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Mit Gottvertrauen im Gepäck
Der Verlag Hier und Jetzt wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016-2020 unterstützt.
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Kloster Baldegg
Einwohnergemeinde Waltenschwil
Ortsbürgergemeinde Waltenschwil
Katholische Kirchgemeinde Waltenschwil
Stadt Dietikon
Koch Berner Stiftung, Villmergen
Josef Müller Stiftung, Muri
Fondation Emmy Ineichen, Muri
José und Annamarie Meier-Haller, Waltenschwil
Beatrice Meier-Keusch, Waltenschwil
Elisabeth und Ueli Meier-Meier, Othmarsingen
Ruedi und Cilli Meier-Villiger, Arlesheim
Annemarie Schmid-Meier, Dottikon
Gabriela und Guido Arnet-Meier, Waltenschwil
Dominik Meier, Aarau
Thomas Meier, Waltenschwil
Beatrice Roos-Meier, Ennetbaden
Alleviamed AG, Meisterschwanden, Marcus Roos
Daniela und Robin Rothenbühler-Meier, Wettingen
Jürg Meier und Andrea Bittermann, Weiningen
Heinz Amgwerd, Wohlen
Josef Brem, Jonen
Alfons Meier, Waltenschwil
Dieses Buch ist nach den aktuellen Rechtschreibregeln verfasst. Quellenzitate werden jedoch in originaler Schreibweise wiedergegeben. Hinzufügungen sind in [eckigen Klammern] eingeschlossen, Auslassungen mit […] gekennzeichnet.
Umschlagbilder: Sr. Gaudentia im Gespräch mit Einheimischen auf dem Dorfplatz in Det, um 1980; die Krankenstation in Det, um 1977.
Lektorat: Rachel Camina,
Hier und Jetzt
Gestaltung: Naima Schalcher, Zürich
Satz und Bildbearbeitung: Benjamin Roffler, Hier und Jetzt
ISBN Druckausgabe 978-3-03919-515-2
ISBN E-Book 978-3-03919-971-6
E-Book-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
© 2020 Hier und Jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte GmbH, Zürich, Schweiz
Inhaltsverzeichnis
Die grosse Reise
August 2013 Kennenlernen
Zwei Welten
Goldene Profess
Das erste Gespräch
13. Oktober 1969 Ankunft in der Steinzeit
Wesen wie von einem anderen Stern
INTERMEZZO 1: Papua-Neuguinea
1939 bis 1961 Kindheit, Jugend, Familie
Geschwistertreffen in Hertenstein
Von früher
«Ich werde Krankenschwester»
1961 bis 1969 Im Kloster
Krankenschwester oder Ordensschwester?
Profess, Hebamme und ein Schicksalsschlag
INTERMEZZO 2: Das Kloster Baldegg
1969 bis 1998 Det
Geburtshilfe unter erschwerten Bedingungen
Leben im tropischen Regenwald
Det macht Schule
Zwischen den Fronten
Der Kampf gegen Aids beginnt
INTERMEZZO 3: Missionieren – darf man das?
1998 bis 2018 Mendi
Lernen, mit dem Virus zu leben
HIV-positive Mutter, gesundes Kind
Leben in der Provinzhauptstadt
Hexenwahn
2018 Heimkehr
Noch immer irgendwie dort
Anhang
Die grosse Reise
Am 7. Oktober 1969, einem Dienstag, begibt sich Sr. Gaudentia mit vier Mitschwestern auf die grosse Reise. Zuvor hat man für sie in der Kirche Waltenschwil einen Gottesdienst zur sogenannten Aussendung abgehalten. Ihre Nichte Gabriela, damals neunjährig, erinnert sich, wie sie mit ihrer Cousine Blumen streute. Und daran, wie eigentümlich die Stimmung war, zwischen Feierlichkeit, Aufregung und Sorge, welche die ganze Familie ergriffen hatte. Weiter weg und fremder als Papua-Neuguinea, das ging fast nicht! Noch 1998 stellte Prinz Philip, der Mann von Königin Elisabeth II., einem britischen Studenten gegenüber, der von dort nach Hause kam, nur halb im Scherz fest: «Sie haben es also geschafft, nicht verspeist zu werden.»
