Czytaj książkę: «"Wenn Du absolut nach Amerika willst, so gehe in Gottesnamen!"»
Heinrich Lienhard
«Wenn Du absolut nach
Amerika willst, so
gehe in Gottesnamen!»
Erinnerungen an den California Trail, John A. Sutter und den Goldrausch
1846–1849
Herausgegeben von Christa Landert
Mit einem Vorwort von Leo Schelbert
Inhalt
Ein grosses Buch Von Leo Schelbert
Heinrich Lienhards Erinnerungen und ihr geschichtlicher Hintergrund
Das Manuskript
Der geschichtliche Hintergrund
Zu dieser Edition
Frühere Editionen
Heinrich Lienhards Biografie 1822–1846
Kindheit und Jugend auf dem Ussbühl 1822–1843
Reise nach Amerika 1843
Erste Jahre in Amerika: Illinois 1843–1846
Heinrich Lienhard Erinnerungen 1846–1849
California Trail, April bis Oktober 1846
Ankunft im Fort New Helvetia 1846
Monterey, November 1846 bis Februar 1847
Gartenarbeit bei Mimal am Yuba River, Februar bis September 1847
Aufseher im Fort New Helvetia, September bis Dezember 1847
Supercargo auf Sutters Schoner, Dezember 1847 bis Januar 1848
Garten beim Fort, Januar bis August 1848
Goldwaschen, August bis Oktober 1848
In der Schäferei, November 1848 bis April 1849
Handel in den Minen, April bis Mai 1849
Heinrich Lienhards Biografie 1849–1903
Reise in die Schweiz, Juni 1849 bis Januar 1850
Kalifornien, Januar bis Juni 1850
Letzter Aufenthalt in der Schweiz 1851–1854
Madison, Wisconsin, 1854–1856. Nauvoo, Illinois, 1856–1903
Anhang
Gesamtinhaltsverzeichnis der Erinnerungen Heinrich Lienhards
Bibliografie
Die Herausgeberin
Personenregister
Johann Heinrich Lienhard (1822–1903).
Ein grosses Buch
Vor uns liegt ein grosses Buch. Es gibt dem Glarner Auswanderer Heinrich Lienhard eine Stimme, der im Jahr 1843 im Alter von 21 Jahren von Bilten in die Vereinigten Staaten auszog, deren Grenzen damals erst wenig über den Mississippi hinausreichten. Zunächst wurde Heinrich Lienhard in Highland, Illinois – einer Schweizer Siedlung östlich von St. Louis –, heimisch, drei Jahre später folgte er jedoch nochmals dem Ruf der Ferne und begab sich 1846 über Land in das vom neu-europäischen Staat Mexiko beanspruchte Kalifornien, wo die indianischen Einheimischen im Landesinnern dank der Abgeschiedenheit der Regionen von den Folgen weisser Besetzung länger verschont geblieben waren als die meisten Völker auf dem übrigen Kontinent.
Kaum angekommen, nahm Lienhard am amerikanischen Krieg gegen Mexiko teil, in dessen Folge die Vereinigten Staaten alle nördlich des Rio Grande gelegenen mexikanischen Gebiete für sich beanspruchten. Im Jahr 1848 wurde Heinrich Lienhard Zeuge des Goldfundes am Südarm des American River knapp fünfzig Meilen nordöstlich des Forts New Helvetia, der Gründung des Schweizers Johann August Sutter, in dessen Dienst der Glarner Einwanderer verschiedenen Tätigkeiten nachging. Die zunehmend gewalttätige Gesetzlosigkeit der das Land überflutenden weissen Goldsucher und Ansiedler bewogen ihn jedoch, in die Heimat zurückzukehren. Vor der Abreise erwarb er in Philadelphia das amerikanische Bürgerrecht. Nach gut drei Jahren verliess er dann die Schweiz erneut, um sich zwei Jahre später in Nauvoo, Illinois, am Mississippi als Farmer endgültig niederzulassen.
In den 1870er-Jahren entschied sich Heinrich Lienhard, seine Erlebnisse für die Nachkommen niederzuschreiben. Seinem Manuskript, das zu den wichtigen Quellen der angloamerikanischen Frühgeschichte Kaliforniens gehört, war aber anfänglich kein Glück beschieden. Frühe deutsch- und englischsprachige Ausgaben verstümmelten sein Werk.
