Dunkel und Licht

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Dunkel und Licht
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Vorwort

Zu den besonders befriedigenden Momenten in meiner psychotherapeutischen Arbeit gehörte es, wenn Menschen Zugang fanden zu ihren bis dahin verdrängten prägenden Erfahrungen der Kindheit und wenn diese „Aufdeckung“ einen wichtigen Beitrag zur Heilung leisten konnte. Manche meiner Patienten hatten nicht nur Schlimmes, sondern Furchtbares erleben müssen und ich habe sie bewundert dafür, wie sie trotzdem ihr Leben meisterten. Neben Kriegserlebnissen, Überfällen, Unfällen, Schicksalsschlägen oder Ähnlichem, waren es Vergehen und Verbrechen nahestehender Menschen an ihnen als unschuldigen Kindern, die sie ihr ganzes Leben lang schwer belasteten.

Es ist nicht Aufgabe der Psychotherapie und es gab meistens für mich und meine Patienten auch keine Möglichkeit, in solchen Fällen für Gerechtigkeit zu sorgen, indem die Täter zur Rechenschaft gezogen wurden. Aber das war schwer auszuhalten, besonders, wenn es Täter gab, die in der Öffentlichkeit standen und für ihre Verdienste ums Gemeinwohl geehrt wurden, während ihre Opfer ums Überleben kämpften.

Den Opfern widme ich diese Erzählungen, den Tätern wünsche ich Gerechtigkeit andernorts.

Die Darstellung der Krankheitsverläufe, Behandlungen und Therapiebesprechungen in diesem Buch orientiert sich an der beruflichen Realität, wie ich sie in meiner Zeit als Psychotherapeut erlebt habe, doch die Handlung ist frei erfunden! Die Erzählungen geben einen Einblick in den Beruf einer Psychotherapeutin und in das Leben einiger ihrer Patienten. Es werden nebenbei einige Vorgehensweisen und Grundlagen der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie veranschaulicht.

Selbstverständlich sind auch alle Personen frei erfunden und Namensgleichheiten wären reiner Zufall! Ich wollte keinen meiner „Fälle“ beschreiben, aber mehrere meiner Patienten hatten ähnliche Symptomatiken und ähnliche Lebensschicksale. Das ist nicht verwunderlich, da Angststörungen, Somatisierungen, posttraumatische Syndrome, depressive und schizophrene Erkrankungen in jeder Psychotherapiepraxis eine wichtige Rolle spielen.

Natürlich waren bei mir auch viele Patienten mit ganz anderen Problemen und viel weniger kritischen Kindheitserfahrungen!

Hier, wie in allen meinen Büchern, verwende ich aus Gründen leichterer Schreib- und Lesbarkeit die traditionellen männlichen Formulierungen (z.B. Patient statt Patient/in), auch wenn aus dem Zusammenhang klar wird, dass damit beide Geschlechter gemeint sind. Ich hoffe, das wird mir nachgesehen und nicht als störend erlebt.

Helfried Stockhofe

Die Vergifteten

1

Träuschling. Eigentlich kann ich mit meinem Namen zufrieden sein. Dr. Träuschling klingt doch blöd, oder? Der Doktortitel war überflüssig. Doktortitel also nur, wenn es unbedingt sein muss! Aber Träuschling ist immer noch besser als Mist-Kahlkopf oder Mäuseöhrchen, dachte sich Träuschling, als er wieder einmal sein Pilzbuch durchblätterte. Wenngleich er zugeben musste, dass die beiden anderen Pilze doch mehr seinem Äußeren entsprachen. Aber halt, der Purpurgraue Träuschling hat doch auch eine gewisse Ähnlichkeit, stellte er amüsiert fest.

Träuschling gönnte sich den zweifelhaften Spaß, sich aus seinem Stuhl hochzuquälen, um sich vor den Spiegel zu stellen. Wenn er über sich selbst lachte, sah das freundliche Gesicht noch gar nicht so alt aus. Man ist so alt, wie man sich fühlt. Von allen blöden Sprüchen war das für ihn einer der blödesten. Warum um Himmels willen muss ich immer alles so genau nehmen? Sein Gesicht wurde ernst und er quälte sich mit schmerzenden Knien wieder zum Tisch zurück. Jetzt fühlte er sich alt.

