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Irrlichter und Spökenkieker

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Helga Licher

Irrlichter und Spökenkieker

Roman

XOXO Verlag

Impressum

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Print-ISBN: 978-3-96752-185-6

E-Book-ISBN: 978-3-96752-669-1

Copyright (2021) XOXO Verlag

Umschlaggestaltung & Buchsatz: Grit Richter, XOXO Verlag

unter Verwendung der Bilder:

Stockfoto-Nummer: 571299529, 1902593308

von www.shutterstock.com

Hergestellt in Bremen, Germany (EU)

XOXO Verlag

ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH

Gröpelinger Heerstr. 149

28237 Bremen

Alle Personen und Namen innerhalb dieses Buches sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

1

Pfarrer Harms hatte es eilig.

Die letzte Ölung beim alten Christiansen hatte viel mehr Zeit in Anspruch genommen, als ihm lieb war.

Bereits seit Stunden wurde er auf dem Knudtsenhof erwartet und Harms wusste genau – Ole Knudtsen konnte sehr ungnädig werden, wenn man ihn warten ließ.

Hastig lief der Pfarrer den Feldweg entlang, der zur Hauptstraße führte. Von dort war es nur noch ein kurzer Fußmarsch bis nach Oldsum. Zu allem Überfluss hatte es inzwischen zu regnen begonnen und die halblangen, dünnen Haare des Pfarrers klebten zerzaust an seiner Stirn. Mit einer ungeduldigen Handbewegung strich er eine Haarsträhne zurück und schlug den Kragen seines langen, schwarzen Mantels hoch.

Gewöhnlich war er mit seinem Fahrrad unterwegs, aber irgendjemand hatte ihm in der vergangenen Nacht einen Streich gespielt und die Luft aus den Reifen gelassen. Die Luftpumpe war unauffindbar, und so musste sich der Pfarrer zu Fuß auf den Weg machen.

Einen Augenblick lang blieb er an der Kreuzung stehen und ließ seinen Blick über das weite Deichvorland schweifen.

»Hier hat unser Herrgott sein Meisterstück geschaffen«, murmelte er und schlug die Richtung nach Oldsum ein.

Äußerst misstrauisch waren die Oldsumer ihm gegenübergetreten, als er nach seiner Ordination das Pfarramt in der St. Laurentii Gemeinde übernahm. Doch schon bald hatte er durch seine hilfsbereite und bodenständige Art das Vertrauen der Dorfbewohner gewonnen.

Das 800 Jahre alte Gotteshaus der St. Laurentii Kirchengemeinde, welches fortan seine Wirkungsstätte sein sollte, befand sich inmitten des Friedhofes der Orte Oldsum und Süderende. Das Geläut der bronzenen Kirchenglocken war weit über die Insel zu hören, wenn sie mit ihrem satten Klang zum sonntäglichen Gebet riefen.

Während Oldsum im 17. Jahrhundert von Walfängern und Fischern besiedelt wurde, ist das Ortsbild heute von schmucken, reetgedeckten Bauernhöfen geprägt. Duftende Gärten säumen die schmalen Straßen.

Wenn man die Hauptstraße entlang, etwa bis zur Dorfmitte geht, dort wo die alte Windmühle steht, sieht man schon von weitem den stattlichen Hof der Familie Knudtsen.

Der Knudtsenhof ist bereits seit über hundert Jahren im Besitz der Familie, und selbst die Sturmflut im Jahre 1825 konnte dem prächtigen Bauernhof nichts anhaben. Vielen Oldsumern nahm die Flut damals ihr gesamtes Hab und Gut. Als die Deiche brachen und große Teile des Dorfes überfluteten, rechnete niemand mit dieser Katastrophe. Die Menschen wurden von den Wassermassen regelrecht im Schlaf überrascht. Die Familie Knudtsen zeigte sich damals sehr großzügig und nahm viele obdachlose Föhrer bei sich auf. Als der Jungbauer Ole Knudtsen den Hof von seinem schwerkranken Vater übernahm, hatte dieser es bereits zu bedeutendem Wohlstand gebracht und konnte mit Stolz auf eine lange Ahnenreihe zurückblicken.

