Czytaj książkę: «In Bed with Buddha»
Heiko Werning
In Bed with Buddha
Ein episodischer Entwicklungsroman
FUEGO
- Über dieses Buch -
Ein episodischer Entwicklungsroman von Westfalen in den Wedding, zwei Biotope, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten. In Heiko Wernings Geschichten leben die eigenwilligen Einwohner dieser Rückzugsgebiete auf und schillern in ihrer komischen Schönheit. Da ist zum einen Westfalen, ein Landstrich, dessen Einwohner mit stoischer Gelassenheit auf den hektischen Medienbetrieb schauen, nur weil mal ein paar Tage der Strom ausgefallen ist, wo liberale Mütter den Kontakt zur jungen Generation suchen und "ganz offen" über Sex reden wollen, wo Vorstadtwitwen nachts durch ihre Gärten kriechen und Schnecken zerschneiden.
Und da ist der Wedding, wo Menschen, die sich in ihren Hinterhöfen nie zu Gesicht bekommen, sich Lebenshilfe aus den Fenstern ihrer Wohnungen zurufen, wo Rassisten aus Protest gegen die vielen Ausländer mit der thailändischen Geliebten nach Südostasien abhauen, wo Betrunkene sich nachts an den schrecklichsten Imbissbuden des Landes treffen, um sich selbst zur Katharsis zu verhelfen, ein Stadtteil, von dem alle sagen, dass man dort keine Kinder aufziehen könne, obwohl doch vermutlich nirgendwo in Deutschland mehr Kinder aufwachsen als gerade hier.
»Das Unspektakuläre findet seinen würdigen Platz in Wernings Texten, es wird zuweilen überhöht, zugespitzt, ins Absurde gedreht, oft aber auch nur lakonisch dahererzählt. Werning gräbt sich tief in die Beobachtung einer Situation und destilliert ihre komische Essenz. Er schreibt mit exzellent trockenem Humor.«
taz
»In Bed with Buddha ist [...] ein sehr sinniges Plädoyer für die Provinz und eine liebevolle Entzauberung der Großstadt als Sammel- und Fluchtpunkt der “coolen” aller Art. Ein bisschen geht es mir mit Wernings Texten so, wie mit der Musik von Manfred Maurenbrecher: Beide sind nach der herrschenden Geschmackspolizei extrem unmodisch und uncool, aber genau das macht sie wahrhaftig und extrem standhaft. Schönes Buch.«
Jochen Reinecke, ZEIT online
Prolog
Das Flusspferd
ES WIRD VIEL ZU VIEL GESCHIMPFT über Berlin. Dabei erlaubt die Metropole jedem Menschen, der willig ist, dies anzunehmen, höhere Einsicht und Erhabenheit. Denn sie unterhält im Zoo ein Flusspferdhaus. Ein Flusspferdhaus, dessen Wasserbecken wie in einem großen Landschaftsaquarium mit einer Glasscheibe abgetrennt ist, sodass die Zuschauer direkt in das Unterwasserreich der Flusspferde blicken können. Und auf die Flusspferde selbst auch, aus nächster Nähe und ohne störende Gitter.
Es gibt wenig erfreulichere Anblicke auf der Welt als ein Flusspferd. Umso erstaunlicher ist es, dass es auch in Berlin Menschen gibt, die wertvolle Lebenszeit damit vergeuden, Computerzeitschriften oder Martin Walser zu lesen, in Boutiquen nach etwas, was sie dann schick nennen, zu suchen, oder in Cocktail-Lounges zu chillen; dabei könnten sie stattdessen doch auch die Flusspferde im Zoo anschauen. Im Regelfall liegen diese irgendwo herum und machen gar nichts, außer verdammt imposant zu sein. Verdammt imposant zu sein, ohne irgendetwas dafür zu tun, ist eine sehr schöne Eigenschaft. Wie viel Unheil entsteht, nur weil Menschen imposant wirken wollen, obschon sie es doch so gar nicht sind? Die arabischen Jugendgangs auf der Straße mit ihrem Gestammel, ihren aufgeplusterten Jacken, den lächerlichen Schiffchen-Rasur-Frisuren und dem ganzen Ghetto-Getue, und dann aber zu Hause vor Mama und Papa wegducken und das Schwesterchen verpetzen, wenn es sich mal das Kopftuch abnimmt. Ganz zu schweigen von den ostdeutschen Relikt-Jugendlichen, die sich in Bomberjacken und Springerstiefel packen, um beeindruckend zu wirken, und dann doch nur in Gruppen einzelne Schwächere verprügeln können.
