibt er an einer Stelle stehn und tritt ein wenig zurück.
– Da war es. Ganz bestimmt. Guck her: an diesem Stein erkenn ich's wieder. Da war das Kellerloch. Hier hat das Gittereisen noch eine Spur zurückgelassen, bevor es davongeflogen ist.
Er schnäuzt die Nase, denkt nach und schüttelt in einem fort den Kopf.
– Wenn nichts mehr da steht, dann begreift man erst recht, wie glücklich man war. Ach! wie war man doch glücklich!
Er nähert sich mir und lacht nervös.
– Das ist keine gewöhnliche Sache, was? So was hast du sicher noch nicht gesehn; was das heisst, sein Haus nicht mehr finden, nachdem man seit jeher drin gelebt hat . . .1
Dann macht er kehrt und zieht mich nach.
– Jetzt können wir uns drücken, nachdem doch nichts mehr da ist. Und wenn wir noch stundenlang die Stelle ansehn, wo das Zeug gestanden hat! Komm, wir gehn.
Und wir gingen. Wir sind wie zwei lebende Flecken an diesem dunstigen und illusorischen Ort, in diesem Dorf, das am Boden liegt und auf das wir treten.
Nun steigen wir die Strasse wieder hinauf. Das Wetter heitert auf. Der Dunst verfliegt sehr schnell. Mein Kamerad schreitet mit grossen Schritten stumm einher, die Nase auf den Boden gerichtet; dann zeigt er mir ein Feld:
– Der Kirchhof, sagt er. Da stand er früher, jetzt ist er überall und hat um sich gegriffen, unaufhörlich, wie eine Wellkrankheit.
Auf halber Höhe kommen wir langsamer vorwärts. Da tritt Poterloo näher an mich heran.
– Das alles, siehst du, es ist zu viel. Es ist zu arg ausgewischt mein ganzes früheres Leben. Ich habe Angst, so sehr ist das ausgewischt.
– Bewahre: deine Frau ist doch gesund, du weisst es doch und dein kleines Mädchen auch.
Auf diese Bemerkung hin macht er ein komisches Gesicht:
– Meine Frau? . . . Ich will dir was sagen: meine Frau . . .
– Nun, was ist?
– Was ist? Gesehn hab ich sie.
– Gesehen? Ich dachte, sie sei im besetzten Gebiet?
– Ja, sie ist in Lens bei meinen Eltern. Und ich hab sie wieder gesehn . . . Ach, übrigens pfeif ich drauf! . . . Ich will dir alles erzählen! Jawohl, ich war in Lens, vor drei Wochen. Es war am elften. Also vor zwanzig Tagen,
Ich schaute ihn verblüfft an . . . aber er sieht wirklich aus, als sage er die Wahrheit. Er schreitet in der zunehmenden Helligkeit neben mir und fängt an zu stottern:
– Es hiess, erinnerst dich vielleicht noch . . . Nein, ich glaub, du warst nicht da . . . Es hiess also, man müsse den Drahtverhau vor dem Billard-Parallelgraben verstärken. Du weisst, was das heissen will. Bis jetzt halte man's noch nie machen können; sowie man aus dem Schützengraben rausgeht, sieht man einen auf dem Abhang, der so 'nen komischen Namen hat.
– Der Toboggan.
– Ganz recht; nachts oder bei Nebel ist die Stelle ebenso gefährlich wie am Tag, wegen der Gewehre, die schon auf Gabeln bereit liegen und wegen der Maschinengewehre, die man am Tage aufstellt. Wenn sie nichts sehn, dann beschiessen die Deutschen immer die ganze Gegend. – Man hat ein paar Pioniere aus der Genie-Kompagnie genommen, aber sie haben sich gedrückt, dann hat man an ihre Stelle ein paar ausgewählte Soldaten aus verschiedenen Kompagnien herausgesucht. Ich war auch einer davon. Also gut. Wir steigen raus. Kein einziger Gewehrschuss! Wir wussten nicht, was das bedeuten sollte. Auf einmal kriecht ein Deutscher, zwei Deutsche, zehn Deutsche aus dem Boden – die grauen Teufels! – und machen uns Zeichen und rufen: »Kamerad!« »Wir sind Elsässer«, rufen sie und kriechen in einem fort aus ihrem internationalen Schlauch. »Wir tun euch nichts«, schreien sie, »nur keine Angst, Freunde. Lasst uns nur ungeschoren unsere Toten begraben.« Und nun arbeiten wir, jeder für sich, miteinander gesprochen haben wir sogar, denn es waren Elsässer. Eigentlich schimpften sie über den Krieg und über ihre Offiziere. Unser Sergeant wusste wohl, dass es verboten war, sich mit dem Feind zu unterhalten; man hat uns sogar vorgelesen, dass wir nur mit der Knallbüchse zu ihnen sprechen sollten. Aber der Sergeant dachte eben, es sei eine aussergewöhnliche Gelegenheit, den Drahtverhau zu verstärken, und weil sie uns ruhig gegen sich selbst arbeiten Hessen, wär man dumm gewesen, wenn man's nicht ausgenutzt hätte . . . Nun aber kommt so'n Deutscher und fragt: »Ist keiner von euch aus dem besetzten Gebiet und möchte Nachrichten über seine Familie haben?« – Weisst du, da hab ich nicht mehr widerstehn können. Ohne zu wissen, ob's gut oder schlecht sei, bin ich vorgetreten und hab gesagt, ich sei so einer. Da fragt mich der Deutsche aus; ich sag ihm, dass meine Frau in Lens sei, bei ihren Eltern mit der Kleinen. Da fragt er mich, wo sie wohnt. Ich erkläre es ihm, und da meint er, es sei schon recht. »Horch mal,« sagt er dann, »ich bring dir die Antwort zurück.« Und auf einmal haut er sich an die Stirne, der Deutsche, und tritt naher: »Hör du, wir machen's noch viel besser. Wenn du machst, was ich dir sag, sollst du sie sehn, deine Frau und deine Kinder auch und alles, wie ich dich jetzt sehe.« Dann sagt er, ich müsse ihm nur nachgehn um die und die Zeit mit einem deutschen Mantel und einer Feldmütze, die er mir verschaffen wolle. Er wolle mich in Lens schon unter die Kohlenmannschaft bringen; und so könnten wir bis zu mir heim. Dort konnte ich alles sehn, müsste mich aber gut verstecken und mich nicht sehn lassen; er stehe schon für die Leute von der Kohlenmannschaft ein, aber im Haus seien Unteroffiziere, für die er nicht garantieren könne . . . Weiss Gott, Alter, ich hab's angenommen!