Czytaj książkę: «Letzter Weckruf für Europa»
Helmut Brandstätter
LETZTER WECKRUF
FÜR EUROPA
eISBN 978-3-218-01220-1
Copyright © 2020 Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, Wien
Alle Rechte vorbehalten
Schutzumschlaggestaltung: Sophie Gudenus, unter Verwendung eines Fotos
von Robert Jaeger / APA / picturedesk
Typografische Gestaltung und Satz: Danica Schlosser
Lektorat: Stefanie Jaksch
Für die Generation meiner drei Kinder und ihre Nachkommen. Mögen auch sie in einem friedlichen Europa leben, das auf Freiheit, Demokratie, Solidarität und Rechtsstaatlichkeit aufgebaut ist.
INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT
KAPITEL 1: IDENTITÄT
KAPITEL 2: ILLUSION
KAPITEL 3: GESCHICHTE
KAPITEL 4: ENTSCHLOSSEN
KAPITEL 5: SOLIDARITÄT
KAPITEL 6: GELD
KAPITEL 7: LERNEN
KAPITEL 8: LEBENSART
KAPITEL 9: BALKAN
KAPITEL 10: KANDIDATEN
KAPITEL 11: ZERFALL
KAPITEL 12: KRIEG
KAPITEL 13: REFORM
KAPITEL 14: KLIMAWANDEL
KAPITEL 15: WECKRUF
VORWORT
Sommer 2020. Ein Virus bestimmt das Leben überall auf der Erde, es bedroht unsere Art des freien und grenzenlosen Lebens und es beschleunigt die globale Machtverschiebung in Richtung China. In Europa wird darüber gestritten, ob und wie wir gemeinsam aus der größten Wirtschaftskrise seit den verhängnisvollen 1930er Jahren kommen.
Sommer 1990. Überall im ehemaligen Sowjetblock entstehen Demokratien, für die in vielen Ländern schon jahrelang gekämpft wurde. Die Deutschen handeln mit den vier Siegermächten des Zweiten Weltkriegs die Details ihrer Wiedervereinigung aus. Am 3. Oktober tritt die Deutsche Demokratische Republik der Bundesrepublik Deutschland bei. Der Ost-West-Konflikt scheint für immer beendet. Manche träumen vom ewigen Frieden und immerwährender Demokratie.
Diese 30 Jahre zwischen 1990 und 2020 haben Europa grundlegend verändert, aber nicht unbedingt so, wie wir uns das nach dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 erhofft hatten. Der Beitritt von acht ehemals kommunistischen Staaten zur Europäischen Union im Jahr 2004 und drei weiteren 2007 und 2013 verlief plangemäß, auch die Wirtschaftskrise nach dem Lehman-Crash im Jahr 2008 überstanden EU und Euro mit Mühe, aber letztlich sehr ordentlich. Aber in einigen ehemals kommunistischen Ländern funktionierte die Metamorphose der Funktionäre zu Dienern des Rechtsstaats nur vorübergehend. Der Versuchung, mit zusehends autoritären Methoden zu regieren, erlagen vor allem die polnische Führungsschicht und Viktor Orbán in Ungarn.
Bei einem Besuch in Budapest Ende Februar 2020 erklärte mir der Politologe Ágoston Sámuel Mráz, Direktor des Orbánnahen Think Tanks „Perspective Institute“, warum der ehemals liberale Viktor Orbán den starken Staat will: „Ungarn muss nationale Kapitalisten erziehen, öffentliche Verträge sollen in erster Linie Ungarn bekommen. Im Westen gab es auch lange Vorteile für nationale Kapitalisten, die heimische Wirtschaft zu entwickeln.“ Und Mráz weiter: „Die Ungarn wollen eine schützende Hand des Staates.“ Ich traf damals aber auch die liberale EU-Abgeordnete Katalin Cseh, die mir von Orbáns Kampagne gegen unabhängige Journalisten erzählte und forderte, dass EU-Gelder verstärkt in die Gemeinden gehen müssten, wo sie kontrolliert werden können, anstatt zu Orbáns Freunden.