Ein Flusspferd muss niemandem vormachen, dass es imposant sei, es ist einfach imposant. Dabei spielt es sich kein bisschen auf. Wenn es will, kann das Flusspferd sich durchaus durchsetzen, ganz allein, ohne Stiefel und ohne Meute – es ist das gefährlichste Großtier in Afrika. Wenn man es in Ruhe lässt, liegt es aber einfach nur herum. 4500 kg Ruhe und Überlegenheit. Und das trotz dieser kleinen Schweinsäuglein und der im Maßstab geradezu lächerlichen Öhrchen, die wie unbeholfen drangeklebt wirken – na und? Das Flusspferd wackelt hin und wieder genüsslich mit ihnen. Dafür sollen sie sein, die winzigen Öhrchen, und dafür sind sie gut. Was zählt es, dass sie viel zu klein aussehen für dieses riesige Tier, wenn es damit doch so vorzüglich zufrieden wackeln kann?
Das Flusspferd liegt auf einer Insel im Wasser, breitet einen Zentner neben dem anderen in der Sonne aus und wackelt mit den Öhrchen. Mehr Friede ist nicht möglich auf dieser Welt. Oder das Flusspferd treibt im Wasser, und ganz gelegentlich lässt es einige Knubbel seines Oberkopfes oder die Barthaare, die wie die letzten verkohlten Borsten eines explodierten Besens aussehen, über die Oberfläche ragen, schnaubt ein bisschen und sinkt dann wieder herab. Dann sieht man manchmal kleine Blasen von dort aufsteigen. Da freut das Flusspferd sich, weil es lustige Blasen machen kann, indem es Luft durch seine Nasenlöcher pustet. Und dann sieht man, wie auf der anderen Seite des Flusspferdes noch größere Blasen aufsteigen. Da freut das Flusspferd sich auch, weil es lustige Blasen machen kann, indem es die Luft auf der anderen Seite aufsteigen lässt. Nach Herzenslust blubbert es an beiden Flusspferdenden, und dazwischen herrscht Zufriedenheit und Ruhe.
Aber das Flusspferd kann auch anders. Leute, die ihre Zeit damit vergeuden, in Boutiquen nach schicken Sachen zu suchen, Computerzeitschriften oder Martin Walser zu lesen oder in Cocktail-Lounges zu chillen, nehmen an, es müsse irgendwie unbeholfen durch die Gegend torkeln. Dabei hat doch Gewicht so wenig mit Eleganz zu tun! Wenn das Flusspferd sich im Wasser bewegt, dann gleitet es elegant, wie tänzerisch, an der Scheibe und den staunenden Betrachtern vorbei. Viereinhalb Tonnen angefressene Fleischmasse, aber wie eine Elfe schwebt es dahin, berührt den Boden nur mit den Spitzen seiner Hufe, die im vollendeten Gleichklang den Untergrund streicheln, ohne irgendwo anzustoßen, in perfekt harmonischer Bewegung, voll höchster Grazilität.
Das Flusspferd ist mein Vorbild. Auch ich lege höchsten Wert auf grazile Bewegungen, behände schlängle ich mich durch die Massen, flink und geschickt, während der durchschnittliche Berliner, egal ob Ureinwohner oder zugezogener Medieninformatiker, sich mit der Sensibilität einer Planierraupe durch die Menge schiebt, Leute anrempelt und Ellbogen ausfährt. Dabei müssten sie doch nur in Ruhe das Flusspferd betrachten! Das würde überhaupt so vielen Menschen gut tun!