Träuschling war sich sicher: Wegen seines Namens war er zu einem begeisterten Pilzsammler geworden. Namen prägen die Menschen. Leider lebte Träuschling nicht in einer von der Natur bevorzugten Pilzgegend. In den wenigen Wäldern rund um die Stadt pflegten auf den sauren Fichtenwaldböden nur bestimmte Pilzgattungen zu wachsen. Und im November dort noch einen Steinpilz zu finden, das grenzte schon an ein Wunder.

Es war ein riesiges Exemplar eines Fichten-Steinpilzes, Boletus edulis, uralt natürlich, ausgefranst und angenagt von allerhand Leben, aber noch stattlich gerade dastehend, Wind und Wetter trotzend, so, als ob auch der kommende Winter machtlos gegen diese Größe sein könnte. Vermutlich würde er nächstes Frühjahr noch dastehen und dem Rentner zeigen, wie zäh das Alter sein kann. Auf jeden Fall war klar, dass Träuschling diesen Pilz nicht mitnehmen würde. Er sollte in Würde seinem natürlichen Schicksal entgegensehen. Bei Träuschlings nobler Geste spielte auch die Überzeugung eine gewisse Rolle, dass dieser Pilz ohnehin nicht mehr genießbar war. Vermutlich war er Heimat und Nahrung für viele Tierchen, die den Eiweißgehalt dieses Nahrungsmittels zwar erhöhten, aber nicht Träuschlings Geschmack trafen. Er ging noch öfters an seinem Pilz vorbei und freute sich, wie standhaft und gleichmütig er ausharrte zwischen den dahinwelkenden Gräsern in seiner Umgebung.

Vielleicht hätte Träuschling anders gehandelt, wenn er es vorher gewusst hätte:

Eine Woche danach war nämlich das Schicksal des Unverwundbaren besiegelt! Auf einem großen Foto in der Zeitung sah Träuschling seinen Steinpilz in den Händen eines strahlenden alten Mannes: Was für ein Glück er gehabt habe, sagte der Alte, so ein Riesenexemplar, so spät im Jahr, eineinhalb Kilo schwer und durch und durch gesund...

Träuschling gehörte zu jener Generation junger Intellektueller, die Ende der 60er und in den 70er-Jahren den Regierenden und ihren Exekutivorganen in Demonstrationen schwer zu schaffen gemacht hatten. Und er fühlte sich noch heute wie ein 68er! Jetzt war er wieder in den 60ern, diesmal leider aufs Lebensalter bezogen... Und nun fühlte er sich eher reaktionär als revolutionär. Positiv ausgedrückt war er ein weiser Rentner, der nach seinen alten Werten lebte und ständig meinte, davon noch etwas an die Jungen weitergeben zu müssen. Und er sah in all den Lebensvollzügen um sich herum, selbst im Schicksal eines alten Pilzes, philosophische Parabeln, die er deuten oder zumindest psychologisch interpretieren musste. Leider fand er dafür nur wenige Zuhörer …

2

In derselben nebligen Herbstwoche, in der der Steinpilz sein jähes Ende fand - es war zu Beginn der ersten Adventswoche im Jahr 2013 - da geschah es, dass mitten auf einer beleuchteten Ausfallstraße der Stadt ein Radler von einem teuren schweren Auto angefahren wurde. Sein Rad hatte kein Licht, die Dunkelheit war schon längst über das Land gefallen und nur die Stadtstraßen widerstanden mit energiearmen orangefarbenen Straßenleuchten dem Schwarz der Nacht, konnten aber den undurchdringlich scheinenden Nebel nur in eine orangegelbe Suppe verwandeln, die den armen Radfahrer verschluckte. Das Auto fuhr schnell und der Radler hatte keine Chance: Er wurde zur Seite geschleudert und blieb schwerverletzt liegen.

Der Radler hieß Albert Schimmelpfand. Der 59-Jährige war ein seltsamer Kauz, ein Einzelgänger. Und wenn er samt Fahrrad im Sommer zwischen den großen Blutjohannisbeersträuchern gelandet wäre, die schon vor Jahren von Asylanten im Auftrag der Stadtverwaltung gepflanzt worden waren, hätte ihn vielleicht lange keiner gefunden – und es hätte keiner nach ihm gesucht, denn er wurde nicht vermisst. So aber war es Spätherbst und die Ziersträucher trugen keine Blätter, die einen Radfahrer verbergen könnten. Außerdem lag er noch vor diesen Sträuchern und sein Fahrrad lag sogar noch auf der Straße, wenn auch direkt am Straßenrand.