Nach zwei verlässlichen englischsprachigen Editionen, die 1951 und 1961 Texte zum California Trail vorlegten, erschien im Jahr 2000 Heinrich Lienhards Bericht über seine Jugend und die Jahre in Highland erstmals in textgetreuer englischer Übersetzung in dem von John C. Abbott edierten Buch «New Worlds to Seek», basierend auf der Transkription von Christa Landert. Zu diesem Werk gesellt sich jetzt ihre eigene grosse Leistung, die Transkription und Edition von Lienhards Trail- und Kalifornienbericht für die Jahre 1846 bis 1849.
In dieser Ausgabe umrahmt Christa Landert den Text von Heinrich Lienhard mit einer sachkundigen historischen Einleitung und einer eindrücklichen biografischen Skizze. Heute könnte er sich am Erscheinen seines Berichts uneingeschränkt erfreuen, und er müsste nicht wie damals in seinem Alter verfälschende Eingriffe in sein Werk beklagen. Das vorliegende Buch ist eine Musteredition, die dem umfangreichen Text in jeder Beziehung gerecht wird und ihn historisch, biografisch und erklärend dem Leser nahebringt.
Heinrich Lienhards Erinnerungen spiegeln eine willensstarke, grundehrliche und verlässliche Persönlichkeit. Er beobachtet seine Umwelt mit scharfem Blick, lernt von Jugend auf, Erlebnisse zu verarbeiten und an ihnen zu wachsen, und begegnet Herausforderungen mit Mut und Entschlossenheit. Bei Fehlentscheidungen, etwa sich für den Krieg gegen Mexiko anwerben zu lassen, kommt ihm das Schicksal entgegen, und er entrinnt lebensgefährlichen Situationen, da eine schwere Krankheit seinen Einsatz an der Front verhindert.
Lienhard sucht und geniesst die Schönheit der natürlichen Umwelt und ist auch ein furchtloser Jäger, wobei sein Wagemut ihn gelegentlich in Lebensgefahr bringt. Mitmenschen beurteilt er verlässlich und ohne Selbstgerechtigkeit. Den indianischen Menschen begegnet er zwar nicht ohne selbstverständliche Dominanz, bemüht sich aber, die Einheimischen unter den Umständen der weissen Invasion gerecht zu behandeln.
Wie jedes Leben ist auch das von Heinrich Lienhard von den dreifachen Kräften geformt, die Niccolò Macchiavelli virtù, fortuna und necessità genannt hat. Das vorliegende Werk zeigt eindrücklich, wie Lienhard seine Virtù, seine Tatkraft, unter den verschiedensten Umständen entfaltete, auch wie er Fortunas Spiel von Glück und Unglück sich fügend mitspielte und, endlich, wie er die Necessità, das unausweichlich Gegebene bedacht in sein Handeln und Bemühen einflocht.
Dieses bedeutende Buch bietet nicht nur ein facettenreiches Bild der prägenden Lebensjahre eines jungen Glarner Auswanderers und der komplexen historischen Ereignisse einer Eroberung, es ist zugleich ein bleibendes Zeugnis hervorragenden wissenschaftlichen Könnens.
Leo Schelbert, Prof. em. University of Illinois, Chicago
Heinrich Lienhards Erinnerungen und ihr geschichtlicher Hintergrund
Heinrich Lienhard verfasste seine Erinnerungen an die ersten dreissig Jahre seines Lebens in den 1870er-Jahren. Er war Anfang fünfzig, lebte mit seiner Frau Elsbeth und den Kindern in Nauvoo, Illinois, wo er sich 1856 niedergelassen hatte. Er leitet sein Manuskript mit folgenden Worten ein: «Schon oft ging ich mit dem Gedanken um, meine Vergangenheit, das heisst so weit ich mich derselben noch erinnere, nieder zu schreiben, indem ich annehmen darf, dass eine solche Aufzeichnung meiner Erlebnissen wenigstens für meine Kinder, vielleicht für Kindes Kinder einiges Intressen haben würde. Ich maasse mir nicht an, indem ich dieses unternehme, dass es für das allgemeine Publicum geschehe, da ich [mir] nur zu wohl bewusst bin, dass mir zu einem solchen Unternehmen die dazu nöthige höhere Schulbildung leider nicht zutheil wurde; somit wird man möglicherweise nicht selten Fehler in der Satzbildung sowie orthographische Fehler finden, die eines kurigirens bedürften.»