Ole Knudtsen gehörte zwar zu den einflussreichsten Bauern der Insel, doch sein Leben war alles andere als leicht. Viele Schicksalsschläge hatte die Familie bereits verkraften müssen. Dabei war der Knudtsenhof vom Krieg nahezu verschont geblieben und die zerstörte Remise war dank der fleißigen Helfer schnell wieder aufgebaut, so dass der Hof bald in altem Glanz erstrahlte.

Die Schwierigkeiten, mit denen die Familie Knudtsen fertig werden musste waren anderer Art. Pfarrer Harms seufzte.

Nun gab es einen neuen Erdenbürger auf dem Hof.

Meta und Ole Knudtsen waren zum ersten Mal Großeltern geworden.

»Sieh dir die Kleine an, sie ist eine echte Knudtsen«, rief Ole, nachdem er seine Enkelin stolz dem Pfarrer präsentiert hatte. Alle Mitglieder der Knudtsen Familie hatten die gleichen dunklen Haare und feingliedrige, schmale Hände. Die braunen Augen gaben dem Mädchen ein besonders apartes Aussehen, und der wache Blick faszinierte jeden Besucher, der sich über die handgeschnitzte Eichenwiege beugte.

»Die geschwungene Mundpartie hat sie eindeutig von ihrem Vater«, sagte Oles Tochter Rieke und schaute ihren Mann Laas liebevoll an. Laas Klassen trug einen rostbraunen Anzug und ein tadellos weißes Hemd. Der leichte Bauchansatz wurde kaschiert von einer dunkelbraunen Weste, die mit drei Knöpfen geschlossen wurde. Die Arbeit in der Spedition erforderte stets seriöse Kleidung. Auch äußerlich war erkennbar, dass Laas kein Bauer war.

»Mein Enkelkind soll Stine heißen, wie meine Mutter«, verkündete der alte Knudtsen, nahm umständlich seine Brille ab und verstaute sie in der Brusttasche seiner Arbeitsjacke.

Lächelnd strich Meta ihrem Enkelkind zart über die rosigen Wangen.

»Ja Ole, Stine ist ein schöner Name«, sagte sie leise und schaute ihren Mann nachdenklich an. Tiefe Falten hatten sich in seine sonnengebräunte Haut gegraben, und an den Schläfen kräuselten sich die ersten grauen Haare. Alt ist er geworden, dachte Meta und seufzte.

Die harte Arbeit auf dem Hof hatte ihre Spuren hinterlassen. Oft plagten den Bauern heftige Rückenschmerzen, die jede Bewegung zur Qual werden ließen.

»Heute Abend gibt es Freibier für alle«, verkündete Ole laut, legte seinen Arm um die Bäuerin und drückte sie an sich.

»Jeder in Oldsum soll auf das Wohl unserer Stine trinken.«

Mit der freien Hand griff er nach seinem Glas und trank es in einem Zug leer. Beschämt trat Meta einen Schritt zur Seite, so dass der Arm des Bauern von ihrer Schulter rutschte. Wenn er doch nicht immer so viel trinken würde, dachte sie, wobei sie die Kömflasche unauffällig vom Tisch nahm, um sie in die Küche zu tragen.

»Als unsere Tochter Rieke geboren wurde, hat niemand auf ihr Wohl getrunken«, die Bäuerin konnte nicht verhindern, dass sich ihre Augen mit Tränen füllten.

Als Oles Frau Meta damals nach vier Fehlgeburten endlich einer gesunden Tochter das Leben schenkte, sah keiner dem Bauern seine Enttäuschung an, obwohl für ihn eine Welt zusammen brach.

Wie sehr hatte er sich einen Stammhalter für den Knudtsenhof gewünscht. Nächtelang saß er im Wirtshaus und ertränke seinen Kummer im Schnaps.