Eine alte Frau, die wegen des Nebels langsam und besonders weit rechts mit ihrem Auto daherschlich, übersah das nach dem Unfall auf der Straße liegende Fahrrad. Obwohl sie altersbedingt auch schwerhörig war, bemerkte sie, dass sie etwas überfahren haben musste. Danach bemerkte sie nur noch wenig. Zumindest konnte sie sich nicht mehr daran erinnern, dass sie angehalten, ausgestiegen und das demolierte Rad und auch den armen Albert entdeckt hatte. Dann war sie zurückgewankt, um sich geschockt ans Steuer zu setzen und mit letzter Kraft die Polizei zu rufen. Später war sie mit dem zweiten Rettungswagen direkt hinter dem Albert ins Krankenhaus gefahren worden. An all das konnte sie sich nicht mehr erinnern.

Albert lebte in einem alten Wohnwagen auf einem aufgelassenen Fabrikgelände. Um den Wohnwagen herum standen immer rostige Einkaufswägen, Holzkisten und große Abfalltüten, in denen Albert Gemüse und Salat anbaute. Er hatte ein absolutes Faible für eine autarke und freie Lebensweise. Im Innern des Wohnwagens stapelten sich neben einem türlosen Schrank mit alter Kleidung, viele Bücher, Zeitschriften und Kartons. Dazwischen lag eine Matratze. Zum Wohnwagen gehörten einige „Dependancen“: In einer Garage in der Nähe hatte Albert seine „Wohnküche“ installiert, also einen Gaskocher, Geschirr und eine Wanne zum gelegentlichen Spülen von Kleidung und Geschirr. Durch langes Tragen seiner Kleidung und Abschlecken seines Geschirrs sparte Albert aber viel Wasser. Denn das gesammelte Regenwasser brauchte er für seinen „Garten“. Sein Trinkwasser besorgte er sich aus einer öffentlichen Sanitäranlage, die zugleich sein „Bad“ war. Dorthin musste er eine Viertelstunde mit dem Rad fahren.

Ansonsten verließ Albert selten seinen Wohnwagen. Meist saß er, was keiner, der den „Penner“ nur vom Sehen kannte, vermuten würde, über seinen Büchern und Zeitungsartikeln! Ja, er war ein intelligenter Mann, der sogar Artikel schrieb, die er in manchen Zeitungen veröffentlichen konnte! Sein Interesse galt der Zeit des sog. Dritten Reichs und den Nachkriegsjahren, was aber nichts mit einer rechten Gesinnung zu tun hatte. Ganz im Gegenteil: Er galt zu recht als linker, leicht paranoider „Ökospinner“ bei seinen Lesern. Mit seiner Schreiberei verdiente er das wenige Geld, das er benötigte – das meiste für seine Bücher.

 

Albert und die alte Autofahrerin, die sein Fahrrad überfahren hatte, waren nun im Krankenhaus, der eine lebensgefährlich verletzt, die andere traumatisiert.

Aber der Verkehrsunfall brachte zwei weitere Menschen in Behandlung, die auch nicht mehr die Jüngsten waren, zwei Schwestern aus einer reichen, aber vor allem noblen Familie: Die eine war die Autofahrerin Magda Maller, die mit ihrem Mercedes den Albert angefahren und Fahrerflucht begangen hatte. Die andere war ihre ältere Schwester Reinhilde Sturm. Jede für sich suchte eine psychotherapeutische Praxis auf, also zwei verschiedene Praxen, aber die beiden schon etwas älteren Damen kamen vielleicht mindestens zwanzig Jahre zu spät. Doch besser zu spät als nie. Unter dem Druck der aktuellen Ereignisse schien eine psychotherapeutische Behandlung jetzt offenbar „alternativlos“. Keine der beiden wusste von diesem Schritt der anderen. Denn, obwohl sie Schwestern waren, mieden sie den Kontakt zueinander, so gut es eben ging. Trotzdem hatte die Reinhilde von dem Unfall ihrer Schwester Magda erfahren, weil sie deswegen zu ihren Eltern befohlen worden war, um im Kreis der Familie die Lage zu besprechen. Eine Familie muss ja schließlich zusammenhalten!