Lienhards Kinder wuchsen in einer vom Glarnerland sehr verschiedenen Welt auf und kannten ihre schweizerischen Wurzeln nur aus Erzählungen der Eltern. Dies dürfte der Grund gewesen sein, weshalb er seinen Aufzeichnungen die Erinnerungen an die eigene, nicht immer einfache Kindheit und Jugend in Bilten voranstellt. Auf diese ganz frühen Reminiszenzen folgen seine erste Reise nach Amerika im Alter von 21 Jahren, die zweieinhalb Jahre in Illinois und 1846 die Reise über den nordamerikanischen Kontinent nach Kalifornien. Dort wollte es der Zufall, dass während seines Aufenthalts Gold entdeckt wurde und er nicht nur erlebnisreiche Jahre verbrachte, sondern 1850 auch mit einem kleinen Vermögen in die Schweiz zurückkehrte, das ihm die Gründung einer eigenen Existenz ermöglichte. Grosszügiger wirtschaften zu können als seine Eltern, war das Ziel, von dem er seit seiner Kindheit geträumt hatte. Deshalb erfüllte er wohl mit Freude, einer gewissen Genugtuung und nicht zuletzt bewundernswerter Ausdauer den Wunsch seiner Kinder, diesen nicht alltäglichen Weg zur Erreichung seines Ziels in Gedanken nochmals zu beschreiten und die Erinnerungen daran schriftlich festzuhalten.
Das Manuskript
Es ist ein eindrückliches Dokument, das einem im Lesesaal der Bancroft Library in Berkeley, Kalifornien, in einer grossen, blauen Archivschachtel ausgehändigt wird. Das Manuskript umfasst 238 ungebundene, einmal gefaltete Schreibbogen, die aufeinandergelegt einen fünfeinhalb Zentimeter dicken Stapel von dicht mit Lienhards Handschrift beschriebenen Blättern ergeben. Aufgrund unterschiedlicher Wasserzeichen und Linierung sind sechs Serien von Schreibpapier erkennbar, deren Bogen zwischen 30,5 und 32 mal 19,5 Zentimeter messen (letztere Angabe mit einer Ausnahme). Sie sind beidseitig hellblau liniert und weisen zwischen 28 und 43 Zeilen auf. Das Papier ist von guter, je nach Serie jedoch leicht unterschiedlicher Qualität, auch hat die Zeit darauf ihre Spuren hinterlassen. Die Blätter sind vergilbt, viele weisen bräunliche Verfärbungen auf, stellenweise auch Flecken. Bei manchen Bogen ist der Falz teilweise, bei etwa zehn Bogen ganz aufgelöst. Auch die Blattränder sind stellenweise beschädigt, jedoch selten so stark, dass der Text davon betroffen wäre. Einige Bogen weisen kleine Risse auf, Bogen 150 ist beinahe ganz durchgerissen.