Meta, die heute zur Großmutter geworden war, fühlte damals, wie sehr der Bauer litt und zog sich immer mehr zurück. Wie gerne hätte sie dem Hof den ersehnten Erben geschenkt, doch das Schicksal wollte es anders. Oft sah man die Bäuerin mit dem Kinderwagen auf dem Friedhof von Süderende. Dort kauerte sie unter dem alten Holzkreuz, in ein Gebet vertieft.

»Sie spricht mit dem Kreuz«, raunte der Pfarrer der St. Laurentii Kirchengemeinde beim Frühschoppen Ole zu und machte ein besorgtes Gesicht. Der Bauer schüttelte lachend den Kopf.

»Komm Pfarrer, trink erst mal einen. Die Meta hat einen kleinen Spleen, das legt sich wieder, alles ganz harmlos…«

Doch Ole ahnte, ganz so harmlos, wie er dem Pfarrer weismachen wollte, waren die Spaziergänge auf dem Friedhof nicht.

»Sag Pfarrer, wann wollen wir unser Enkelkind taufen? Ein großes Fest soll es geben, mit Köm und Rum und Zwetschgenkuchen«

Mit vor Stolz geschwellter Brust schaute Ole in die Runde.

Es stand für ihn außer Frage – die Taufe seines ersten Enkelkindes musste gebührend gefeiert werden.

Der alte Harms besah sich den schlummernden Säugling in der Wiege und runzelte missbilligend die Stirn.

»Bei einer Taufe wird kein Alkohol getrunken, so will es der Brauch«, sagte er mürrisch.

»Ach Pfarrer…«, knurrte Ole, während er mit seinem Taschentuch die Schweißtropfen von seiner Stirn wischte.

In diesem Moment erklang aus der Wiege lautes Geschrei.

»Jetzt hast du Stine aufgeweckt«, sagte Laas vorwurfsvoll zu Ole und beugte sich zu seiner Tochter hinunter. Behutsam legte er seinen Daumen in die winzige Hand und beobachtete, wie Stine nach dem Finger griff und ihn fest umklammerte. Sofort beruhigte sich der Säugling, öffnete die Augen und schaute seinen Vater an.

Dem Knudtsen-Bauern wurde es warm ums Herz. Gerührt sah er zu, wie sein Enkelkind ganz leicht den Mund verzog und eine kleine Grimasse zog.

»Sie hat gelächelt…« sagte Rieke, wobei ihre Augen vor Glück leuchteten. Zart strichen ihre Finger über die blütenweiße Bettwäsche. Ole hätte sich gerne seine Pfeife angezündet, traute sich in Anwesenheit des Säuglings aber nicht. Nachdenklich setzte er sich in den Ohrensessel, der neben dem Ofen stand. Bald wird es wieder lebendig auf dem Hof, dachte er. Dann fiel sein Blick auf Meta, die sich leise mit Rieke unterhielt.

Trotz ihrer fünfzig Jahre war Meta noch immer eine schöne Frau. Aus den kleinen Lachfältchen, die ihr Mann so liebte, waren mittlerweile tiefere Falten geworden. Noch immer blinzelte sie mit den Augen, wenn sie aufgeregt war und biss sich leicht auf die Unterlippe, wenn jemand sie verunsichert hatte. Ihre graumelierten Haare trug sie meistens zu einem Knoten gesteckt. Nur abends, wenn sie ihr bodenlanges Nachtkleid anlegte, hingen die Haare offen bis auf die Schultern hinunter, wobei sie tatsächlich wieder jung aussah, wie in ihren Mädchentagen.

Als junger Bursche war Ole bei den Mädchen auf der Insel sehr beliebt gewesen. So manche Deern im heiratsfähigen Alter warf ihm vielsagende Blicke zu, wenn abends auf der großen Diele getanzt wurde. Er aber hatte nur Augen für die junge Meta Ahrends, die vom Festland gekommen war, um auf Föhr als Lehrerin zu arbeiten. Meta hatte dunkelblonde Haare und lustige Sommersprossen auf der Nase, die Ole besonders gut gefielen. So dauerte es nicht lange, bis der Bauernsohn die hübsche Meta als seine Frau auf den Knudtsenhof holte.