Die alten Eltern waren „die Zwickenbauers“, 94 und 93 Jahre alt und immer noch sehr rüstig. Die Zwickenbauers hatten eine Strumpffabrik, die früher vielen Menschen Arbeit gab. Der jetzt 94-jährige Adolf war nach dem Krieg in die Fabrik seines Vaters eingestiegen und hatte sie bis zu seinem 80. Lebensjahr geführt. Die letzten Jahre waren vom Niedergang geprägt, die Fabrik wurde geschlossen. Adolf mischte in der Stadt in vielen Vereinen und Gremien mit, galt als Wohltäter, war lange Stadtrat und wurde vor einigen Jahren zum Ehrenbürger gekürt. Er lebte mit seiner Frau in seiner „Villa“.

Die Frau spielte nie eine besondere Rolle, außer der der Gastgeberin und gelegentlichen Begleiterin ihres Ehemanns. Als Mutter zeigte sie Fürsorge für die Kinder allenfalls aus Pflicht- und Schuldgefühlen heraus, statt aus Liebe zu ihren Töchtern. Sehr bald schon hatte sie sich der Meinung ihres Mannes angeschlossen, dass die Kinder nicht das Leben der Eltern beschweren, sondern es erleichtern sollten. Glück und Freude angesichts ihrer beiden Töchter konnte sie nie empfinden.

Reinhilde Sturm war die älteste Tochter der Zwickenbauers. Sie war verheiratet, ebenso wie die zweite Tochter Magda Maller, die Unfallfahrerin. Beide lebten mit ihren Familien nicht weit entfernt von den Eltern und schauten regelmäßig, und immer abwechselnd, bei ihren noch erstaunlich rüstigen Eltern vorbei.

Magda erzählte den Eltern von dem Unfall, obwohl sie ihr Mann gewarnt hatte – und bereute es. Die vorher gesunden Zwickenbauers holten plötzlich Erkrankungen aus der Kiste fürs Alterskrankheiten, die sie bisher dort gut verwahrt hatten. Und sie machten Ärger, viel Ärger! Sie zeterten, dass die Ehre der Familie Zwickenbauer beschmutzt sei, und dachten nicht im Traum daran, ihre jüngere Tochter nach dem Unfall psychisch zu unterstützen. Daran hatten sie eh noch nie gedacht, dass Eltern ihre Kinder unterstützen sollten – außer finanziell natürlich. Nein, die Kinder haben sich um das Wohlergehen der Eltern zu kümmern, egal in welchem Alter!

Zu einem Geständnis der Unfallflucht bei der Polizei kam es vorläufig nicht. Aus Gründen der Ehre. Es hätte ja dem Schwerverletzten sowieso nicht geholfen... Außerdem galt vorerst eine alte Frau als Unfallverursacherin.

Magda Maller aber hatte ein Gewissen. Oder war es nur die Angst vor der Aufdeckung, die sie in Behandlung trieb? Vermutlich war es aber nur ihre Fahrangst, die sich nach dem Unfall entwickelt hatte. Und bei ihrer Schwester Reinhilde Sturm verschlimmerten sich alle ihre körperlichen Leiden so dramatisch, dass sie sich zu einer Psychotherapie von ihrer überforderten Hausärztin überreden ließ. Medizinisch wäre nämlich nichts mehr zu machen.

3

„Wenn du sie nicht nimmst, dann stirbt sie mir!“ Nadja legte sich mächtig ins Zeug, um Alina dazu zu bringen, eine ihrer Patientinnen in Psychotherapie zu nehmen. Die Psychotherapeutin Alina Winner war die Freundin von Reinhilde Sturms Hausärztin Nadja.

„Und wenn ich sie nehme, dann stirbt sie wohl nicht?“, erwiderte skeptisch Alina, der bekannt war, dass Reinhilde Sturm unter irgendeiner lebensgefährlichen internistischen Erkrankung litt.

Erstaunlicherweise stimmte Nadja gleich zu. Sie wusste, wie sie mit ihrer Freundin umgehen musste:

„Du hast Recht, Wunder kann man nicht erwarten. Und eigentlich stimmt´s: Nur ein Wunder kann diese Patientin noch retten. Ich verstehe schon, dass dich das unter Druck setzt.“

Und Alina Winner fiel auf die Finte herein. Denn wenn man mit einer Freundin spricht, dann hinterfragt auch eine Tiefenpsychologin nicht gleich mit psychologischen Hintergedanken das Gesagte!