Auf den ersten dreissig Bogen mit den meisten Zeilen folgte Lienhard beim Schreiben den Linien, bei allen folgenden Bogen wählte er einen engeren Zeilenabstand als den vorgegebenen. Zusätzlich füllte er den leeren oberen Seitenrand regelmässig mit vier bis sechs Zeilen Text, wodurch er pro Seite 10 bis 15 Zeilen dazugewann, sein Schreibpapier also gut nutzte. Links des Textes liess er einen Rand von ein bis zwei Zentimetern frei. Auf diesem führte er gelegentlich den letzten Satz einer Seite zu Ende, brachte kleine Korrekturen an oder fügte in späterer Zeit, wenn er wieder in seinem Manuskript las, einen kurzen Kommentar hinzu. Rechts schrieb er in der Regel bis an den Blattrand. Er gliederte seinen Text weder durch Zwischentitel noch Paragrafen, nur die erste Zeile einer neuen Seite weist ab und zu einen kurzen Einzug auf. Die Bogen sind auf der Vorderseite in der linken oberen Ecke von 1 bis 238 durchnummeriert. Auf Bogen 103 verwechselte er beim Schreiben zwei Seiten und nummerierte danach als Orientierungshilfe die übrigen drei Seiten von 2 bis 4. Einige Bogen enthalten Spuren der Bearbeitung von fremder Hand, darunter Bemerkungen, Inhaltsangaben, Seitenzahlen sowie verschiedene kleine Zeichen. Folgende Tabelle zeigt eine Übersicht (kursiv gesetzte Kapitel entsprechen dem in diesem Buch edierten Text):
Zeit/Bogennummern | Bogen | Monate | Bogen/Monat |
Kindheit und Jugend 1822–1843 (1/1–12/3) | 13 | 260 | 0,05 |
Reise nach Amerika 1843 (12/3–20/4) | 8 | 3 | 2,67 |
Highland 1843–1846 (20/4–51/1) | 30 | 29 | 1,03 |
California Trail 1846 (51/1–83/1) | 32 | 6 | 5,33 |
Kalifornien 1846–1849 (83/1–160/1) | 77 | 32 | 2,41 |
Reise in die Schweiz 1849–1850 (160/1–196/2) | 37 | 7 | 5,29 |
Kalifornien 1850 (196/3-223/3) | 27 | 5 | 5,4 |
Rückkehr in die Schweiz 1850 (223/3-238) | 14 | 6 | 2,33 |
Total Manuskript | 238 | 348 | 1,46 |
Der ganze Text ist in deutscher Schreibschrift verfasst, wie Lienhard sie in der Schule gelernt hatte. Für fremdsprachige Wörter, Orts- und Personennamen verwendete er die lateinische Schrift, wobei Ausnahmen und Mischformen häufig sind. Seine Handschrift ist regelmässig, klar und im Ganzen gut lesbar. Schwierig und an einigen Stellen nicht entzifferbar sind Wörter, die er durch Überschreibung korrigierte, vor allem auf diese Weise korrigierte Einfügungen über der Zeile. Die sehr kleinen, oft auf einen kurzen Strich reduzierten Vokale «a», «e» und «o» sind bei sinngemäss nicht eindeutigen Wörtern oft schwer zu unterscheiden, besonders bei der Arbeit mit Fotokopien. Hilfreich ist dagegen Lienhards konsequente Verwendung von i-Punkten und u-Schleifen.
Im Schriftbild lassen sich zwei Arten von Veränderungen feststellen: Der plötzlich feinere Strich verrät eine neue Feder, die kräftigere Farbe neue Tinte, ein über kurze Zeit leicht veränderter Schriftzug eine längere Unterbrechung. Die zweite Veränderung vollzieht sich langsam und weist voraus auf Lienhards Altersschrift: Der zügige, nach rechts gerichtete Duktus weicht einer grösseren, fast aufrechten und weniger regelmässig wirkenden Schrift mit weit ausholenden Bogen und Schleifen. Die langsam abnehmende Zeilenzahl pro Seite (vier bis fünf Zeilen) gegen Ende des Manuskripts bestätigt den optischen Eindruck.
Zu Beginn der 1890er-Jahre bereitete Lienhard sein Manuskript für die von Caspar Leemann geplante Buchausgabe vor. Wohl um seinem Freund die Übersicht zu erleichtern, notierte Lienhard auf dem linken Rand der Vorderseite jedes Bogens stichwortartige Inhaltsangaben zum betreffenden Bogen. Sie stehen quer zum Haupttext und sind bis Bogen 59 mit hellroter Tinte verfasst. Bogen 60, 63 und 64 enthalten je einen Titel mit Bleistift und einer neuen, roten Tinte; auf den Bogen 65 bis 238 sind ursprüngliche Bleistifttitel mit roter Tinte überschrieben. Bogen 73 enthält zusätzliche Inhaltsangaben auf den Seiten 3 und 4, Bogen 127 auf Seite 4. Diese Zusätze weisen auf besonders wichtige Ereignisse hin: auf dem California Trail das Ende des Hastings Cutoff beziehungsweise die Ankunft am Mary’s River, in Kalifornien die Goldentdeckung.