Der Besuch in Budapest sollte der Beginn von Gesprächen werden, um den Wandel der jungen Demokratien zurück zu autoritären Gesellschaften zu verstehen. Und ich wollte den Balkan bereisen, um zu sehen, wie diese Länder auf die Aufnahme in die EU vorbereitet sind. Dass alle Staaten des Westbalkan zu Europa und in die EU gehören, davon war und bin ich überzeugt, aus historischen und sicherheitspolitischen Gründen.
Anfang März dieses Jahres war ich in Tirana, wo ich noch einige begeisterte Europäerinnen und Europäer treffen konnte, dann wurden die Grenzen geschlossen. Die weitere Recherche fand mittels vieler Gespräche per Video-Call statt.
Die Pandemie änderte den Schwerpunkt des Buches. Es geht nicht mehr nur um die Geschichte der letzten 30 Jahre, um den auch in Westeuropa verbreiteten Rechtspopulismus und die Gefahr des Rückfalls in autoritäre, korrupte Strukturen. Nach dem Ausbruch von Covid-19 habe ich mich stark auf die Zukunft der EU konzentriert: Schaffen wir es, gemeinsam aus der Krise zu kommen? Verstärkt die Bekämpfung des Virus womöglich die Lust der Regierenden, den Rechtsstaat zu umgehen, auch im Westen? Wie soll der Aufnahmeprozess der Balkanstaaten weitergehen? Welche Gefahren drohen von außen, gibt es gar die Gefahr eines neuerlichen Krieges in Europa? Wie wird sich das im Juli in Brüssel beschlossene 1,8-Billionen-Euro-Paket der Europäischen Union auf den Zusammenhalt eines zusehends integrierten Staatenverbundes auswirken, der erstmals gemeinsame Schulden aufnimmt? Wird die EU Bestand haben, gar zu Vereinigten Staaten von Europa führen? Und wie wirkt die vielfältige Geschichte Europas nach, die die Menschen oft genug geteilt, durch den Nationalismus gegeneinander aufgehetzt und in Kriege geführt hat?
Auch hier spielt Ungarn eine besondere Rolle. In keinem anderen Land ist man so schnell beim Ersten Weltkrieg und dessen Folgen. Der starke Orbán spielt gerne das Opfer der Folgen von Trianon. Durch diesen Friedensvertrag hat Ungarn große Teile seines Gebietes verloren. Die Kleinen in Mitteleuropa müssten zusammenhalten, nicht nur die Visegrád-Gruppe mit Polen, Tschechien und der Slowakei, auch Österreich und einige Balkanstaaten sieht der Ungar als Teil einer Art „Mitteleuropäische Union“ autoritär regierter Länder gegen Frankreich und Deutschland. Feindbilder spielen in Europa plötzlich wieder eine große Rolle, nicht nur innerhalb der Nationalstaaten.
Beim viertägigen EU-Gipfeltreffen vom 17. bis 21. Juli 2020 war Orbán dann auch noch stolz darauf, dass die Einhaltung der Prinzipien des Rechtsstaats keine Auswirkungen auf Hilfszahlungen haben dürfe. Das war entlarvend, aber hier wird der Druck auf Orbán hoffentlich noch erhöht. Denn welches Signal sendet das an Balkanstaaten, die aus wirtschaftlichen Gründen der EU beitreten wollen, wo aber zum Teil Politiker regieren, die ihre alten, zum Teil korrupten Strukturen zum ewigen Machterhalt nutzen wollen? Und welches Signal geht davon aus, dass am Tag nach dem Gipfel der Chefredakteur der Website index.hu gefeuert wurde, einer der letzten Kritiker Orbáns? Die Pressefreiheit ist in mehreren Staaten in Gefahr, und damit die Demokratie. Auch das gehört zur Analyse Europas im Jahr 2020.
Die EU hat schon beim Zerfall Jugoslawiens wenig Verständnis für die besonderen historischen Bedingungen des Balkan gezeigt, diese Fehler dürfen nicht noch einmal gemacht werden. Albanien und die noch nicht in der EU angekommenen Staaten Ex-Jugoslawiens gehören zu Europa, ihre Führungsschicht muss aber die Regeln und Werte anerkennen, wenn sie ihre Länder in die Union führen will. Das Europäische Parlament wird hier hoffentlich noch ein kräftiges Wort mitreden, auch bei der Verteilung des Wiederaufbaufonds, die an die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit gebunden werden muss. Die Europäische Union wird mit ihren Werten von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten überleben, oder sie wird nicht überleben.