Sr. Gaudentia hat das Bild vor Augen, wie die Zurückbleibenden beim Abschied an der Klosterpforte versammelt sind und winken, als sie und ihre vier Begleiterinnen ins Auto steigen, das sie zum Flughafen bringt. Die Aufregung ist grösser als bei früheren Aussendungen, da die Frauen in ein neues Gebiet ziehen. In Kloten werden sie von den Angehörigen empfangen und verabschiedet. Alle stehen auf der Zuschauerterrasse und winken dem Swissair-Flugzeug nach.
Sr. Martine Rosenberg, damals stellvertretende Leiterin der Klostergemeinschaft, erinnert sich, als wäre es gestern gewesen, wie sie die kleine Gruppe zum Flughafen begleitete. Eine der ausreisenden Missionarinnen ist die vormalige und bereits 64-jährige Frau Mutter Sixta Popp. Sie hat sich in ihrer Funktion als Vorsteherin des Klosters stark für die Mission eingesetzt und wäre als junge Schwester selbst gerne ins Ausland gegangen. Nun erfüllt sie sich diesen Lebenswunsch. Sr. Sixta ist schliesslich bis 1978 Regionaloberin in Papua-Neuguinea und vor allem für Küche und Haushalt in der Missionsstation zuständig. «Sie war sozusagen die Hausmutter», sagt Sr. Martine. «Das tat allen gut, auch den jungen amerikanischen Kapuzinern, die dort stationiert waren. Sie gab uns einen mütterlichen Halt.» Mit dabei sind ausserdem die beiden Lehrerinnen Sr. Lukas Süess und Sr. Sibille Meier sowie die Krankenschwester Sr. Kiliana Fries.
Sr. Martine erzählt: «Das war unsere erste Gruppe in Papua. Die fünf sind mit grosser Begeisterung aufgebrochen. Es war aber auch ein Abschied ins Ungewisse. Uns allen war klar, dass sie, waren sie einmal abgereist, wirklich weg waren. Denn die Kommunikationsmöglichkeiten waren fundamental anders als heute. Der Briefverkehr war unsäglich langsam, Telefonieren praktisch unmöglich. Als Sr. Lukas’ Vater starb, dauerte es länger als einen Monat, bis der Brief mit dieser traurigen Nachricht sie erreichte. Doch sie gingen mit Gottvertrauen.»
Der Flug führt zuerst nach Genf, dann über Dubai und Indien nach Manila. Von dort aus reisen sie mit der australischen Fluggesellschaft weiter nach Port Moresby. «Ich freute mich sehr, als es endlich losging», sagt Sr. Gaudentia. Waren da keine bangen Gefühle? «Nein, keine, höchstens, ob wir das Richtige eingepackt hatten.»
August 2013
Kennenlernen
Zwei Welten
Bestimmt zwanzig Jahre ist es her, dass ich das erste Mal von Schwester Gaudentia Meier hörte. Meine Schwägerin erzählte damals von einer Tante, einer Ordensfrau des Klosters Baldegg, die als Missionarin in Papua-Neuguinea stationiert war. Heute ist es eine Besonderheit, eine Klosterfrau in der Familie zu haben. Und eine Missionarin erst! Das ist aussergewöhnlich. Gibt es das denn tatsächlich noch? Und wo genau liegt Papua-Neuguinea? Liest man in der Zeitung gelegentlich über den Inselstaat, geht es meist um Bürgerkriege, um Korruption oder Putschversuche. Unvorstellbar, dass mittendrin eine Baldegger Schwester, Sr. Gaudentia Meier aus dem Aargauer Freiamt, lebte und wirkte.
Diese Frau interessierte mich, das Thema Mission irritierte mich. Die Faszination für Missionare, welche unsere Elterngeneration vielleicht noch verspürte, ist heute meist Misstrauen oder gar Ablehnung gewichen. Man verbindet damit Begriffe wie Zwangschristianisierung und westliche Überheblichkeit. Nur passte das so gar nicht zu dem, was meine Schwägerin von ihrer Tante erzählte.
Dann erschien weltweit in verschiedenen Magazinen und Zeitungen eine Reportage der australischen Journalistin Jo Chandler über die grausamen Verfolgungen von Menschen in Papua-Neuguinea, die der Hexerei beschuldigt wurden. Darin erwähnte sie eine mutige Frau, die sich dagegenstellte: Sr. Gaudentia Meier.
Am 25. August 2013 reiste Sr. Gaudentia für einige Wochen in die Schweiz, um hier ihre Goldene Profess, die fünfzigjährige Treue zum Ordensgelübde, zu feiern. Ich besuchte den Gottesdienst und vereinbarte in der folgenden Woche ein Treffen mit ihr.