„Ach was, du weißt doch, dass es uns Psychologen entlastet, wenn uns die Ärzte hoffnungslose Fälle schicken. Dann können wir nur noch gewinnen!“

„Ja, so kann man das auch sehen“. Nadja schmunzelte trotz der ernsten Lage ihrer Patientin in sich hinein. „Aber warum sträubst du dich denn gar so sehr?“

„Nun, weil ich mir vorgenommen habe, mich nicht von dir immer wieder breitschlagen zu lassen. Ich habe doch eh so viele Patienten!“ Aber noch während Alina das sagte, war ihr klar, dass sie ihren Vorsatz doch wieder aufgeben würde. Noch dazu, weil Nadja nachlegte: „Mensch, deine Position möchte ich haben. Ein Schild an die Tür hängen: Wegen Überfüllung geschlossen!“

Das klang bissig. Auch etwas neidisch. Alina kannte diesen Vorzug der Psychotherapeuten den Hausärzten gegenüber. Einen der wenigen Vorzüge, wie sie meinte. Aber noch einer fiel ihr ein: Wir können uns die Patienten aussuchen!, dachte sie. Aber das war alles so etwas wie ein Sachzwang und kein unzulässiges Privileg. Psychotherapeutisch arbeiten kann man nicht mit zu vielen und nicht mit zu ungeeigneten Patienten. Sie pflegte ihren Patienten immer zu verdeutlichen, welches Privileg sie hatten, nämlich, dass sie zu den Geeigneten gehörten, denen es gelungen war, einen Therapieplatz zu ergattern.

„Ich habe dir noch nicht erzählt, dass diese Patientin nicht zu den Hochmotivierten gehört“, begann Nadja wieder das Thema.

„Auch das noch!“, stöhnte Alina. „Du scheinst dir deiner Überredungskünste heute aber sehr sicher zu sein!“

„Nein, ich will dir nur meine Situation verdeutlichen“, wehrte sich Nadja. „Ich habe jahrelang an sie hingeredet, aber sie nie so weit gebracht wie jetzt.“

„Und warum könnte sie sich gerade jetzt Psychotherapie vorstellen?“

Und Nadja wusste die richtige Antwort: „Das muss irgendwie mit einem Unfall zusammenhängen. Sie hat da etwas angedeutet. Oder vielleicht doch mit ihrem letzten Besuch beim Internisten.“ Nadja machte es spannend.

„Was hat denn der Internist gesagt?“, fragte Alina.

„Eine weitere Operation sei nicht mehr möglich. Wenn der Darm sich nicht bewegt, dann werde die Patientin sterben!“ Und schon wieder machte Nadja eine Kunstpause und setzte eine sorgenvolle Mimik auf.

„Sie hat also eine Darmerkrankung … Mensch, Nadja, lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen!“

„Ja, ja. Eine jahrelang schon bestehende Atonie unbekannten Ursprungs und viele Operationen. Vom Darm ist nicht mehr viel übrig.“

„Und der bewegt sich nicht?“

Nadja nickte.

„Und das andere? Das mit dem Unfall?“, drängte Alina.

„Damit ist sie nicht so richtig herausgerückt.“

„Ja, wurde sie denn verletzt?“

„Nein, nein, der Unfall muss in der Verwandtschaft gewesen sein. Sie ist eine Tochter der alten Zwickenbauers. Du weißt schon, die Familie mit der Strumpffabrik, also der früheren Strumpffabrik.“

Dann schwieg Nadja. Sie schaute Alina nur noch treuherzig an. Wie der „ewige Stenz“: Schau Spatzerl, wie ich schau!

„Du bist einfach unwiderstehlich!“, sagte Alina lächelnd.

„Und du ein Schatz!“ reagierte Nadja erleichtert. „Ich habe der nämlich gesagt, dass ich sie nur zu der Besten schicke!“

4

Albert Schimmelpfand, der verunglückte Radfahrer, rang derweilen im Krankenhaus mit dem Tod. Vorsichtshalber schaute einmal ein Kommissar der Polizei vorbei, ob denn nicht bald mit einer Vernehmungsfähigkeit zu rechnen sei. Kommissar Flinker ging persönlich dort hin. Er nahm lieber alles selber in die Hand, wollte sich von allem selbst überzeugen, obwohl er sich gar nicht gerne in einem Krankenhaus aufhielt. Er hatte zwar keine Angst vor Ansteckung und auch keine eigenen schlechten Erfahrungen mit Kliniken gemacht, aber er wusste, dass ihn dort alle Leute mitleidig anschauen würden. Wer ihn nicht kannte, glaubte ihm anzusehen, dass seine auffallende Gesichtsblässe mit einer schweren Erkrankung zusammenhängen müsste, zumindest aber mit einer knapp überstanden langen Krankheit. Und genau solche Blicke wusste er auf sich gerichtet, als er durch die Krankenhausflure schlich.