Und wir werden die massiven Veränderungen der Weltordnung nur gemeinsam, als wirtschaftlich starker und militärisch sicherer Kontinent überstehen. Die USA sind auf dem Rückzug aus Europa, eine Entwicklung, die ein Präsident Biden höchstens verlangsamen würde. Daraus ergibt sich, dass sich Europa selbst mehr um seine Sicherheit kümmern muss. China ist auf dem Weg zur Nummer eins, und zwar mit allen wirtschaftlichen, politischen und militärischen zur Verfügung stehenden Mitteln. Diese wirken oft freundlich, wie das Projekt der „Neuen Seidenstraße“, aber die Führung in Peking will damit auch Europa spalten. Russland soll unser Partner werden, aber nur zu klaren Bedingungen der Einhaltung des Völkerrechts, dazu gehört auch das Respektieren von Staatsgrenzen.
Die Briten sind aus der EU ausgetreten, weil sie wieder souverän sein wollen. Wie wenig sie das wirklich sind, zeigt uns das Verhalten Pekings in Hongkong und die Hilflosigkeit Londons. Premierminister Boris Johnson kann die Faust ballen und böse Briefe schicken, aber die Chinesen nehmen ihn, den Chef eines großen Landes mit Atomwaffen, nicht ernst. Ein vereintes Europa, das wirtschaftlich, politisch und militärisch wie eine Großmacht agiert, müssten sie akzeptieren.
Leider ist das eine Erkenntnis der Gespräche für dieses Buch. Krieg wird wieder möglich sein, und er wird wohl nicht mit einem Ansturm von Panzern oder Flugzeugen beginnen, sondern als hybrider Krieg mit Nadelstichen gegen demokratische Einrichtungen oder wichtige Infrastruktur. Dagegen können wir uns nur gemeinsam rüsten. Die Souveränität eines Nationalstaates ist pure Illusion, wahre Souveränität gibt es nur in einem starken, also einigen Europa.
Deshalb dieser Weckruf: 75 Jahre nach dem Ende des Zeiten Weltkriegs haben allzu viele Menschen in Europa, auch einige in den Staatskanzleien, nicht verstanden, dass alles auf dem Spiel steht: Frieden, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat.
Meine Kinder sind 15, 30 und 31 Jahre alt, ihnen und ihrer Generation ist dieses Buch gewidmet. Sie sollen in Frieden und Freiheit leben, so wie wir das durften. Und es ist gerade auch den jungen Leuten in den Staaten des Balkan gewidmet, deren Eltern und Großeltern noch das Trauma der grausamen Kriege der 1990er Jahre verarbeiten müssen, wo aber viele Jugendliche bereits über die Landesgrenzen hinweg zusammenarbeiten. Dabei brauchen sie mehr Unterstützung durch die EU. Das Bewusstsein dafür, dass wir auch eine gesunde Natur erhalten müssen, hat diese Generation viel stärker, als wir das hatten. Das EU-Programm ERASMUS hat viel geleistet, seit über 30 Jahren wurden über 4 Millionen Stipendien vergeben. Seit sieben Jahren gibt es auch ERASMUS+ für Lehrlinge, das leider noch zu wenig genutzt wird. Im Herbst 2019 wurden etwa 150 von rund 110.000 Lehrlingen ins Ausland geschickt. Vier Wochen Inter-Rail für alle 18-Jährigen würden viel zum gegenseitigen Verständnis beitragen. Immerhin finanziert die EU auf Initiative des Parlaments seit 2018 20.000 kostenlose Interrail-Tickets, die nach einer Ausschreibung vergeben werden.
Die Jugend Europas wird viel für den Zusammenhalt tun müssen, weil die Gefahren und Herausforderungen größer geworden sind. Die Populisten predigen Hass und Spaltung, weil sie davon profitieren, und nicht von funktionierenden Strukturen und wachsendem Wohlstand. Der Blick zurück zeigt ein Europa der Konflikte und Kriege, diese Geschichte müssen wir kennen. Dann wird der Blick nach vorne umso reizvoller, in ein Europa, in dem eine gemeinsame Identität immer selbstverständlicher wird.