Man sollte aufhören, über Personen wie beispielsweise Kate Moss in Zeitungen zu berichten. Man sollte ihnen helfen. Indem man sie ein halbes Jahr in ein Flusspferdgehege sperrt. Salat gibt es darin genug, denn das Flusspferd lebt gesund. Und dann soll Kate Moss mal gucken, wie das Flusspferd zum Frühstück seine zwei Doppelzentner Grünzeug verputzt. Wenn man sie dann nach dem halben Jahr wieder raus lässt, ist sie entweder geheilt und erleuchtet, und wenn immer noch nicht, dann ist es letztlich auch egal.
Selbst Bild-Chefredakteur Kai Dieckmann, bei dem man ja eigentlich auf eine Verbesserung nicht mehr zu hoffen wagt, könnte vielleicht doch noch geholfen werden. Ein Jahr im Flusspferdtank würde ihn lehren, dass man ganz entspannt und glücklich ganz für sich auch in seiner eigenen Kloake leben kann, dass man gar nicht unbedingt andere ungefragt in die Kloake hineinziehen muss. Und, ganz nebenbei, vielleicht würde ein Jahr Einweichen im Flusspferdsud seine durch unsachgemäße Dauereingelung vermutlich längst verpanzerte Kopfbehaarung doch noch irgendwie wieder lösen können.
Ganz zu schweigen von den erwähnten Jugendgangs, ob türkisch, arabisch oder deutschnational: Das Flusspferd würde sie schon schnell lehren, wie weit es mit ihrer Großmäuligkeit her ist. Das Flusspferd könnte uns allen so vieles lehren!
Darum glaubt mir, Freunde, wenn ich euch sage: Und würde morgen die Welt untergehen, so würde ich mich heute noch vor ein Flusspferdgehege pflanzen.
I.
Die Jugendlichen heute sind da viel lockerer
Zoodirektor
LOKOMOTIVFÜHRER ODER FEUERWEHRMANN wollte ja schon in den 70er-Jahren niemand mehr werden. Eher Rennfahrer, Astronaut, Bankchef oder Atomphysiker. Mich hat diese Diskussion nie berührt, ich wusste immer ganz sicher, was ich werden wollte: Zoodirektor. Und da meine Kompetenz und Eignung für diesen Job so vollkommen offensichtlich war, sah ich auch gar nicht ein, wieso ich damit warten sollte, bis ich groß wäre. Also ernannte ich mich einfach selbst zum Direktor des »Zoo Gremmendorf«, den es jetzt nur noch zu gründen galt. Ich malte es mir paradiesisch aus: Ich könnte meine Leidenschaft zum Beruf machen, die Leute würden Schlange stehen und Eintritt zahlen, und Mädchen, ach, Mädchen! Darum würde ich mir als erfolgreicher Zoodirektor nun wirklich keine Sorgen machen müssen. Ich könnte mir aussuchen, ob ich mit Sabine aus der Pommernstraße gehen würde oder mit Rendel aus der Hohmannstraße, und vor allem müsste ich mich nicht mehr mit der doofen Michaela abgeben, die ja leider die Einzige war, die irgendwie immer übrig blieb, und besser die, als gar keine, so wie der dumme Hubert, aber sobald uns keiner mehr sah, schubste ich sie weg und rannte nach Hause. Ganz gleich – das alles würde bald ein Ende haben.