Die Gespräche verliefen anders, als ich sie mir vorgestellt hatte. Sr. Gaudentia ist eine gute Erzählerin, aber keine, die gerne von sich spricht. Und ihr ist das Leben in Papua-Neuguinea mittlerweile so vertraut, dass ihr nicht bewusst ist, wie exotisch das, was sie dort tagtäglich erlebt, für uns ist. Es wurde klar, dass meine ursprüngliche Idee, ihre Erzählungen einfach im Wortlaut niederzuschreiben, nicht funktionieren würde.
Wir trafen uns zwischen August und Oktober 2015 zu drei längeren Gesprächen. Dann reiste sie wieder ab. Im Mai 2016 traf ich mich mit Sr. Martine Rosenberg, welche mit Sr. Gaudentia die Profess abgelegt, von 1981 bis 1999 der Klostergemeinschaft als Frau Mutter vorgestanden hatte und nun in Baldegg das Missionssekretariat betreute. Sie hatte die Schwestern in Papua-Neuguinea mehrmals besucht.
Ich hoffte erst, die Geschichte mittels Mailkontakt weiterschreiben zu können. Das ging nicht. So geduldig, ja manchmal unermüdlich und bildhaft Sr. Gaudentia mündlich erzählte, so knapp und sachlich schrieb sie. Bald stand dann jeweils: «Em tasol.» Meine Frage, was das denn heisse, beantwortete sie mit: «Das wird in Pidgin-Englisch am Ende eines Berichts geschrieben. Es heisst ungefähr: Das wars. Oder einfach: Ende.»
Mitte 2018 erreichte mich die Nachricht, dass Sr. Gaudentia ernsthaft erkrankt sei und in die Schweiz zurückkehren würde. Wahrscheinlich für immer. Glücklicherweise erwies sich die Krankheit als weniger schlimm als ursprünglich angenommen. Doch war der Entscheid gefallen. Nach fast fünfzig Jahren Tätigkeit in Papua-Neuguinea kehrte sie, in ihrem achtzigsten Lebensjahr, in die Schweiz zurück. Nicht nur auf Urlaub, sondern endgültig.
Es ist nun Anfang Mai 2020. Gestern wären Sr. Gaudentia und ihre Mitschwester, Sr. Lukas, wohl ein letztes Mal nach Papua-Neuguinea geflogen, um das fünfzigjährige Jubiläum der Baldegger Mission zu feiern. Alles war vorbereitet. Es wäre eine schöne, aber auch anstrengende Zeit für die beiden Ordensfrauen geworden, denn viele wollten sie wiedersehen. Die überstürzte Abreise vor eineinhalb Jahren hatte einen gebührenden Abschied verhindert.
Nun durchkreuzte die Coronakrise die Reisepläne. «Es sollte vielleicht einfach nicht sein», sagte Sr. Gaudentia. Endgültig klang das nicht.
Sr. Gaudentia Meier kann auf eine aussergewöhnliche Lebensgeschichte zurückschauen. Sie handelt von einer Frau, die 24-jährig in ein Kloster eintrat, weil sie Missionarin werden wollte. Die fast fünfzig Jahre in Papua-Neuguinea lebte und wirkte, dort erst in der Geburtshilfe tätig war, dann Pflegerinnenschulen und ein international anerkanntes Aidsspital aufbaute. Und sie handelt von einer Missionarin, die sich furchtlos einer pöbelnden Menge entgegenstellte, als diese eine Frau brutal misshandelte, als Hexe beschimpfte und zum Scheiterhaufen führen wollte.
Goldene Profess
In der örtlichen Presse war im Vorfeld von einem Jahrhundertereignis die Rede. Und das will sich offensichtlich niemand entgehen lassen, denn die Menschen strömen an diesem sonnigen Sonntagmorgen, lange vor Beginn des Gottesdienstes, in die Kirche des Klosters Baldegg. Es ist der 25. August 2013, und heute feiern zwanzig Baldegger Schwestern ihre Goldene Profess. Unter ihnen ist auch Sr. Gaudentia Meier aus Waltenschwil. Sie werden die nach ihrem Klostereintritt abgelegten Gelübde erneuern: Armut, Gehorsam, Keuschheit.
Es ist die Zahl der jubilierenden Schwestern, welche diese Goldene Profess zum Jahrhundertereignis macht. 24 junge Frauen traten vor fünfzig Jahren in das Kloster Baldegg ein. Damals gehörten über 1000 Ordensfrauen der Gemeinschaft an, es war die grosse Zeit des Klosters Baldegg. Heute sind es noch 225 Schwestern, und vor bald zwanzig Jahren legte die letzte Novizin ihre Profess ab.