Helmut Brandstätter, im August 2020
KAPITEL 1
IDENTITÄT
AUF DER SUCHE NACH DER EUROPÄISCHEN IDENTITÄT
„Es geht Deutschland auf Dauer nur gut,
wenn es Europa gut geht.“
Angela Merkel, 2020
Diesen Satz hat Angela Merkel Anfang April 2020, auf dem Höhepunkt der Corona-Krise, gesagt. Er war die knappe Antwort auf die Frage, ob und wie die reicheren Länder der Europäischen Union den ärmeren beim Aufarbeiten der Wirtschaftskrise helfen würden. Die Langzeitkanzlerin ließ keinen Zweifel daran, dass das Schicksal der Deutschen eng mit dem aller anderen Europäer verbunden ist, ja die Deutschen sogar vom Wohlergehen der anderen europäischen Staaten abhängig sind. Ihre Aussage klang wie ein Appell an die eigene Bevölkerung, jetzt nicht nur an Deutschland zu denken, sondern auch an diejenigen Länder, für die der Weg aus der beginnenden Rezession noch mühsamer werden würde. Der Satz steht auch symbolisch als Antwort auf die schon während der Krise gestellte Frage, ob die EU im Angesicht der großen Herausforderungen eher zusammenwachsen würde oder ob einige nationale „Führer“ die Chance nützen würden, sich und ihre jeweilige Regierung zu stärken und aus der EU wieder eine lose Wirtschaftsgemeinschaft ohne gegenseitige Verantwortung zu machen. Und schließlich wusste Angela Merkel, dass ihre Ansprache nicht irgendeine Sonntagsrede zu Europa sein konnte, weil die anderen Mitgliedstaaten der EU sehr genau darauf achten würden, was und wie viel die Deutschen zum Wohlergehen aller Europäer beizutragen bereit sein würden.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat noch während der Krise geschrieben: „Unsere Europäische Union – davon bin ich überzeugt – kann aus dieser Situation gestärkt hervorgehen, so, wie sie es nach jeder Krise in unserer Geschichte getan hat.“ Ein interessanter Hinweis, der Mut machen sollte, und ein realistischer noch dazu. Die EU hat wahrlich bereits einige bewegte Jahrzehnte hinter sich. Jean-Claude Juncker, der in über 30 Jahren in der Politik, vor allem als luxemburgischer Premierminister und als Präsident der EU-Kommission, viele politische Stürme erlebt hat, gab sich mitten in der Krise optimistisch: „Nach der Krise werden wir bessere Europäer sein.“
Aber wie definieren wir das Europäer- oder Europäerin-Sein? Wer verspürt eine europäische Identität, und kann diese durch eine Krise gefördert werden? Kann man nur als Staatsbürger eines EU-Landes Europäer sein? Sicher nicht.
Oft hilft ein Blick von außen. Der britische Banker Stephen Green, geboren 1948, hat im Jahr 2015 ein Buch geschrieben: The European Identity. Green hat unter anderem in Asien gearbeitet und war zwischen 2011 und 2013 Handelsminister in der konservativen Regierung von David Cameron. Ausgerechnet ein Brite hat uns – und seiner Nation – noch vor dem Brexit-Referendum dargelegt, was uns alle in Europa ausmacht: „Europa hat gemeinsame Interessen und wesentliche Werte, die durch die Jahre der Geschichte hart erobert wurden. Diese gemeinsamen Werte sind Teil der europäischen Botschaft. Andere Schichten der Identität, die auf Geschichte, Kultur und Sprache beruhen, werden weiter national, regional oder lokal definiert werden, und sie sind auch fundamental für das Selbstverständnis der Europäer. Diese gemeinsamen Werte der Europäer sind das Erbe von Ideen, die so überragende Persönlichkeiten wie Galileo, Erasmus, Descartes, Locke, Hume, Kant, Hegel, Darwin und viele andere erdacht haben. Aus den unterschiedlichen Perspektiven und ausgehend von vielen schmerzhaften Fehlentwicklungen und falschen Abzweigungen, die wir Europäer über Generationen gemacht und genommen haben, ist etwas grundsätzlich Bedeutendes für die Welt des 21. Jahrhunderts entstanden: eine Verpflichtung zu Rationalismus, Demokratie, individuellen Menschenrechten und Verantwortungsbewusstsein, Rechtsstaat, sozialem Mitgefühl und einem Verständnis für die Geschichte als dynamisch, offen und fortschrittlich. Und das verdient unsere Loyalität, das ist die Basis für einen europäischen Patriotismus.“ (Übersetzung durch den Autor) Wie recht er hat. Seine Definition eines „europäischen Patriotismus“ könnte uns über so manche Streitereien innerhalb der EU hinweghelfen.