Zunächst mussten einige architektonische Probleme gelöst werden. Leider war mein Budget sehr knapp, und von denen da oben – sprich: meinen Eltern – war natürlich kein Geld zu erwarten, an Bildungseinrichtungen wird ja immer zuerst gespart. Aber das machte nichts. Ich trug einen größeren Bestand an Einmachgläsern aus dem Vorratskeller meiner Mutter zusammen, und dazu – damit meine Eltern dann nicht wie bei jeder Einweihung neuer Gebäude in Münster jammern würden, dass das doch nur hässliche gleichförmige Klötze seien – noch einige Elemente zur baulichen Auflockerung: Margarine-Dosen, Zigarrenschachteln, Marmeladengläser, eine Tupperdose sowie eine Eisbox. Der Bau selbst gestaltete sich einfach: Ich verteilte die Gläser und Kisten nach einem ausgeklügelten System, das ich mir zuvor aufgezeichnet hatte, quer über den gesamten Garten. Wie in jedem richtigen Zoo bekam jedes eine Nummer, die ich gleich auf dem Lageplan eintrug, der somit auch als Zooführer dienen konnte, den ich zur Mehrung meiner Reichtümer und zur Erfüllung des Bildungsauftrages an die Besucher verkaufen könnte. Wie in Zoos üblich, legte ich auch Wege zwischen den Gehegen an. Hier mussten zunächst einzelne Steine reichen, die den Weg vom Rest des Rasens z.B. abtrennten, denn ich hatte mir ein geschicktes Schlangenliniensystem ausgedacht, um so ein richtiges Wegenetz und damit verbunden einen großzügigeren Eindruck der Zoofläche zu schaffen.
Als Nächstes ging es daran, den Tierbestand zusammenzustellen. Das war die leichteste Aufgabe, denn ich kannte sie alle, ich wusste, wo sie sich verbargen, und ich war gut und schnell. Als Erstes zog eine kleine Herde Mauerasseln in eine Margarinedose. Die wohnten unter den Gehwegplatten im Hintergarten, die hatte ich sofort. Leicht waren auch ein paar Hausspinnen und Weberknechte, auch deren Habitate im Geräteschuppen kannte ich exakt. Ich war sehr wählerisch und unterzog alle erbeuteten Spinnentiere einer eindringlichen Prüfung, aber schließlich hatte ich eine kleine Kollektion der Größten und Schönsten unter ihnen zusammengestellt. Die kamen einzeln in die Einmachgläser. Die Marienkäferlarven musste ich nur von den mit Läusen befallenen Pflanzen absammeln, die waren für den Kinderzoo. Die erwachsenen Käfer kamen dagegen in ein Einmachglas, weitere wurden befüllt mit Heuhüpfern, Kartoffel- und Laufkäfern, Tausendfüßern und Ohrenkneifern. Und schließlich hatte ich auch noch echtes Jagdglück, und stolz konnte ich eine der Großanlagen mit einem Hundertfüßer besetzen, ein wildes, schnelles, unberechenbares und einzelgängerisches Tier, aber ich trieb es geschickt in mein Fangglas. Weitere Spezial-Anlagen waren ein großes Aquarium, in dem ein Wasserkäfer sowie eine wirklich furchterregende Libellenlarve präsentiert wurden, und die Freiflugvoliere, in die ich zwei Zitronenfalter setzte. Sorgfältig trug ich die Artnamen in den Zooführer ein, malte erst einmal 50 Exemplare für den Anfang, und jetzt brauchte es nur noch eines: eine große, engagierte Werbekampagne. Ich malte Dutzende Flugblätter, auf denen ich die Neueröffnung des »Zoo Gremmendorf« verkündete, Öffnungszeiten täglich von 15-18 Uhr, Eintritt 50 Pfennig. Die steckte ich im ganzen Viertel in alle Briefkästen. Ich hatte erst erwogen, meine Freunde und Bekannten persönlich einzuladen, aber nahm dann doch davon Abstand. Ich wollte echte, selbst erarbeitete Besucher, sonst bräuchte ich schließlich keinen Zoo zu eröffnen.