Die Kirchenglocken sind im Luzerner Seetal weitherum zu hören, doch wer sich erst jetzt auf den Weg macht, wird kaum mehr Platz in der saalartigen Institutskirche des Klosters finden. Die ungefähr 500 Sitzplätze sind schon beinahe besetzt. Eine energische Ordensschwester, deren Füsse trotz hochsommerlicher Temperaturen in robusten schwarzen Schnürschuhen stecken, weist die Besucherinnen und Besucher ein. Der Raum ist festlich erleuchtet und mit Blumen geschmückt. Die Sonnenblumen lockern mit ihren sattgrünen Blättern und dem fröhlichen Gelb die ansonsten ernste, feierliche Stimmung auf.
Nun werden zusätzliche Stühle herbeigeschafft. Noch immer treten Menschen vor den Altar, verneigen sich und folgen dann der allmählich etwas mitgenommen wirkenden Schwester, die Ausschau nach Bankreihen hält, in denen die Menschen nicht ganz so dicht sitzen. Nett lächelnd bittet sie dann, noch etwas enger zusammenzurücken. Zwei Schweizer Gardisten stehen in ihren bunten Uniformen stramm und schauen mit unbewegten Mienen dem Treiben zu. Sie sind zu Ehren einer Schwester angereist, die ihnen im Vatikan Italienischunterricht erteilte.
Dann stimmt der Schwesternchor ein Lied an, die Orgel steigt ein. Es beginnt der Einzug. Ministranten gehen voran, Kerzen haltend, es folgt eine Gruppe Ordensschwestern, eine trägt hoch über ihrer Brust eine Bibel, dann folgt die Schar der Jubilarinnen. Sie sind in ihre dunkelblaue Schwesterntracht mit weissem Kragen und schwarzem Schleier gekleidet; in ihren Händen halten sie eine Kerze mit rot-goldenem Kreuz. Eine weisse Spitzenrose als Brosche und ein gleichschenkliges Kreuz, das sie an einer einfachen schwarzen Schnur um den Hals tragen, sind ihr einziger Schmuck. Die Besucherinnen und Besucher haben sich von ihren Sitzen erhoben. Einige Schwestern blicken ernst, viele aber schauen sich neugierig in den Sitzreihen um und lächeln, sobald sie bekannte Gesichter sehen. Eine winkt sogar. Inzwischen sind auch sechs in weisse und goldene Messgewänder und prächtige Stolen gekleidete Priester vorbeigezogen. Einer trägt eine Bischofsmitra. Es ist Kurienkardinal Kurt Koch, einer der höchsten Geistlichen der Schweiz, hier, gleich um die Ecke, in Emmenbrücke, aufgewachsen. 1996 wurde er von Papst Johannes Paul II. zum Bischof von Basel geweiht und 2010 von Papst Benedikt XVI. nach Rom berufen. Er präsidiert dort den Päpstlichen Rat zur Förderung der Einheit der Christen.
Weihrauchschwaden ziehen durch die Kirche, der Chor singt «Nun jauchzt dem Herren, alle Welt». Einer der Priester begrüsst in leicht näselndem Ton die Schwestern an ihrem «Ehrentag». Dann beginnt der Kardinal mit seiner Ansprache. Er spricht von einer Glaubenskrise, die er in der heutigen Gesellschaft beobachtet: «Gott wird nicht mehr als gegenwärtig wahrgenommen.» Es fehle vielen Menschen an einem persönlichen Gott, «es fehlt die Leidenschaft für Gott». Und: «Wir sollen unseren Glauben mit dem Leben bezeugen.» Dann zitiert er jenen Papst, der vor fünfzig Jahren – im Jahr, als die heute feiernden Schwestern ihre Profess ablegten – sein Amt antrat: «Paul VI. nannte Ordensmenschen einmal Spezialisten für Gott», erzählt Kardinal Koch. «Denn sie leben vor, dass die Kirche es mit Gott zu tun hat und Gott in der Kirche lebendig ist.» Er dankt den Baldegger Klosterfrauen, dass sie durch ihr Tun die Gegenwart Gottes bezeugen. Und auch, er lächelt in die Runde, dass sie über all die Jahre seinen bischöflichen Haushalt in Solothurn führten.