Europa und die Europäische Union sind nicht Dasselbe. Europa ist der Kontinent, auf dem wir leben; die EU ist das erstmalige und deshalb so faszinierende Projekt, nach dem ewigen Kriegsgeschehen, das in zwei Weltkriegen gipfelte, eine Zone des Friedens zu gründen. Dennoch werden die EU und Europa im Folgenden manchmal synonym gebraucht werden, weil die EU bestimmend für die Zukunft Europas ist und sich auch Nicht-EU-Staaten wie die Schweiz an der Union und ihrem Binnenmarkt orientieren. Übrigens: Der Schweiz ist der Zugang zum Binnenmarkt der 27 EU-Länder viel wert. Sie zahlt rund 2 Milliarden Euro jährlich an die EU. Das ergibt sich aus Verträgen, die der Eidgenossenschaft Zugang zum EU-Binnenmarkt erlauben. Ein Zusammenhang ist völlig klar: Wenn die EU zerstört wird, dann wird das Leben in Europa wieder unsicherer und der Wohlstand wird in allen europäischen Ländern schrumpfen, nicht nur in den EU-Mitgliedstaaten. Das wissen auch die Schweizer Politikerinnen und Politiker, die der EU nicht beitreten wollen, aber auf eine starke Union setzen.
Auch innerhalb der EU sind die Unterschiede groß: Der Luxemburger Juncker glaubt an einen Lernprozess, an dessen Ende die europäischen Staaten geeinter auf künftige Herausforderungen reagieren werden. Sie könnten das gemeinsam besser als die Nationalstaaten allein, wie er im April 2020 in einem Interview mit der Tageszeitung Der Standard sagte. Es gab und gibt aber auch die zu erwartenden gegenteiligen Stimmen, wonach die EU an allem schuld sein musste, was nicht funktioniert. Als in der ersten Märzwoche an der deutsch-österreichischen Grenze Lastwagen mit medizinischer Schutzausrüstung festgehalten wurden, protestierte der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz und meinte, die EU müsse sich nach der Krise „eine kritische Auseinandersetzung gefallen lassen“. Derselbe Kurz, der zuvor selbst Grenzschließungen angeordnet hatte.
Die Europäische Union wird sich in den kommenden Jahren verändern, so viel steht fest. Aber wie? Werden wir mehr Solidarität und Gemeinsamkeit erleben – oder den Weg zurück zu den Nationalstaaten gehen? Diese können dann im besten Fall eine mehr oder weniger erfolgreiche Zollunion etablieren. Vielen, die jetzt den neuen Nationalismus herbeireden wollen, mit recht platten Worten, aber sehr tiefgehenden Emotionen, ist hoffentlich nicht bewusst, dass sie mit dem Feuer künftiger Konflikte oder gar Kriege spielen, sonst wäre ihr Bemühen noch schlimmer. Das Szenario, das die Folge des neuen Nationalismus wäre: ein zersplittertes Europa, in der Mitte das ökonomisch starke Deutschland mit mehr als 80 Millionen Einwohnern, dazu im Osten Europas Länder mit einer verblassenden Demokratie, viele junge Menschen in den Balkanstaaten ohne Perspektive, eine verstärkte Verarmung nicht nur in den südlichen Ländern, überall steigende Arbeitslosigkeit, ein aggressiver türkischer Präsident, dazu Islamisten, die auf dem Balkan immer aktiver werden und schließlich ein global engagiertes China, das zunehmend die Infrastruktur der EU kontrolliert und dadurch die Union spaltet. Dieses explosive Gemisch wäre eine Traumkonstellation für politische Zündler. Das wäre der Anfang vom Ende des friedlichen Europas, wie wir es kennen. Das und nicht weniger steht auf dem Spiel.