Am ersten Tag setzte ich mich um halb drei vorne an die Straße, ein großer Karton diente als Kassenhäuschen, darauf stellte ich eine unbesetzt gebliebene Margarineschachtel für die Einnahmen. Erwartungsvoll blickte ich die Straße entlang. Mehrere Leute kamen in Sichtweite. Meine ersten Besucher? Aufgeregt harrte ich der Dinge. Nein, sie gingen einfach vorbei. Vielleicht trauten sie sich nicht rein? Sie mussten doch von dem neuen Zoo gelesen haben! Als um vier immer noch niemand da war, wurde ich misstrauisch. Was hatte ich falsch gemacht? Ich überlegte fieberhaft ... Ich Idiot! Natürlich! Ich hatte das Eingangsschild vergessen! Blitzschnell rannte ich ins Haus, um eines zu malen: ZOO GREMMENDORF, in Großbuchstaben, na also! Ich klebte es über den Briefkasten und setzte mich wieder ans Kassenhäuschen. Aber es geschah auch weiterhin nichts. Nur mein Vater kam von der Arbeit, sah mich, schüttelte still mit dem Kopf und ging rein. Ich hätte ihn natürlich fragen können, ob er nicht meinen neuen Zoo angucken mochte, aber um nichts in der Welt wollte ich mir diese Blöße geben, nein, da sollte er mal schön selbst ankommen, der feine Herr Papa, wenn die Nachbarn es ihm hinter vorgehaltener Hand ins Ohr flüstern würden, was für einen tollen Zoo sein Sohn da aufgebaut habe, und er würde ganz beschämt sein, dass er selbst ihn noch gar nicht gesehen hat, ja, dass er ihn nicht einmal bemerkt hat! Der Eröffnungstag war, das musste ich mir um sieben eingestehen, eine Pleite auf der ganzen Linie. Abends in meinem Zimmer beschloss ich, die Werbung zu intensivieren. Fieberhaft malte ich neue Zettel, die ich am nächsten Morgen vor Schulbeginn im Viertel verteilen würde, und senkte den Preis auf 20 Pfennig. Ich deklarierte es als großes Eröffnungsangebot. Am nächsten Mittag bezog ich wieder Stellung. Und tatsächlich, um viertel nach drei kamen die ersten Besucher. Mist, es war nur der doofe Herwig mit seinem Vater, der sich ohnehin immer mit mir zum Spielen treffen wollte, dabei ging der nun wirklich gar nicht, ich wäre bei den anderen sozial geächtet, würde ich mich mit Herwig verabreden, aber das spielte in diesem Moment keine Rolle: Dies hier war beruflich, da musste man einfach ganz Profi sein. Souverän begrüßte ich meine Gäste, nahm ihnen zwei mal 20 Pfennig ab und dazu noch einmal 50 Pfennig für den Zooführer, dann führte ich sie durch die Sammlung. Ein erhebendes Gefühl! Nach dem Rundgang fragte Herwig natürlich gleich, ob er nicht mitmachen dürfe, er könne ja die Gehege saubermachen oder an der Kasse sitzen, aber ich musste ihm verkünden, dass wir derzeit leider noch keine Stelle zu besetzen hatten. Auch sein Ansinnen, dass wir doch noch gemeinsam spielen könnten, es wären doch eh keine Besucher da, wies ich brüsk zurück. Ich hatte zu tun. – Leider dann doch nicht, wie sich später herausstellen sollte, aber abends betrachtete ich fasziniert meine ersten eigenen Einnahmen, wieder und wieder zählte ich sie durch, der Grundstock für mein zukünftiges Vermögen. Und am nächsten Tag geschah es dann: Sabine! Sabine kam, um meinen Zoo zu besuchen. Ich hätte sie natürlich am liebsten einfach so reingelassen, aber das ging ja nun nicht, da musste man Privates von Geschäftlichem trennen, und so nahm ich ihre 70 Pfennig und führte sie herum. Da würden die anderen in der Schule morgen aber gucken, wenn Sabine jetzt plötzlich mit mir ging. Ich zeigte ihr die Mauerasseln, die sie nicht sonderlich beeindruckten. Bei den Spinnen sagte sie nur: »Iiiih, die sind ja voll eklig.