Er kam umsonst, denn Albert war wirklich nicht vernehmungsfähig. Flinker hoffte, dass sich der Radler eines Tages an den Hergang des Unfalls würde erinnern können, denn er war sich nicht sicher, ob die alte Frau ihn wirklich angefahren hatte. Die Aussage, die er aus der Betagten herausholen konnte, sprach dafür, dass sie extrem langsam mit ihrem Auto unterwegs war, weil sie sich im orangegelben Nebel der Ausfallstraße völlig unsicher vorangetastet hatte. Und weil der Radfahrer ein Stück weg lag von seinem Gefährt, müsste ihn eigentlich ein schnelleres Auto angefahren haben. Die Kriminaltechniker würden das wohl bald herausfinden, da war er sich sicher.

Im Krankenhaus traf Flinker die Mutter des Radfahrers an. Ihm war da noch nicht klar, dass die Begegnung zwischen Mutter und Sohn ein sehr seltenes Ereignis war, denn der Albert wollte nichts wissen von seiner Mutter. Hier in der Klinik und in seinem Zustand konnte er sich jedoch nicht wehren gegen den unerwünschten Besuch. Nein, sagte die Mutter zu Flinker, sie kenne nicht diese alte Frau, die ihren Sohn angefahren habe. Und außerdem sei der Sohn sicher selbst schuld! Dann merkte sie, dass es wohl ungeschickt war, so mit dem ermittelnden Kommissar zu sprechen. Und so gab sie sich lieber tief betroffen und unfähig, weitere Aussagen zu machen.

Neben der Mutter bangte noch eine Schwester um das Leben des Albert Schimmelpfand. Sie war 5 Jahre älter und hieß Rosamarie. Sie war wohl das, was man eine Symptomträgerin im Familiensystem nennen könnte und sie galt, trotz des seltsamen Bruders, als die eigentlich Gestörte in der Familie. Sie war schon lange in psychiatrischer und psychotherapeutischer Behandlung und war wegen psychischer Erkrankungen frühberentet. Auch bei ihr war die Intelligenz kein Garant für ein gesundes Leben. Zu ihrer Mutter hatte sie „gelegentlich“ Kontakt, den Bruder sah sie noch seltener.

Es ist nicht bekannt, warum sie „Rosamarie“ hieß. Vielleicht war es ein Schreibfehler des jungen Standesbeamten, der in den Nachkriegsjahren seinem Vorgesetzten, dem Bürgermeister, ins Amt gefolgt war. Beim Bürgermeister war der Deckel löchrig geworden, den viele seiner Mitstreiter in der Stadt über seine Nazi-Vergangenheit gestülpt hatten. Als die nationalsozialistischen Aktivitäten ruchbar und die einstigen Verteidiger zu den schnellsten Anklägern wurden, kam der junge Standesbeamte ins Spiel.

Womöglich aber hatte Rosamaries Vater dem Standesbeamten den Namen so vorgegeben, nicht wissend, dass „Rosemarie“ die richtige Schreibweise ist. Oder war namensgebend die Hautfarbe des Säuglings, die der inzwischen 64-Jährigen ein Leben lang geblieben war? Keiner wusste es, nicht einmal die Mutter. So konnte man sie jedenfalls auch Rosa nennen. Am häufigsten war sie jedoch die Rosmarie, was ihr auch am liebsten war.

Kommissar Flinker begegnete in der Klinik auch der Rosamarie – und ihm gefiel ihre Hautfarbe.

5

Der Pilzkenner Träuschling kannte den alten Zwickenbauer nur von Bildern und vom Hörensagen. Er war kein Freund alter patriarchalischer Herrschaftsfamilien, sah nicht, was die alles Gutes getan hatten für die Stadt, sondern nur, wie man ihnen trotz ihrer Hochnäsigkeit in den Arsch kroch. Das war nichts für einen alten Revoluzzer. Und es machte ihm Spaß, wenn ihm die „Großkopferten“ einen Anlass gaben, sich über sie aufzuregen. Zum Beispiel mittels eines Leserbriefs in der Lokalzeitung.