Während Lienhard zur Formulierung der Inhaltsangaben den Haupttext wieder las oder zumindest überflog, brachte er – alles hier Folgende mit roter Tinte – kleine orthografische und stilistische Korrekturen an. Sie zeigen, dass er sich bemühte, Leemann für die Edition von 1898 einen sprachlich möglichst korrekten Text zur Verfügung zu stellen. Neben Seiten ohne Emendationen gibt es Seiten mit über einem Dutzend davon, wobei diese nicht in jedem Fall eine Verbesserung darstellen. Lienhard war damals über siebzig, sein Deutsch war unsicherer und der Einfluss der englischen Sprache grösser geworden, wie sich beispielsweise dort zeigt, wo er «Schäferei» zu «Schäferey» korrigierte. Längere fremdsprachige Dialoge hob er durch Unterstreichung hervor, vielleicht weil er davon ausging, dass sein Freund diese Stellen übersetzen lassen würde.
Lienhards Altersschrift ist zwar immer noch gut lesbar, wirkt jedoch ungelenker und stellenweise etwas zittrig. Besonders gut zeigt sich dies bei dem separaten Inhaltsverzeichnis, das er durch Übertragen der Inhaltsangaben von den Bogen auf vier Einzelblätter erstellte. Von den 238 Angaben sind 71 praktisch wörtlich übernommen, die anderen enthalten Umformulierungen oder Kürzungen, nur deren zehn einen Zusatz. Dieses separate Inhaltsverzeichnis ist deshalb von besonderem Interesse, weil daraus hervorgeht, dass das Manuskript ursprünglich vier oder fünf Bogen mehr als die überlieferten 238 umfasste. Sie enthielten persönliche Familienerinnerungen, und schon auf dem letzten erhaltenen Bogen drückte Lienhard unmissverständlich den Wunsch aus, dass der noch folgende Text von niemandem ausserhalb seiner Familie gelesen werden solle. Um dies zu betonen, strich er auf Bogen 238 die letzten zweieinhalb Seiten durch, ebenso die entsprechenden Inhaltsangaben im separaten Inhaltsverzeichnis. Sie lauten wie folgt: «Bekannt werden mit meiner zukünftigen Frau/Hochzeitsreise/Heimkehr/Maria Einsiedeln/Kaufe in Kilchberg».
Lienhard war ein gewissenhafter Erzähler und dürfte sein Manuskript nicht ohne einen Hinweis zur Zeit und Dauer der Niederschrift abgeschlossen haben. Durch den Verlust der letzten Bogen bleibt heute nur der Versuch, anhand einiger Angaben im Haupttext sowie Randbemerkungen aus späterer Zeit einen gewissen zeitlichen Rahmen zu finden. Da unbekannt ist, wie regelmässig er schrieb und wie viele Bogen pro Monat er füllte, handelt es sich dabei immer nur um eine Schätzung. Ein erster Hinweis findet sich auf Bogen 20, wo Lienhard sich an den Moment Ende November 1843 erinnert, als er das Wort «California» zum ersten Mal hörte. Er schreibt dort, dass seit jenem Abend «über 30 Jahre» verflossen seien. Da er auf Bogen 24 mit Bezug auf die Monate Februar und März 1844 «30 Jahre» nennt, dürfte er gegen Ende 1873 mit Schreiben begonnen haben. Die letzten beiden Hinweise finden sich auf den Bogen 215 und 216, wo er von Erlebnissen im Juni 1850 erzählt und beide Male erwähnt, dass seither «nahezu 27 Jahre» vergangen seien. Das heisst, er war im ersten Halbjahr 1877 auf Bogen 216 (von 242) angelangt. Angenommen, er verfasste die letzten 26 Bogen ohne grössere Unterbrechung, dürfte er seine Schreibarbeit somit nach rund vierjähriger Dauer gegen Ende 1877 abgeschlossen haben.
Die Frage, inwieweit Lienhard sich beim Schreiben auf Tagebücher stützte, lässt sich nur für die Reise nach Kalifornien mit Sicherheit beantworten, da er dort ein Tagebuch ausdrücklich erwähnt. Korns/Morgan, die anlässlich ihrer Untersuchung zu einem Abschnitt des California Trails nach dem Original-Tagebuch forschten, erfuhren von Lienhards Enkelin, dass ausser dem Manuskript weder das Trail-Tagebuch noch andere Notizen überliefert worden seien.