« Ich war irritiert. Die schönen Spinnen! Aber ich würde sie schon noch rumkriegen. Die Schmetterlinge! Mädchen mochten Schmetterlinge, da war ich mir sicher. Also führte ich sie zur Freiflugvoliere. Die hätte ich allerdings vor der Öffnung noch mal kontrollieren sollen, die beiden tot auf dem Boden liegenden Zitronenfalter waren jetzt natürlich nicht so vorteilhaft. Auch im Aquarium war es zu einem Zwischenfall gekommen: Die Libellenlarve hatte den Wasserkäfer aufgefressen. Na ja, das konnte Sabine ja nicht wissen. Konnte sie doch: »Hier steht aber was von einem Wasserkäfer!«, deutete sie auf den Eintrag in meinem Plan, und ich stammelte irgendwas von der nächsten Erweiterungsstufe. Aber was sollte es, jetzt kam schließlich der ultimative Höhepunkt: der Hundertfüßer! Mit dem würde ich sie um den Finger wickeln. Feierlich öffnete ich die Schachtel, hob den kleinen Stein hoch, unter dem die Bestie saß – und tatsächlich: Aufgebracht flitzte er durch sein Gehege, respektgebietend und ehrfurchteinflößend, dieser wilde Jäger des Gartens, der König der Beete. »Boah, das ist ja voll eklig«, befand Sabine und präzisierte: »Du bist echt krank!« Sagte es, ließ mich stehen und ging nach Hause. Perplex schaute ich ihr hinterher. Ich beschloss, den Zoo für heute zu schließen, heftete ein Zettelchen an den Briefkasten – »Wegen Umbau vorzeitig geschlossen« –, ging in mein Zimmer und weinte ein bisschen.
Als ich am nächsten Mittag von der Schule kam, empfing meine Mutter mich aufgebracht an der Tür. »Was hast du da denn schon wieder angestellt!«, rief sie, »die ganzen Einmachgläser, alle im Garten herumgeschmissen und total verdreckt, die musste ich alle in die Spülmaschine packen!« Ich erstarrte. »Und die gute Tupperdose! Junge, die kannst du doch nicht einfach total einsauen, wieso hast du denn da überall Dreck reingefüllt, was soll denn das!?« Ich rannte nach draußen, aber es war nichts mehr zu retten. In der Mülltonne fand ich nur noch die Margarinedosen, aus denen ich die Kellerasseln befreien und wieder aussetzen konnte, aber der Rest der Sammlung war verloren. Der ganze Zoo – durch eine einzige Katastrophe ausgelöscht. Wie der Münsteraner Zoo im Zweiten Weltkrieg, dachte ich, denn das kannte ich von den großen Tafeln dort im Eingangsbereich. Es schien ein Fluch zu liegen über dieser Stadt.
Mein Freund ist Ausländer
ICH WUCHS AUF IN DEN ACHTZIGER JAHREN im bürgerlich geprägten Vorort Gremmendorf der bürgerlich geprägten Stadt Münster. Dort gab man sich weltoffen. Man war zwar konservativ, jedoch in vernünftigem – sagen wir mal: CDU-konformem – Rahmen liberal. Man hatte also nichts gegen Ausländer. Das sind nämlich oft ganz ordentliche Leute. Sehr fleißig. Die Pizzabäcker zum Beispiel. Allerdings gab es damals keine Pizzeria in Gremmendorf. Aber in Hiltrup, und die sind da sehr anständig, sagten die Richters jedenfalls. Rassismus, Ausländerfeindlichkeit, all die fiesen Sachen