Mit dem alten Zwickenbauer verband ihn die Leidenschaft für Pilze. Als er den Zwickenbauer mit seinem spätherbstlichen Steinpilz in der Zeitung sah, erinnerte er sich an einen Streit mit dem Alten:

 

Der Lionsclub hatte damals den Zwickenbauer soweit gebracht, einen Vortrag über Speisepilze anzubieten. Die Lokalzeitung druckte einen Artikel darüber, wie der damals noch nicht Alte seine Vasallen aufklärte. Und Träuschling konnte eine Nacht lang seine Argumente gegen Zwickenbauers Ausführungen ausfeilen und schließlich per Leserbrief veröffentlichen. Zwickenbauers Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Er hatte aber letztlich keine Chance gegen Träuschling. Dass der Streit völlig unsinnig war, bemerkte nur der „kleine Rest“ der Leserschaft. Die beiden Kontrahenten dachten, es sei jetzt das Wichtigste auf der Welt, ob das Schweinsohr oder der Schafporling schützenswert wären und auf dem Speiseplan des Pilzkenners stehen dürften. Nur daher kannten sich die beiden, gesehen hatten sie sich nie. Und nur in diesem Zusammenhang hatte Träuschling einmal das Gefühl, dass sein Doktortitel etwas wert war und seine Argumente unterstreichen konnte. Ansonsten hatte er ja schon längst begonnen, geflissentlich auf seinen akademischen Grad zu verzichten, ja er genierte sich dafür, diesen irgendwann einmal erworben zu haben. Besonders geschmerzt hat ihn sein Titel, als die Zeit kam, in der reihenweise die Doktorarbeiten bekannter Politiker sich als Plagiate entpuppten. Wie konnte er seinerzeit als junger Mann ebenso gierig sein auf diese Form der Kompetenzzurschaustellung? Beruflich gebraucht hatte er seinen Titel nie. Er war ein diplomierter Psychologe mit psychotherapeutischen Zusatzausbildungen und das reichte für alle seine beruflichen Alternativen, eine Universitätskarriere einmal ausgenommen. Als er später einmal eine eigene psychotherapeutische Praxis führte, begann seine Titel-Ablehnung. Das Eingebundenwerden in das System der Kassenärzte, regte in ihm seine Abgrenzungsbedürfnisse zu den Ärzten an. Er wollte keinesfalls mit einem Arzt verwechselt werden, war er doch stolz darauf ein Psychologe zu sein. Damit fühlte er sich per se in seinem Psychotherapiebereich den Ärzten überlegen. Die Ärzte konnten mit viel geringerem Ausbildungsaufwand zu „Ärztlichen Psychotherapeuten“ werden und dieselben Leistungen anbieten wie die „Psychologischen Psychotherapeuten“ und sie wurden dafür auch noch besser bezahlt. Nein, er war kein Arzt, er hatte sich alles hart erarbeitet und war hervorragend ausgebildet. Wehe, es sprach ihn jemand mit Herr Doktor an. Fast immer dachten die Patienten, er sei ein Arzt. Und die Unterschiede zwischen ärztlicher und psychologischer Psychotherapie interessierten die Patienten natürlich überhaupt nicht. Und mit den Jahren weiser geworden, musste Träuschling anerkennen, dass es auch weniger gut ausgebildete Ärzte gab, die bessere psychotherapeutische Arbeit leisteten als mancher Psychologe.

Er war immer überzeugt von der Qualität seiner Arbeit und konnte sich auch gut innerhalb des Systems verkaufen. So gehörte er in seinen mittleren Berufsjahren sogar Gremien der Kassenärztlichen Selbstverwaltung an, saß da in Ausschüssen mit Krankenkassen- und Arztvertretern zusammen. Von deren psychologischer Ignoranz angeekelt, stieg er aber bald wieder von dieser Karriereleiter und beschränkte sich ganz auf seine Praxis. Angeknockt von den Schicksalen und der intensiven Arbeit mit seinen Patienten und dem immer bürokratischer werdenden Kassenarzt-System, entschied er sich für einen frühzeitigen Ausstieg, gab seine Praxis ab und beschränkte sich in den letzten Jahren auf Supervisorentätigkeit für ausgewählte Kolleginnen und Kollegen.

6

„Meine Hausärztin hält ja große Stücke auf Sie!“, versuchte Reinhilde Sturm einen freundlichen Einstieg ins erste Gespräch mit ihrer Psychotherapeutin.

„Das freut mich. Ja, wir schätzen uns gegenseitig.“ Alina schaute die Neue lächelnd an und wartete. Aber von dieser kam nichts.

„Ist das denn wichtig für Sie, Frau Sturm?“, führte Alina das Gespräch weiter.