Die ersten Jahre ihrer Ehe verliefen glücklich und harmonisch. Ole liebte seine Frau maßlos und las ihr jeden Wunsch von den Augen ab. Zunächst zeigte Meta großes Interesse an der Landwirtschaft, doch immer häufiger ließ sie ihren Mann die Stallarbeit alleine erledigen. In dieser Zeit entstanden die ersten kleinen Gedichte, die sie liebevoll mit kleinen Zeichnungen versah.

Sein Blick ruhte noch immer auf Metas Gesicht. Laas beugte sich zu ihr, sagte etwas und Meta lächelte. Ole hatte sie viel zu selten lächeln sehen …

»Meta hat die Schwermut von ihrer Mutter geerbt«, hatte der Pfarrer einmal gesagt. »Auf dem Festland war die alte Frau Ahrends als Heilerin bekannt, sie hatte einen Pakt mit dem Teufel«, fuhr er flüsternd fort.

Der Bauer reagierte damals sehr verärgert und wies den alten Harms scharf zurecht. Doch seine Gedanken wollten sich einfach nicht mehr beruhigen.

Hatte der Pfarrer Recht?

2

Die kleine Stine entwickelte sich zu einem prachtvollen Kleinkind. Mit ihren dunklen Augen blickte sie neugierig in die Welt. Rieke band ihr oft kleine, rote Schleifchen ins Haar, die Stine gar nicht mochte. Mit einer unendlichen Hartnäckigkeit versuchte sie immer wieder sich von diesen Bändchen zu befreien.

So oft es ging verbrachte Rieke Klassen die Nachmittage auf dem Hof ihrer Eltern. Sie sorgte rührend für ihr Baby, obwohl Meta die innige Verbundenheit einer jungen Mutter zu ihrem Kind vermisste. Stets hielt Rieke eine gewisse Distanz zu ihrem Kind. Meta dachte daran, dass auch sie die körperliche Nähe zu ihrer Tochter nur schwer ertrug. War es den Knudtsen-Frauen nicht gegeben Mutterliebe zu zeigen?

»Die Zeit wird es richten«, sagte Meta sich und schloss ihr Enkelkind in ihr Abendgebet ein.

Die ersten Frühlingsstürme waren in diesem Jahr ausgeblieben. Langsam drangen zaghafte Sonnenstrahlen durch die Nebel, die vom Meer kommend über die Insel zogen. Durch das alte Buchenlaub des vergangenen Jahres, das den Waldboden wie ein Teppich bedeckte, lugten bereits die gelben Spitzen der Osterglocken.

Die kleine Stine Klassen hatte ihren ersten Geburtstag gefeiert. In einem hübschen Kleid aus rosafarbenem Batist saß sie bei ihrer Mutter auf dem Schoß und ließ sich den Geburtstagskuchen schmecken. Meta schaute in Gedanken versunken auf Mutter und Tochter und dachte daran, wie sehr Rieke sich in den letzten Jahren verändert hatte.

Aus einem schüchternen, jungen Mädchen war eine erwachsene Frau geworden. Schade, dass sie so gar nichts aus sich macht, überlegte die Bäuerin. Dabei hat sie ein so hübsches Gesicht.

Ihre zierliche Figur versteckte Rieke oft unter viel zu weiten Kleidern und ihre Hände und Füße machten einen eher ungepflegten Eindruck. Rieke erklärte diese Nachlässigkeit stets mit Zeitmangel.

»Hast du eine Ahnung, wie viel Arbeit ein kleines Kind macht?«, sagte sie oft vorwurfsvoll zu ihrer Mutter.

Meta konnte über diesen Einwand nur lachen.

»Ich habe auch ein Kind großgezogen. Hast du das vergessen?«

Als Kind hatte Rieke selten die Gesellschaft anderer Kinder gesucht. Sie liebte es ihre Zeit in der Kirche zu verbringen. Dort nahm sie an den Gottesdiensten teil und ging dem Küster Rickmers zur Hand.

Der Bauer beobachtete die Entwicklung seiner einzigen Tochter mit Unwillen.