Dann gehen die zwanzig Schwestern, eine nach der anderen, zur grossen Kerze am Altar, um daran ihre eigene Kerze zu entzünden. Sie stellen sich im Halbkreis auf und wiederholen ihr Gelübde, mit dem sie sich vor fünfzig Jahren dem Ordensleben verpflichteten: «Wir antworten Dir heute von Neuem und bitten, hilf uns jungfräulich, arm und gehorsam Jesus Christus nachfolgen, zu Deinem Lob und zum Heil der Menschen. Amen.» Manche Stimmen sind laut und deutlich im Kirchenraum zu hören, manche klingen etwas heiser. Nach eineinhalb Stunden stimmt die Orgel das Lied «Grosser Gott, wir loben Dich» an.
Nach der Messe wird im Hof des alten Klostertrakts ein Gruppenbild für die Presse aufgenommen. Sr. Gaudentia Meier steht in der hintersten Reihe in der Mitte. Sie wirkt etwas schmaler im Gesicht als die meisten Mitschwestern, die Gläser ihrer Brille haben sich im Sonnenlicht dunkel verfärbt, sie lächelt zurückhaltend in die Kamera, der Schleier ist nach hinten gerutscht, sodass er den Ansatz ihrer weissen Haare freigibt. Die energische Bewegung, mit der sie den stets nach hinten rutschenden Schleier richtet, wird während unseren Gesprächen schon bald zum vertrauten Bild.
Das erste Gespräch
Vier Tage sind vergangen, seit Sr. Gaudentia in Baldegg ihre Goldene Profess feierte. Jetzt begrüsst sie mich im Garten ihrer Nichte Gabriela in Waltenschwil, der Tochter ihres ältesten Bruders. Viele Bilder und Gedanken seien ihr während des Gottesdienstes durch den Kopf gegangen. «Ich habe fest zurückgedacht, was ich in den fünfzig Jahren alles erlebt habe. Es war ein dankbares Zurückdenken, und ich sagte mir, dass ich ein reiches und erfülltes Leben habe, obwohl ich Klosterfrau bin. Oder eigentlich, weil ich Klosterfrau bin: Wäre ich nicht ins Kloster eingetreten, hätte ich das alles nie machen können.»
Ordensschwester, Missionsstation, Papua-Neuguinea: Was Sr. Gaudentia gemacht hat, ist nicht nur einzigartig, sondern auch exemplarisch für eine Lebensweise, die es in dieser Form wahrscheinlich bald nicht mehr geben wird. Weil sie ungewöhnlich, ja aussergewöhnlich, exotisch und gleichzeitig verblüffend bodenständig ist.
Das alles scheint so weit entfernt von meiner Realität. Mein Gegenüber schnürt ihren Rucksack auf und packt Bücher, Magazine und einige Fotokopien aus. Zum Schluss zieht sie ein schwarzrotes Fähnchen aus einer Seitentasche, die Flagge von Papua-Neuguinea. Sie zeigt, auf rotem Grund, einen goldenen Paradiesvogel im Flug, auf Schwarz das silberne Sternbild Kreuz des Südens.
«Ich kann besser erzählen, wenn ich Bilder vor mir habe», sagt Sr. Gaudentia. Das letzte Mal, als sie in Heimurlaub ging, schenkten ihr ihre Mitarbeiterinnen zum Abschied ein Kleid in den Nationalfarben. Das hat sie ihrer Nichte weitergegeben – «ich kann das ja schlecht anziehen», sagt sie. Lacht, trinkt einen Schluck Kaffee und schaut mich dann erwartungsvoll an. Das Fähnchen wird sie mir nach diesem Nachmittag zum Abschied schenken. «Ich sehe die Flagge ja bald wieder, jeden Tag», sagt sie. Es steht seither auf meinem Arbeitstisch und ist mir mittlerweile ganz vertraut.
«Als Ordensschwester kann ich mich wirklich voll und ganz für eine Sache einsetzen, ohne mich darum kümmern zu müssen, ob sich das in irgendeiner Weise auszahlt», erzählt Sr. Gaudentia. «Wir haben zwischendurch auch Laienhelferinnen und Laienhelfer bei uns in Papua, doch müssen diese immer wieder heim und dort arbeiten, damit sie Geld zurücklegen können fürs Alter. Das muss ich nicht. Ich muss mich nicht sorgen.»