Lienhards Schreibstil zeigt jedoch einen der Genauigkeit und Verlässlichkeit derart verpflichteten Erzähler, dass für mehrere Abschnitte zumindest von tagebuchartigen Notizen als Vorlage ausgegangen werden muss. Nicht nur halten seine Angaben mit geringfügigen Ausnahmen allen Vergleichen mit anderen zeitgenössischen Quellen stand, sondern sein Text enthält auch Abfahrts- und Ankunftsdaten, Namen von Mitreisenden, Schiffen und Hotels, an die er sich selbst bei überdurchschnittlichem Gedächtnis nach dreissig Jahren kaum hätte erinnern können. Sein Manuskript zeigt jedenfalls, dass er über seine Reise in die Schweiz 1849/50 und die letzten Monate in Kalifornien, als er nicht mehr arbeiten musste, ebenso ausführlich berichtet wie über den Trail, so dass ihm vermutlich Notizen zur Verfügung standen. In den Erinnerungen an die Jahre, in denen er arbeitete, beschränken sich präzise Zeitangaben oft auf Feiertage wie den 4. Juli oder 1. Januar, während ungefähre Angaben wie «eines Tages im Monat August» und Einschränkungen von der Art «wenn ich nicht irre» oder «wenn ich mich recht erinnere» relativ häufig anzutreffen sind.
Heinrich Lienhards Manuskript, das heute in der Bancroft Library in Berkeley aufbewahrt wird.
Einer Randbemerkung aus dem Jahr 1901 ist zu entnehmen, dass Lienhard sein Manuskript bei sich zu Hause in Nauvoo aufbewahrte und auch immer wieder darin las. Nach seinem Tod 1903 ging es in den Besitz seines jüngsten Sohnes Adam H. Lienhard über, der es seiner Tochter Vivian Magnuson-Lienhard weitergab. Mrs. Magnusons Wunsch, das Erinnerungswerk ihres Grossvaters sicher und fachgerecht aufbewahrt zu wissen und es trotzdem öffentlich zugänglich zu machen, veranlasste sie 1949, es der Bancroft Library in Berkeley zu verkaufen.
Der geschichtliche Hintergrund
Kalifornien
Bis zum Jahr 1539 der christlichen Zeitrechnung war die Welt Kaliforniens von Kontinuität geprägt. Seine menschlichen Siedlungen haben eine über zehntausendjährige Geschichte und sind älter als in anderen nördlichen Gebieten der westlichen Hemisphäre. In den archäologischen Überresten tritt eine grosse kulturelle Vielfalt zutage, und über hunderttausend Fundorte von Lagerstellen bis zu komplexen Siedlungen und städtischen Zentren bezeugen die Vergangenheit des Landes vor dem weissen Einfall.
Drei geografische Faktoren waren bestimmend für die Geschichte Kaliforniens. Dies waren seine isolierte Lage, das in vielen Regionen milde Klima und der Reichtum seiner Landschaften. An der Küste sorgt das Meer für kühle Sommer, warme Winter und über das ganze Jahr für feuchte Luft. Im grossen Central Valley und in anderen Inlandtälern dagegen sind die Temperaturschwankungen gross, in Wüstengegenden extrem. Am Fuss der Sierra Nevada ist das Klima nebelfrei und in Berggegenden stellenweise dem Alpenklima ähnlich. Der nach Alaska und Texas drittgrösste Staat der Vereinigten Staaten hat eine 2000 Kilometer lange Küste, und die extremen Höhenunterschiede liegen zwischen 86 Meter unter Meer in Badwater im Death Valley und 4418 Meter auf dem Gipfel von Mount Whitney, wobei die beiden Punkte nur knapp hundert Meilen auseinanderliegen.