»Das Mädchen soll im Haushalt helfen und nicht ständig in die Kirche rennen. Sie wird einmal diesen Hof erben, ich will keine Betschwester zur Tochter.«

Meta beruhigte ihren Mann und dachte daran, wie sehr auch sie jeden Sonntag die Seelenruhe und absolute Stille in der Kirche genoss.

Rieke beendete die Schule mit einem hervorragenden Zeugnis und äußerte den Wunsch, in einem Krankenhaus auf dem Festland zu arbeiten.

Ole Knudtsen jedoch durchkreuzte die Pläne seiner Tochter, und so erlernte Rieke schließlich in der Schneiderei Ennen den Beruf der Weißnäherin.

»Eine Bäuerin muss nähen können, so kannst du viel Geld sparen, nicht wahr Mutter?«, sagte er selbstgefällig.

Rieke tat das, was ihre Eltern von ihr erwarteten. Schneider Ennen war mit dem Mädchen sehr zufrieden, und seine Kunden mochten Riekes besonnenes, natürliches Wesen. Die Jahre vergingen, und es kam der Tag, an dem Laas Klassen in Oldsum auftauchte.

Er kam vom Festland und hatte die Aussicht, bei einem Fuhrunternehmer im Ort eine Anstellung zu bekommen. Laas war ein fülliger, junger Mann mit einem runden, freundlichen Gesicht. Er war von der Knudtsen-Tochter sehr angetan und umwarb sie nach allen Regeln der Kunst. Rieke zierte sich zunächst ein wenig, doch schließlich fand sie Gefallen an dem Burschen vom Festland.

Während dieser Zeit blühte das Mädchen förmlich auf.

Der Bauer registrierte die Veränderung seiner Tochter argwöhnisch und machte der Bäuerin heftige Vorwürfe.

»Du wirst dafür sorgen, dass sie diese Liebschaft beendet«, befahl er und sah Meta böse an. »Rieke wird einen Bauern heiraten, der unseren Hof übernehmen kann und nicht diesen Tagelöhner. Außerdem dulde ich es nicht, dass meine Tochter in diesem aufreizenden Gewand herumläuft!«

Meta kannte ihren Mann nur zu gut. Ein Gespräch mit Rieke war unumgänglich …

Als aber dann Laas eines Tages auf dem Knudtsenhof erschien und um Riekes Hand anhielt, konnte auch Meta die Katastrophe nicht mehr verhindern.

Der Bauer tobte und warf den Bewerber kurzerhand vom Hof.

»Dieser Erbschleicher wird meine Tochter nie heiraten, er soll verschwinden«, schrie er und rannte wutentbrannt aus dem Haus.

Als er Stunden später zurückkam, hatte sich nicht nur seine Laune, sondern auch seine Einstellung dem Klassen-Sohn gegenüber geändert.

In einem vertrauten Gespräch mit dem Schuster Nansen hatte Ole Knudtsen erfahren, dass Laas Klassen, zwar kein Bauernsohn aber durchaus eine »gute Partie« war. Sein Vater war der Inhaber einer großen Spedition auf dem Festland und Laas sein einziger Erbe. Auf Wunsch des Seniors sollte Laas sich in anderen Unternehmen mal den »Wind um die Nase« wehen lassen und Erfahrungen in seinem Beruf sammeln.

In Oldsum wurde Oles Sinneswandel nur belächelt. Jeder wusste, was den Bauern dazu bewogen hatte.

Die prunkvolle Hochzeit der Knudtsen-Tochter mit dem Spross der Klassen-Dynastie wurde an einem Sonntag im September gefeiert.

Rieke verbrachte zwar immer noch sehr viel Zeit in der Kirche und auf dem Friedhof, aber die Liebe ihres Mannes

tat ihr gut, das spürte Meta.

Nur dem aufmerksamen Beobachter wäre zu diesem Zeitpunkt aufgefallen, dass Riekes Fröhlichkeit allmählich einer tiefen Nachdenklichkeit gewichen war.

3

Auf dem Knudtsenhof begann die Weidesaison.

Das Milchvieh wurde auf die umliegenden Weiden getrieben, und Meta bestellte ihren Gemüsegarten.