„Sie hat Ihnen doch sicher gesagt, dass ich eigentlich nichts von dem psychologischen Gerede halte!“, bekannte Reinhilde, die dieser in ihren Augen jungen Therapeutin gleich einmal zeigen wollte, dass sie sich nicht einem Goodwill unterzuordnen gedachte.

Na immerhin hat sie nicht Hokuspokus gesagt, dachte Alina.

„Die Ärztin ist aber fest davon überzeugt, dass unser Gerede für Sie lebensrettend sein kann!“, fuhr Alina ihr trotzdem gleich in die Parade.

Reinhilde stockte der Atem. Gerne würde sie ihre bedrohliche Erkrankung verdrängen. Und schon gar nicht hatte sie mit einer so direkten Therapeutin gerechnet.

„Und? Glauben Sie das auch?“, fragte Reinhilde.

„Wenn es Ihnen nicht so schlecht gehen würde und ich nicht glauben könnte, dass ich Ihnen helfen kann, hätte ich Sie nicht ins Gespräch genommen. Wir müssen ausloten, wie Psychotherapie die Lawine noch stoppen kann.“

So scharf wollte Alina es gar nicht formulieren, aber vermutlich war es richtig, der Neuen mit schweren Geschützen zu kommen. Dann setzte sie aber eine andere Betonung:

„Es hängt ganz von Ihnen ab. Sie müssen es sich hart erarbeiten, sich überwinden, darauf einzulassen. Schaffen Sie das?“

Das gefiel Reinhilde besser. „Hart arbeiten konnte ich schon immer. Aber auf was ich mich hier einlassen kann oder einlassen soll, weiß ich ja gar nicht.“ Und leiser fügte sie hinzu: „Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie durch Reden mein Darm wieder lebendig werden soll.“

„Sehen Sie, das hat mir gefallen!“, sagte Alina nun entgegenkommend, wenn auch etwas schulmeisterlich. „Mir gefällt, dass Sie von lebendig sprechen! Ich merke, dass Sie wirklich wissen, dass es um Totsein oder Lebendigsein geht!“

Reinhilde sprach auf das Lob an, obwohl sie nicht so recht wusste, warum sie es bekommen hatte. Sie fühlte sich bei der Therapeutin aber schon etwas sicherer.

Sie ahnte natürlich nicht, dass die Therapeutin damit vorbereitete, dass es bei ihrer lebensbedrohlichen Erkrankung auch ursächlich irgendwie um Leben und Tod gehen musste: Sie bringt sich nicht grundlos zu Tode, dachte Alina, da steckt Tod dahinter!

Reinhilde schwieg, wirkte nachdenklich. Alina führte das andere Thema ein.

„Da ist nun ja zusätzlich etwas passiert!“

„Ja? Aber ich weiß nicht, was Sie meinen.“

„Irgendein Unfall, hörte ich.“

„Ach so. Da hat Ihnen die Ärztin wohl etwas erzählt?“

Alina nickte.

„Das betrifft nicht mich. Es geschah in der Familie“, versuchte Reinhilde abzulenken.

„Sie wollen es mir nicht erzählen?“, lockte sie Alina.

„Vielleicht später. Nicht heute. Aber die ganze Familie war sehr betroffen.“

„Die ganze Familie? Wer ist das denn alles?“, stieg Alina nun in die Familienanamnese ein.

„Meine jüngere Schwester Magda …“

„Wieviel jünger?“, unterbrach die Therapeutin und signalisierte, dass sie mitschreiben wollte, indem sie einen Block zur Hand nahm. Reinhilde ließ sich gerne darauf ein. Über andere konnte sie jetzt leichter reden:

„Ich bin 1940 geboren, meine Schwester 1946. Meine Eltern sind jetzt 94 und 93.“

„So alt schon und noch rüstig?“

„Die beiden versorgen sich sogar noch alleine. Aber wir schauen öfters nach ihnen. Besonders seit sich die Mutter vor zehn Jahren den Oberschenkelhals brach.“

„Und eine eigene Familie haben Sie auch?“

„Mein Mann ist so alt wie ich, also 74, und unsere Kinder haben auch schon ihre eigenen Familien.“

„Und alle sind besorgt wegen des Unfalls.“ Alina konnte es einfach nicht lassen, im Geheimnis herumzustochern.

„Ja, und die Eltern regen sich auch auf, weil in ihrer Familie so etwas natürlich nicht vorkommen darf.“