Die indianischen Völker
Wie andere menschliche Gemeinschaften entwickelten Kaliforniens einheimische Bewohner Lebensformen, die sich den Möglichkeiten von Klima und Bodenbeschaffenheit anpassten. Die Pflanzenwelt wurde durch gezielten Einsatz von Feuer gepflegt und die Tierwelt in ihrem eigenen Habitat genutzt, also Vielfalt, Produktivität und Schutz der Nahrungsquellen bewusst gefördert. Nur im südlichsten Teil und äussersten Südosten wurde Ackerbau getrieben. Die Menschen lebten vom Fisch- und Muschelfang, jagten Rot- und Kleinwild, ohne seinen Bestand zu gefährden, und nutzten auch Insekten zur Ernährung. Eine Hauptnahrungsquelle war die Eichel. Das mit Mörser und Stössel gewonnene Mehl wurde in einer flachen, sandigen Vertiefung oder in einem Behälter ausgebreitet, um die Gerbsäure, das Tannin, auszuschwemmen. Das Mehl wurde entweder in einem Erdofen zu Brot gebacken, oder häufiger wurde daraus in einem Korb, in dem feuererhitzte Steine das Wasser zum Sieden brachten, ein Brei gekocht, der mit Beeren, Nüssen, Fisch- und Fleischstücken angereichert werden konnte.
Handwerklich waren die kalifornischen Indianer in der Flechtkunst von Körben führend. Frauen gruben mit Stöcken nach Wurzeln, deren Fasern sie zum Korbflechten benötigten, weshalb weisse Siedler die einheimischen Leute verächtlich «Diggers» – Gräber – nannten und irrtümlich meinten, sie suchten so nach Nahrung. Jagdgeräte waren unter anderem kunstvoll verfertigte Pfeile und Bogen, Köcher, Körbe und Netze sowie Wurfspiesse mit beweglichen Spitzen, die nicht abbrechen konnten.
Die autonomen und demokratisch verwalteten Gemeinschaften Kaliforniens waren grösstenteils in lockeren Verbänden von mehreren Dörfern organisiert. Sprachlich waren sie äusserst vielfältig. Man unterschied fünf Hauptsprachen, 21 Sprachfamilien und eine grosse Zahl verschiedener, untereinander nicht verständlicher Dialekte. Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den Gemeinschaften stärkten wirtschaftliche, soziale, politische und religiöse Bande. Konflikte, die von Grenzverletzungen, Mord oder Diebstahl herrühren konnten, wurden meistens durch entsprechende Entschädigungen beigelegt, Krieg kannten die kalifornischen Indianer kaum. Menschliche Schwächen wie Wettstreit, Aggression, Neid und Rache lebten sie im Spiel aus, an dem sich Spieler wie Zuschauer leidenschaftlich beteiligten. Religiöse Rituale waren nicht auf Gottheiten orientiert, sondern feierten die Grundkräfte des Lebens und suchten deren stets gefährdetes Gleichgewicht zu bewahren oder wiederherzustellen.
Spanien und Mexiko
Von 1542 bis 1602 erforschten mehrere Expeditionen im Auftrag der Regierung Neuspaniens die Küste Kaliforniens. Danach vergingen 167 Jahre bis zur ersten Siedlungsgründung. Dies zeigt zum einen die ausserordentliche Isolation Kaliforniens, zum anderen die Geringschätzung, mit der die Spanier diese entlegene Region beurteilten: Es gebe dort, glaubten sie, weder Gold noch andere Reichtümer, die Küste hatte sich als abweisend und gefährlich erwiesen, und die Reise über Land schien noch bedrohlicher.
Im Jahre 1769 gründeten spanische Franziskaner San Diego de Alcalä, die erste Mission in Oberkalifornien. Insgesamt wurden in den folgenden fünf Jahrzehnten entlang der Küste 21 Missionsstationen errichtet, vier davon mit einem Presidio, einer Garnison mit einer kleinen Besatzungstruppe. Die Beziehung zwischen den Soldaten und den Padres war nie besonders gut, doch waren sie aufeinander angewiesen. Die Mission bestand nicht nur aus einer Kirche, sondern war auch ein landwirtschaftliches Pueblo, in welchem hunderte oder sogar tausende von Indianern zusammengezogen wurden und sämtliche Arbeiten verrichteten.