Meta und Rieke saßen auf der Bank unter der alten Buche und schauten Stine beim Spielen zu.

Die Bäuerin genoss es, die kleine Stine aufwachsen zu sehen.

»Kinder werden so schnell groß«, stellte sie fest und fuhr fort: »Bald wird sie laufen können, du wirst sehen.«

Vorsichtig versuchte Stine einige bunte Bauklötze zu einem Turm aufzustapeln. Immer wieder griff sie mit ihren winzigen Händen nach den Steinen und jauchzte laut, wenn der Turm zusammenfiel.

»Siehst du die kleine, senkrechte Falte auf ihrer Stirn?«, fragte Meta und schaute ihre Enkelin prüfend an.

»Stine sieht dir sehr ähnlich, besonders wenn sie lacht«, fuhr Meta fort. »Sie ist viel weiter entwickelt als andere Kinder ihres Alters. Es wird nicht mehr lange dauern, dann spricht sie die ersten Worte.«

Die Bäuerin wandte sich lächelnd an ihre Tochter.

Doch Riekes Augen glänzten fiebrig und ihre Hände waren zum Gebet gefaltet.

Als Meta sie noch einmal ansprach, erschrak sie heftig und sprang verwirrt auf. Hastig riss sie die kleine Stine an sich und lief ins Haus.

Meta beobachtete das Verhalten ihrer Tochter mit Entsetzen. Es war ihr nicht entgangen, dass Rieke sehr nervös reagierte, wenn man sie unvermittelt ansprach. Manchmal schien sie mit ihren Gedanken in einer anderen Welt zu sein. Aber da die kleine Stine ein sehr lebhaftes Kind war, und Rieke ihre Mutterpflichten stets gewissenhaft erfüllte, verdrängt Meta ihre Bedenken und erklärte Riekes seltsames Verhalten mit der ganz normalen Überforderung einer jungen Mutter.

Laas Klassen hatte sich in dem kleinen Fuhrbetrieb schnell unentbehrlich gemacht. Er verbrachte immer weniger Zeit zu Hause. Überstunden waren an der Tagesordnung, und so bemerkte er viel zu spät, dass seine Frau immer eigenbrötlerischer wurde und ihren Pflichten als Hausfrau und Mutter irgendwann nur noch sporadisch nachkam. Rieke begann von Erscheinungen zu sprechen und verschwand manchmal stundenlang, ohne dass jemand wusste, wo sie war. Laas ertrug geduldig das seltsame Verhalten seiner Frau. Pflichtbewusst versorgte er in seiner knapp bemessenen Freizeit seine Tochter Stine. Doch Meta sah mit großer Sorge, wie Rieke sich immer weiter von ihrer Familie entfernte und sich irgendwann kaum noch um ihren Mann und ihr Töchterchen kümmerte. Die Oldsumer beobachteten das sonderbare Verhalten der Rieke Klassen argwöhnisch. Einige lachten, andere zeigten mit dem Finger auf sie.

»Rieke spinnt, das hat sie von ihrer Mutter. So was vererbt sich, würde mich nicht wundern, wenn die lütte Stine auch schon einen Spleen weg hat«, sagte der alte Hinrichsen am Stammtisch hinter vorgehaltener Hand.

»Ich habe sie neulich an der alten Mühle gesehen. Sie hatte keine Schuhe an. Mit bloßen Füßen hüpfte sie in den Wasserpfützen herum.« Die Kellnerin aus dem Krog war entsetzt.

Ole tat zwar so, als ob er die Sticheleien der Oldsumer nicht wahrnahm, aber das Gerede seiner Stammtischbrüder verletzte ihn sehr.

Immer wieder versuchte Meta mit ihrer Tochter zu sprechen, um ihr einen Umzug aufs Festland nahe zu legen, doch Rieke wich stets aus.

»Warum willst du nicht einsehen, dass es für euch das Beste ist? Deine Schwiegereltern wären froh, wenn sie durch euch entlastet würden. Laas kann im Geschäft seiner Eltern arbeiten und du kümmerst dich um Stine«, hatte Meta gefleht. Rieke jedoch hatte trotzig den Kopf geschüttelt und sich jede Einmischung in ihr Leben verbeten.