aus dem Fernsehen waren in Gremmendorf nicht wohl gelitten. So etwas gab es dort nicht. Ausländer allerdings auch nicht. Außer den Engländern. Davon gab es massenhaft, denn Gremmendorf war besetzt. Im Grunde war ja ganz Münster, um nicht zu sagen ganz Nordrhein-Westfalen besetzt von den Engländern, nach dem Krieg nämlich, aber inzwischen waren das ja gar keine richtigen Besatzer mehr, und sie fielen auch kaum auf. Die »Tommys«, wie mein Vater sie im vertraulichen Kreis manchmal nannte, das aber sicher nicht böse meinte, sollte es überhaupt irgendetwas Böses bedeuten, hatten hinter ihren hohen Mauern mit dem aufgesetzten Stacheldraht angeblich alles: Schulen und Läden und sogar eine Videothek, munkelte man. In Gremmendorf gab es keine Videothek. Etwas geheimnisvoll war es also schon, und fasziniert blickte ich auf die Abgrenzungen des Kasernengeländes, das zwischen meinem Stadtteil und der City lag, wann immer wir in die Innenstadt fuhren. Wohnen allerdings taten die Engländer dort nicht, sondern ein paar Straßen entfernt von unserem Haus, in einem Viertel, dessen Straßennamen ausgerechnet die abhanden gekommenen Ostgebiete in Erinnerung hielten. Die englischen Wohnhäuser standen in der Pommernstraße, der Schlesienstraße, auf dem Ostpreußenweg. Von der Anwesenheit der Engländer in der direkten Nachbarschaft bekamen wir Kinder aber nicht mehr mit, als dass zweimal jährlich die Scheiben klirrten, der Erdboden erzitterte und infernalischer Lärm vom Albersloher Weg drang. Dann fuhren sie mit ihren Panzern über die Straße, zum Manöver, wie Mutter erklärte, und Vater kam nach der Arbeit fluchend zu spät nach Hause, weil deswegen die Ausfahrtsstraße verstopft war und er im Stau stand. Alle Kinder in Gremmendorf sind so aufgewachsen. Nachdem sie in ihrem ersten Lebensjahr zweimal ordentlich durchgeschüttelt worden sind, haben sie sich daran gewöhnt, und später nahmen sie kaum noch Notiz von dem Ereignis; nur die Hausfrauen wussten dann, dass sie noch etwas Zeit hatten, bis sie die Kartoffeln aufsetzen mussten.
Abgesehen von den Panzerkolonnen auf der Straße bekamen wir die Engländer eigentlich nie zu Gesicht. In der Schule nicht, denn sie hatten ihre eigenen Schulen, im Supermarkt nicht, denn sie hatten ihre eigenen Supermärkte, und in der Kirche auch nicht, denn sie hatten überhaupt keine richtige Kirche, wie Pfarrer Ording erklärte, aber trotzdem seien sie ganz anständige Menschen. Nur ihre Kinder spielten gelegentlich wie wir draußen, aber auf ihren Straßen, drüben in den Ostgebieten, nicht bei uns auf dem Otto-Hersing-Weg (laut Straßenschild: »Berühmter U-Boot-Kommandant im 1. Weltkrieg, Retter der Dardanellen«). Pommern und die Engländer waren für uns gleichermaßen weit entfernt. Etwas, von dem man wusste, dass es existierte, mehr nicht. Wir blieben in unserer Straße, die mir zehn Jahre später völlig überraschend eine gelbe Ecke im Trivial Pursuit bescheren sollten, obwohl ich keine Ahnung hatte, wer die Dardanellen überhaupt waren. Als Kind hatte ich mir unter ihnen so etwas wie ein wildes Reitervolk vorgestellt, die Nachbarn der Tartaren und der Mongolen sozusagen, die vom tapferen Namenspatron unserer Straße vermutlich vor den bösen Russen geschützt wurden.