Theoretisch waren die Missionen Institutionen auf Zeit. Demgemäss hätte jede Mission zehn Jahre nach ihrer Gründung säkularisiert werden müssen. In Wirklichkeit dauerte es jedoch über sechzig Jahre bis zur Säkularisierung. In der Meinung der Missionare waren die Indianer Kinder, deren Geist nicht fähig sei, sich über dieses Niveau zu entwickeln. Sie machten sie in den Missionen zu hilflosen Abhängigen und behielten sie in diesem Zustand, indem sie jedes Detail streng kontrollierten. Kontakte mit Europäern ausserhalb der Missionen wurden unterbunden, kurz, die Missionare vermieden alles, was die getauften Indianer darauf vorbereitet hätte, die Mission je wieder zu verlassen.
Die Register der Missionen zeigen eine erschreckend hohe Sterberate. Eine grosse Zahl von Indianern starb an Krankheiten, gegen die sie nicht immun waren. Ihr Leben beschränkte sich auf die Räume der Mission, wodurch ihnen ihre traditionelle Gesundheitspflege, die sie in ihren Dörfern befolgt hatten – Schwitzhaus, Bad im Fluss, gelegentliches Abbrennen und Erneuern ihrer Wohnstätte etc. –, verwehrt war. Während der Missionsperiode sank die Zahl der einheimischen Bevölkerung zwischen der Bucht von San Francisco und San Diego von 72 000 auf 18 000, was einer Abnahme von über 75 Prozent entsprach.
Die spanische Besiedlung Oberkaliforniens beschränkte sich auf einen schmalen Küstenstreifen. Nur am Colorado River gab es zwei Missionen, die von den Yuma aber nach kurzer Zeit beseitigt wurden. Die einzigen Expeditionen ins Central Valley galten der Rückschaffung geflohener Missionsindianer oder waren reine Strafexpeditionen oder Versuche, gestohlene Pferde und gestohlenes Vieh zur Mission zurückzutreiben. Die häufigen Streifzüge zu den Viehherden der Küstensiedlungen unternahmen vor allem Indianer, die von dorther stammten, aber ins Landesinnere geflüchtet waren, um der Missionierung zu entgehen.
1812 baute die Russian-American Fur Company nördlich von Bodega Bay ein befestigtes Dorf, das sie Fort Ross nannte. Es belieferte die russische Kolonie Sitka in Alaska mit Nahrungsmitteln und bildete das Hauptquartier für die Seeotterjagd in Nordkalifornien. Es diente auch als Zentrum für den Handel zwischen den Russen und Spaniern, den die Regierung zwar verboten hatte, der aber für beide Seiten nötig war und unter freundschaftlichen Beziehungen stattfand.
Mexiko hatte sich 1821 die Unabhängigkeit von Spanien erkämpft und erhielt 1824 eine liberale Verfassung. Die Regierung in Mexico City bestimmte von nun an einen Gouverneur, der «jefe político superior» und «comandante general militar» in einem war. Es gab auch eine Art Legislative, die gewählte «diputación», die aber nur auf Einberufung durch den Gouverneur tagte und auch dann hauptsächlich in beratender Funktion.
Die Gouverneure waren unter anderem befugt, Land an künftige Rancheros zu vergeben, auch an Ausländer, sofern diese bereit waren, sich nach Ablauf eines Jahres einbürgern zu lassen und zum römisch-katholischen Glauben überzutreten. In der Folge verschob sich die eigentliche Macht in Kalifornien nach und nach von den Gouverneuren und Missionaren auf eine kleine Gruppe von Ranchero-Familien, deren Mitglieder in Kalifornien geboren und die verwandtschaftlich verbunden waren.
Gouverneur José Figueroa verkündete 1834 die allgemeinen Bedingungen für die Säkularisierung der Missionen, die unter anderem festlegten, dass die Hälfte des Missionslandes an die Indianer übergehen müsse. Seine Massnahmen wurden aber nicht wirksam durchgeführt. Einige Indianer versuchten zwar, auf dem ihnen zugeteilten kleinen Stück Land zu bleiben, doch keiner behielt es länger als ein paar Jahre. Viele wussten gar nicht, dass sie Anrecht auf Land hatten, und verliessen die Küstenregion, um Anschluss bei indianischen Gemeinschaften im Innern des Landes zu suchen. Diejenigen, die als Vaqueros geübt waren, fanden Arbeit auf privaten Ranchos, in welche das Missionsland nach und nach unterteilt wurde, andere in Dörfern.