Sie spricht langsam, und manchmal rutschen englische Wörter dazwischen. «Mein Deutsch ist nicht mehr so gut», sagt sie dann. Am Satzende folgt hie und da ein eigentümliches, leicht näselndes «He», das dem Sinn nach wie ein in den Schweizer Dialekt übertragenes «Well» oder «You see» wirkt. Sr. Gaudentia ist erst vor Kurzem aus Mendi, der Hauptstadt der Provinz Südliches Hochland in Papua-Neuguinea, für einen dreimonatigen Urlaub ins Mutterkloster zurückgekehrt. Ihr Deutsch wird im Laufe der Gespräche wieder fliessender; geblieben ist der Freiämter Dialekt aus ihrer Heimat Waltenschwil bei Wohlen, der etwas altertümlich anmutet.
13. Oktober 1969
Ankunft in der Steinzeit
Wesen wie von einem anderen Stern
Am Donnerstag, dem 9. Oktober 1969, landeten die fünf Schwestern aus Baldegg in Port Moresby, der Hauptstadt von Papua-Neuguinea. Von dort flog meist zweimal pro Woche ein einmotoriges Flugzeug nach Mendi, der Hauptstadt des Südlichen Hochlands. Ein Fünfplätzer. Im ersten Flieger fanden nur zwei Schwestern Platz. Die anderen drei, darunter Sr. Gaudentia, kamen bei australischen Ordensschwestern unter. «Die legten für uns drei Matratzen in die Kapelle, dort konnten wir schlafen.» Am Sonntag ging dann ihr Flug nach Mendi. Von dort wurden die fünf Baldegger Schwestern, wiederum mit einem kleinen Flugzeug, nach Det, ihrem Einsatzort, gebracht. «Wir landeten in der Steinzeit», erzählt Sr. Gaudentia.
Papua-Neuguinea, im südwestlichen Pazifik gelegen, wurde damals noch von Australien verwaltet. Det war – und ist auch heute – keine Stadt, kein Dorf, sondern eine kleine Missionsstation mitten im dichten Regenwald, welche noch nicht einmal mit einer Strasse erschlossen war. Doch es gab eine Flugpiste. Die Station war drei Jahre zuvor von einem Kapuziner bezogen worden. Die Einheimischen wohnten in der Umgebung in einfachen Häusern. Organisiert waren und sind sie bis heute in Sippenverbänden. Kurz bevor die Schwestern eintrafen, war es in der Gegend verschiedentlich zu Stammeskämpfen gekommen.
Hunderte von Einheimischen versammelten sich, als sie hörten, dass die Missionarinnen bald eintreffen würden. Ein Foto zeigt die fünf Schwestern kurz nach der Landung vor dem kleinen Flugzeug, in ihren langen, schweren Ordenskleidern mit schwarzem Schleier. Sie sind umringt von einem guten Dutzend nackter Kinder, teilweise mit geblähten Bäuchen. Die Kinder zeigen keine Scheu, blicken aber ernst in die Kamera. Die Ordensfrauen überragen auch die erwachsenen Papuas, die sich etwas im Hintergrund halten. Sie selbst wirken unbeschwert, neugierig, tatkräftig. Sr. Gaudentia erinnert sich: «Die Männer trugen nur einen Lendenschurz und hinten Blätter, sie hatten Pfeil und Bogen dabei. Die Frauen trugen Röcke aus Schilf und eine Art Tuch. Der Kopf war bedeckt, die Brüste frei.»
Die Frage, wie denn ihr erster Eindruck gewesen sei, beantwortet Sr. Gaudentia so: «Wenn ich zurückdenke, frage ich mich eher, wie das wohl für die Einheimischen war, als wir in Det eintrafen. Wir waren die ersten weissen Frauen, die sie zu sehen bekamen. Ein Pater war vorher hin und wieder dort gewesen, aber sonst hatten sie keinen Kontakt zum Rest der Welt. Sie kannten nur die nähere Umgebung, und Frauen in so viel Stoff hatten sie sowieso noch nie gesehen. Immerhin trugen wir eine Kopfbedeckung wie die Frauen. Was die Papuas aber vor allem faszinierte, waren unsere schwarzen Strümpfe, die wir damals vorschriftsmässig trugen. Sie zupften daran und wunderten sich, was das sein sollte. Menschen, die oben weiss und unten schwarz sind.» Die Strümpfe habe man dann übrigens bald sein lassen. «Das war unerträglich in diesem Klima.» Mit den Läusen aber musste man sich abfinden. «Eine echte Plage», sagt sie.