Vielleicht wäre dieser Umzug eine Lösung gewesen, und die kleine Familie hätte in einer Umgebung, wo niemand Rieke Klassen kannte, endlich Ruhe gefunden. Doch Meta ahnte zu diesem Zeitpunkt bereits innerlich, dass sie das Schicksal nicht mehr aufhalten konnte.

Zunächst versuchte die Bäuerin ihre Sorgen und Befürchtungen vor Ole zu verheimlichen. Doch es dauerte nicht lange, da traf der Bauer seine Tochter Rieke alleine am Dorfteich an. Sie stand mit den Füßen im Wasser und sprach laut vor sich hin. Den wirren Blick ihrer Augen sollte der Bauer sein Leben lang nicht mehr vergessen.

Noch am gleichen Abend holte Ole Knudtsen die kleine Stine auf seinen Hof.

In den ersten Wochen besuchte Laas Klassen seine Tochter regelmäßig, doch mit der Zeit sah man ihn häufiger im Wirtshaus als auf dem Knudtsenhof. Rieke wurde noch einige Male am Dorfteich und auf dem Friedhof in Süderende gesehen, dann verlor sich vorerst ihre Spur. Tagelang suchten Ole und Laas nach der jungen Frau, doch diese blieb verschwunden. Laas kehrte Oldsum schließlich den Rücken und ging zu seiner Familie aufs Festland zurück.

Immer wieder gab es Gerüchte darüber, dass auch Rieke Föhr verlassen hätte und auf der Nachbarinsel Amrum leben würde. Doch Nachforschungen, die Ole zunächst noch anstellte, liefen ins Leere. Als man, an einem düsteren Herbsttag, Rieke Klassens Leiche aus dem Hafenbecken von Wyk zog, war Stine gerade drei Jahre alt geworden. Für Meta brach eine Welt zusammen. Sie fragte sich ununterbrochen, ob sie dieses Unglück, das sie doch vorausahnte, hätte abwenden müssen. Hatte es untrügliche Zeichen gegeben, die sie nicht begriff? Ole begann zu trinken und verbrachte seine Abende kaum noch zu Hause. Auf Fragen und Beileidsbekundungen reagierte er sehr abweisend und aggressiv.

»Jeder kriegt das, was er verdient«, raunte er, als der Wirt vom Krog ihm sein Bedauern aussprach.

Schließlich wusste jeder in Oldsum von dem angespannten Verhältnis des Knudtsen-Bauern zu seiner Tochter. Die Gespräche am abendlichen Stammtisch im Dorfkrug drehten sich in den folgenden Wochen nur um ein Thema.

»Er hat sie in den Tod getrieben!«, behauptete der Apotheker und machte ein bedeutungsvolles Gesicht.

»Na ja, Rieke war ein bisschen wunderlich. Das hat sie von ihrer Mutter. Wir können nur für die kleine Stine beten. Ole hat es schon nicht leicht mit seinen Frauen. Ich kann ihn gut verstehen.«

Der alte Hinrichsen schüttelte bedauernd den Kopf.

»Die Leiche war in einem schrecklichen Zustand. Fast hätten wir sie nicht erkannt. So was möchte ich nicht noch einmal sehen.«

Der Polizist Walter Eggers verzog angewidert sein Gesicht.

»Lieg du mal so lange im Wasser …«, murmelte Hinrichsen.

Tagelang war die Polizei auf dem Knudtsenhof ein- und ausgegangen um nach Antworten auf die vielen Fragen zu suchen, die sich auch die Menschen in Oldsum stellten. Die Leiche war so stark verwest, dass die Todesursache und der Zeitpunkt ihres Sterbens von der Polizei nicht mehr festgestellt werden konnten. Es wurde noch eine Weile in verschiedene Richtungen ermittelt, doch neue Ergebnisse gab es nicht.

Drei Tage nach Weihnachten wurde die Akte »Rieke Klassen« endgültig geschlossen.

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