Um die drohenden Konsequenzen einer solchen Konstellation zu verstehen, muss man bei jener Generation nachfragen, die das alles tatsächlich erlebt hat: den übersteigerten Nationalismus gefolgt vom Hass, den Krieg mit mehr als 60 Millionen Toten und erst danach den gemeinsamen Aufbau eines erstmals friedlichen Europas.
„Nationalismus heißt Krieg. Krieg, das ist nicht nur
Vergangenheit. Er kann auch unsere Zukunft sein.“
François Mitterand, 1995
„Unsere Zukunft ist Europa –
eine andere haben wir nicht.“
Hans-Dietrich Genscher, 2015
Diese beiden Staatsmänner haben erlebt, wie schnell aus Abwertung Hass und aus Drohung Krieg werden kann. François Mitterand wurde 1916 in der Nähe der Stadt Cognac geboren, kam als Soldat in deutsche Kriegsgefangenschaft, ging als Mitarbeiter der Vichy-Regierung in den Widerstand, dann zu Charles De Gaulle, dem Präsidenten der Exil-Regierung, nach London und war zwischen 1981 und 1995 Staatspräsident. Das Bild, auf dem er und der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl am 22. September 1984 über den Kriegsgräbern von Verdun einander die Hand reichen, steht ikonografisch für die historische Tiefe der deutsch-französischen Freundschaft.
Diese beeindruckende Szene wirkte völlig spontan und war es auch, wie der Fotograf später erzählte. Beide Staatsmänner hatten in diesem Moment persönliche Erinnerungen: Bei der Schlacht von Verdun, im Nordosten Frankreichs, war Mitterand im Juni 1940 verletzt worden. Kohls älterer Bruder Walter war im Krieg gefallen.
Hans-Dietrich Genscher aus Halle an der Saale, einer Stadt, die im Lauf der Geschichte immer wieder zu einem anderen Reich oder Staat gehörte, trat im Jahr 1944 der NSDAP bei, war in amerikanischer Kriegsgefangenschaft, verließ 1952 die DDR und verhandelte im Jahr 1990 als Außenminister gemeinsam mit Helmut Kohl die deutsche Einheit. Schon Monate davor, am 30. September 1989, also vor dem Fall der Mauer, konnte ein sichtlich bewegter Genscher den DDR-Flüchtlingen in der Prager Botschaft mitteilen, dass sie in die Bundesrepublik ausreisen dürften. Auch ein Bild für die Geschichtsbücher.
Diese beiden Männer stehen für eine Generation, die alles erlebt hat: Diktatur, Krieg, Frieden, Wiederaufbau, Wohlstand und ein Europa, wie es zuvor nicht existiert hat. Beide Zitate stammen aus dem jeweils letzten Lebensjahr von Mitterand und Genscher. Da werden auch politische Alphatiere pathetisch, oder sie spüren, dass Frieden und Freiheit in Europa auf Dauer eben nicht selbstverständlich sein werden. So sind diese Sätze auch eine ebenso kurze wie präzise Bilanz des 20. Jahrhunderts.
Kriege wurden in Europa immer geführt, seit dem Entstehen der Nationalstaaten wurden diese immer blutiger und mit immer mehr Emotionen aufgeladen. Der Westfälische Friede von 1648 brachte immerhin erstmals die formale Gleichberechtigung der Staaten. Nach dem Dreißigjährigen Krieg erkannten die Staaten einander als Träger politscher Herrschaft an. Otto von Bismarck erklärte das Deutsche Reich, das er nach dem Krieg gegen Frankreich 1870/71 zu einem späten Nationalstaat machte, für saturiert, doch Kaiser Wilhelm II. reichte das nicht. Er wollte ein Weltreich mit einer großen Flotte. Dieser Traum ging im Ersten Weltkrieg unter, Hitler setzte mit dem Zweiten Weltkrieg nicht nur die ganze Welt in Brand, sondern zerstörte mit seinem Wahnsinn auch die mühsam erreichte Einheit der Deutschen in einem Staat.