Sie seien den Menschen dort wohl wie Wesen von einem anderen Stern vorgekommen, fährt Sr. Gaudentia fort. Für die Schwestern bedeutete es einen Zeitsprung. Es folgt eine Beschreibung, die typisch ist für Sr. Gaudentias anschauliche Art zu erzählen: «Wir wussten schon, dass die Menschen in Papua, insbesondere im Hochland, noch nicht oft in Berührung mit der sogenannten Zivilisation gekommen waren. Aber dass sie noch so urtümlich lebten, war uns nicht klar gewesen. Sie hatten keine Gegenstände aus Metall, verwendeten keine Wagen mit Rädern, das war im Busch unpraktisch. Sie kannten die kleinen Flugzeuge, nicht aber Autos. Als dann später das erste Auto bei uns in Det ankam und auf der Flugpiste fuhr, konnten sie es nicht fassen, dass dieses Vehikel am Ende der Piste nicht abhob und wegflog, sondern einfach weiterfuhr. Sie kannten auch keine Streichhölzer. Sie machten Feuer, indem sie Späne spleissten und dann eine Schnur um einen Holzstab rieben, damit Funken in die Späne stieben. Wenn es dann zu rauchen begann, bliesen sie ganz sachte, bis die Flammen hochschossen. Die kleinen Kinder waren meist ganz nackt, sie trugen höchstens mal Windeln aus Blättern und hatten nie ein wundes ‹Fudi›. Die Mütter trugen sie meist auf der Schulter. Das ist eigentlich heute noch so. Auch leben Männer und Frauen in der Gegend bis heute in getrennten Häusern. Die Buben ziehen zu den Männern, wenn sie der Brust entwöhnt sind, die Mädchen bleiben bei den Frauen.»
Wenn Sr. Gaudentia von den Sitten und Traditionen der Einheimischen erzählt, wechselt sie unvermittelt von der Gegenwart in die Vergangenheit und wieder zurück. Das hat durchaus seine Berechtigung, denn sie hat ganz nah erlebt, wie der Einfluss der Aussenwelt das Leben und das soziale Gefüge der Menschen im ländlich geprägten Südlichen Hochland verändert hat. Als sie ankam, war alles noch ursprünglich, was sie keineswegs idealisiert. In den 1980er-Jahren wurde der Einfluss von aussen allmählich spürbar und auf den Fotos, die sie gerne mit mir anschaut, auch sichtbar. Statt der grossen Blätter, welche die Papuas als Regenschutz über sich oder ihre Kinder breiteten, tauchen erstmals Plastikblachen auf. Männer tragen T-Shirts mit Werbeaufdrucken, doch unten herum immer noch die Blätter, die sie jeweils direkt vor dem Haus pflücken.
«Sonntags», so erzählt Sr. Gaudentia, «haben sie jeweils frische Blätter umgelegt und sich mit Öl eingerieben, bevor sie in die Kirche kamen.» Und sie fährt fort: «In den Grundzügen bis heute geblieben ist das Zusammenleben in der Sippe. Die Männer wohnen in niedrigen Männerhäusern, in die man nicht aufrecht hineingehen kann. Es macht Sinn, dass die Häuser niedrig und klein sind, denn dann braucht es weniger Holz, um den Raum aufzuwärmen. Nachts kann es sehr kalt werden. Das Feuer, um das man draussen und drinnen sitzt, ist bis heute sehr wichtig.»
Dann nimmt sie ein Blatt Papier und zeichnet mit schnellen Strichen ein langes Haus mit verschiedenen Eingängen. Sie erzählt dazu: «Die Frauen leben in Langhäusern, die aber unterteilt sind. Jede Frau hat ihren eigenen Eingang, ihr eigenes Feuer und kocht für ihren Mann und ihre Kinder. Der Mann wohnt zusammen mit den grösseren Buben im Männerhaus. Wenn die Frau mit ihrem Mann zusammen sein will, sagt sie zu ihm, wenn sie ihm die Süsskartoffeln bringt: ‹Komm heute Nacht.› Dann gehen sie zusammen irgendwo in den Garten oder in den Busch.» Bei den Papuas ist es bis heute möglich, dass ein Mann mehrere Frauen hat. Sofern er sich das leisten kann. Es kann also sein, dass ein Häuptling eines Stamms zehn oder noch mehr Frauen hat. Was Sr. Gaudentia an diesem Umstand besonders interessiert, ist die Rolle der Frauen: «Oft ist es eine Frau, die ihrem Mann sagt, er solle eine weitere Frau nehmen. Dann etwa, wenn sie mit den vielen Kindern und dem Garten, den sie besorgt, überfordert ist. Sie sucht dem Mann eine Frau aus, die ihr passt. Schliesslich lebt sie im Frauenhaus sehr nahe mit ihr zusammen. Und wenn der Mann sich nicht danach richtet, wehrt sich die Frau. Das kann so weit gehen, dass sie eine Frau, die der Mann gegen ihren Willen gewählt hat, umbringt. Ein mächtiges Mittel sind auch die Kinder. Sie haben bei den Papuas einen hohen Stellenwert und werden in der Regel von den Frauen liebevoll behandelt. Es sei denn, der Vater benimmt sich nicht gut. Dann kommt es vor, dass die Frauen die Kinder dieses Mannes vernachlässigen. Das ist ihre Waffe.»