Denn obwohl Ausländern insgesamt nichts vorzuwerfen war, verhielt sich das beim Russen doch deutlich anders. Als kleiner Junge, als sich allmählich herausstellte, dass die Welt insgesamt doch erheblich unübersichtlicher war, als zunächst angenommen, bemerkte ich eines Tages plötzlich, dass der Eiserne Vorhang direkt entlang unserem Vorgarten verlief, zwischen uns und unseren Nachbarn, mit deren einige Jahre älteren Kindern ich groß geworden war, na ja, so groß wie man als Zehnjähriger eben ist. Es war 1980, die Geschwister von nebenan trugen seit neuestem Strickpullover und lange Haare, was meine Eltern für hinnehmbar hielten, solange diese gepflegt seien, aber ich wurde dennoch zum Frisör gezwungen. Jedenfalls erfuhr ich von den Nachbarskindern Schreckliches über Atomwaffen: dass die uns alle umbringen würden, wenn die Amerikaner durchdrehten. Ich bekam Angst und begann hysterisch zu heulen. Wir würden alle sterben! Offenbar etwas verunsichert über die Wirkung ihrer politischen Mission versuchten sie, mich zu trösten. Sie würden bald nach Bonn fahren, um gegen irgendeinen Doppelbeschluss zu demonstrieren, das sei ganz wichtig, und außerdem könnte man bei der Bundestagswahl demnächst ja jetzt auch die Grünen wählen, die seien dagegen, dass wir an Atomstrahlen sterben. Ich beruhigte mich allmählich wieder. Es gab also Hoffnung.
Zu Hause fragte ich meine Eltern gleich, wann wir nach Bonn fahren würden. Mein Vater war entgeistert. Wir würden überhaupt nicht nach Bonn fahren, und schon gar nicht an einer Demonstration teilnehmen, das seien doch alles nur langhaarige Chaoten, die von Moskau gesteuert würden. Ich fing an zu kreischen. Aber ich hatte noch Hoffnung und fragte, ob sie denn wenigstens die Grünen wählen würden? Mein Vater verneinte schockiert, ich schrie wie am Spieß und warf ihm vor, dass er Schuld sei, dass wir jetzt alle an Atomen sterben mussten. Er schickte mich aufs Zimmer, ich heulte weiter, und später setzte er sich zu mir ans Bett und erklärte mir, dass die russischen Menschen sicher auch irgendwie ganz nett seien, aber ihre Regierung, die würde uns überfallen und ausrauben, wenn man sie ließe, aber die Amerikaner und die Engländer beschützten uns, und dafür brauchten sie die Atomraketen. Ich beruhigte mich allmählich wieder, hatte aber in der folgenden Zeit nachts ständig Albträume, in denen gemeine Strahlen sich durch mein Herz bohrten, und ein tief sitzender Zweifel wuchs allmählich in mir heran, denn es war ja ganz offensichtlich, dass hier eine meiner beiden wichtigsten Bezugsgruppen – nämlich die Nachbarskinder oder meine Eltern – sehenden Auges unser aller Tod riskierten, und dass es offenbar auch gar nicht stimmte, dass alle Ausländer anständig waren, denn entweder waren ja nun die Russen oder die Amerikaner und die Engländer mindestens zweifelhaft, ja, irgendwie schien überhaupt vieles nicht zu stimmen.
Dass wurde mir noch um einiges klarer, als ich ein Jahr später tatsächlich meinen ersten richtigen Engländer traf. Mitten auf dem Otto-Hersing-Weg. Er war ungefähr so alt wie ich und konnte ein paar Brocken Deutsch. Ich war unglaublich aufgeregt und so freundlich zu ihm wie möglich, um zu beweisen, dass ich ganz bestimmt nichts gegen Ausländer hatte. Er bestaunte mein neues Fahrrad und wollte damit mal eine Runde drehen. Begeistert gab ich es ihm. Ich sah ihn nie wieder. Mein Fahrrad natürlich auch nicht. Mein Weltbild erzitterte, als sei schon wieder Manöver. Und als schließlich zwei Tommys vor der Kasernenmauer in Gremmendorf aus einem fahrenden Auto heraus von der IRA niedergeschossen worden waren, und ich einige Tage darauf mit meinen Kumpels ehrfurchtsvoll die Einschusslöcher in den Ziegelsteinen betrachtete, da hatte ich endgültig begriffen, dass die Welt größer und komplexer war, als mein Stadtteil dies ursprünglich vermuten ließ.