Die offizielle Währung in Papua-Neuguinea ist der Kina. Doch war bei der Ankunft der Schwestern Geld nicht gebräuchlich. «In erster Linie waren die Papuas in unserer Region Selbstversorger. Das blieb noch lange so. Wenn sie etwas von ausserhalb brauchten, tauschten sie es. Es gab eine Art Wochenmarkt, auf dem Waren getauscht wurden. Für gewisse Geschäfte bezahlte man auch mit Kina-Muscheln.» Der Name der Geldwährung leitet sich von dieser Muschel ab. Das Brautgeld wird in vielen Stämmen auch heute noch in Form von Muscheln bezahlt. Sr. Gaudentia fährt fort: «Wenn ein Kind stirbt, muss der Mann der Sippe der Frau eine Entschädigung bezahlen. Das tut er oft mit Kina-Muscheln oder mit Schweinen. Reichtum zeigt sich in ländlichen Regionen bis heute an der Anzahl Schweine, die man besitzt. Gegessen werden meist nur Süsskartoffeln, Bananen und Bohnen. Die Süsskartoffeln sind mir mit der Zeit furchtbar verleidet. Proteine nehmen sie in Form von Heuschrecken, Käfern und Würmern zu sich. Wer es sich leisten kann, hält ein paar Schweine, die in den Frauenhäusern leben und auch von den Frauen gewirtet werden. Zum Weiden werden die Tiere in den Busch getrieben.»
Nun blättert Sr. Gaudentia wieder in einem Fotoalbum und zeigt ein Bild, auf dem ein an den Füssen gefesseltes Schweinchen zu sehen ist. Die Frau sei daran, diesem die Hauer zu stutzen, damit es nicht so stark wühlen könne, sollte es versehentlich in die Gärten gelangen. Auch sie habe manchmal einem Schwein die Hauer gestutzt. Für die Tiere sei das eine Tortur, aber es sei einfach nicht anders gegangen, sagt sie entschuldigend, denn die Schweine, die sie auf der Missionsstation hielten, hätten jeweils alles umgeackert. Sie habe es sich nur bei den kleinen getraut. Den Hunden hätten die Einheimischen manchmal die Zähne gezogen, damit sie die Kinder nicht bissen. «Schön ist das nicht, aber ein Hundebiss bedeutete, bevor wir kamen und gegen Tetanus impfen konnten, nicht selten den Tod.»
Wie hatte sie sich denn mit den Einheimischen verständigt? Die Sprachenvielfalt in Papua-Neuguinea ist geradezu legendär, und die vielen Stammessprachen sind nicht zuletzt darauf ausgelegt, dass Aussenstehende sie nicht verstehen. «Zu Beginn sprachen die wenigsten Pidgin-Englisch, mit dem wir uns mit ihnen zu verständigen versuchten. Also taten wir es in der ersten Zeit mit Händen und Füssen oder hatten, wenn immer möglich, einen Dolmetscher zur Seite. Ich lernte auch, ihre Sippenzugehörigkeit anhand des Kopfschmucks oder der Bemalung zu erkennen. Das war sehr nützlich.»
Wenn Sr. Gaudentia von uns seltsam anmutenden Ritualen der Papuas erzählt, psychologisiert oder wertet sie nicht. Sie habe immer versuchen wollen, zu beobachten und zu verstehen. Entsprechend gut kennt sie die Sitten der verschiedenen Stämme. Sie kann vieles bis ins kleinste Detail beschreiben, und wenn sie von den traditionellen Tänzen erzählt, steht sie auf und – ja, wackelt mit dem Hintern.