Czytaj książkę: «Dien Bien Phu»

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Harry Thürk

Dien Bien Phu

Roman

mitteldeutscher verlag

Vorher …

Nach Jahrhunderten, die erfüllt waren von Stammesfehden und feudalen Auseinandersetzungen, hatte Vietnams Kaiser Gia Long es zu Beginn des 19. Jahrhunderts geschafft, das von der südchinesischen Grenze bis zum Delta des Mekong reichende Land mit einem funktionierenden Staatsapparat zu versehen. Wirtschaft, Handel und Handwerk entwickelten sich, und die aus vielen Nationalitäten bestehende Völkerfamilie des Landes formierte sich zu einer Nation.

Frankreich erkannte den ökonomischen und strategischen Wert von Besitzungen in dem aufblühenden indochinesischen Land sehr bald. Es nahm die angebliche Gefährdung von dort arbeitenden christlichen Missionaren zum Vorwand, um im Herbst 1858 Teile seiner Kriegsflotte vor Da Nang auffahren zu lassen und die Übergabe der Hafenstadt zu erzwingen. Das war der Startschuß für eine in den nächsten fünfundzwanzig Jahren – Schritt für Schritt mit Schwert, Betrug, Erpressung, Täuschung und Bestechung durchgeführte Kolonialisierung ganz Vietnams.

Später wurden noch Laos und Kambodscha (Kampuchea) unterworfen, und von da an flossen Milliardeneinkünfte nach Frankreich, obgleich es in der einträglichen Kolonie niemals ruhig wurde: Bauernaufstände, Erhebungen nationaler Minderheiten, Demonstrationen und Arbeiterrevolten rissen nicht ab.

Überhaupt war es die sich im neuen, dem 20. Jahrhundert zur gesellschaftlichen Kraft formierende Arbeiterbewegung, die schließlich die voneinander unabhängig um Freiheit und Gerechtigkeit kämpfenden Kräfte im Lande vereinigte und damit größere Erfolge möglich machte. Ho Chi Minh, ein junger Patriot aus Zentralvietnam, der um diese Zeit in Frankreich arbeitete, begründete dort 1922 die »Liga der Völker der französischen Kolonien«. Französischen Kommunisten war er damals schon ein Bruder im gemeinsamen Kampf. 1930, nach den ersten großen Streikkämpfen illegaler indochinesischer Gewerkschaften, entstand folgerichtig die Kommunistische Partei Indochinas, die am Vorabend des zweiten Weltkrieges, 1937, den Zusammenschluß aller antifaschistischen, patriotischen und antikolonialistischen Kräfte der Nation zu einer gemeinsamen Front begann.

»Viet-nam doc lap dong minh« hieß die große Organisation, »Liga für den Kampf um die Unabhängigkeit Vietnams«. Sie erstarkte schnell im Widerstand gegen die japanischen Okkupanten, die mit den in der Kolonie verbliebenen französischen Militärkräften ein Stillhalteabkommen hatten, das von den hitlerfreundlichen Vichy-Kollaborateuren inspiriert war.

So blieben die Partisanen der Unabhängigkeitsliga, »Vietminh« abgekürzt, die einzigen ernsthaften Gegner der Japaner in Vietnam während des zweiten Weltkrieges. Kurz vor dem Zusammenbruch und der Kapitulation Japans waren im Norden Vietnams bereits sechs Provinzen völlig befreit, und diese Zone »Viet-Bac« wurde das Zentrum des bewaffneten Aufstands, der nun im ganzen Land losbrach.

Im August 1945 kapitulierte Japan. Die »Vietminh« schlugen überall gleichzeitig los. Sie entwaffneten die noch im Lande befindlichen Japaner und siegten binnen weniger Tage. Am 2. September bereits proklamierte Ho Chi Minh in Hanoi die Unabhängigkeit Vietnams.

An der ersten Provisorischen Regierung der Demokratischen Republik Vietnam, die sofort ein Programm des Aufbaus und der Reformen in die Wege leitete, waren Vertreter aller nationalen Gruppierungen beteiligt. Es schien so, als hätte die vietnamesische Bevölkerung endlich, nach fast hundert Jahren, Freiheit und Eigenstaatlichkeit errungen.

Frankreich jedoch gab seine mündig gewordene Kolonie nicht frei. Noch im September 1945 landeten zusammen mit britischen »Ordnungstruppen« die ersten französischen Soldaten in Saigon. Ein französisches Expeditionskorps unter General Leclerc folgte. Der Angriff auf die Volksmacht begann. Aber er traf auf stärkeren, bewaffneten Widerstand, als die Franzosen erwartet hatten.

Überall in der Welt, vor allem aber in Frankreich selbst, stieß das Vorgehen gegen Vietnam auf eindeutige Ablehnung. 1946 sah sich daher die französische Regierung genötigt, mit der Demokratischen Republik Vietnam zu verhandeln, die im Handstreich nicht auszulöschen gewesen war. Ho Chi Minh reiste nach Paris.

Im März 1946 anerkannte die französische Regierung in einem Abkommen, dessen Detailfragen 1947 geregelt werden sollten, grundsätzlich Vietnam als »freien Staat mit eigener Regierung, eigenem Parlament, eigenen Streitkräften und Finanzen«. Allerdings hatte sie dabei vorerst nur den Norden und die Mitte des Landes im Auge. Der Süden sollte später durch eine Volksabstimmung über seine Zugehörigkeit zur DRV entscheiden. Dennoch – Frankreich akzeptierte, Vietnam bis April 1951 völlig zu räumen.

Für die DRV war das Abkommen (auch als »modus vivendi« bezeichnet), nicht voll zufriedenstellend. Aber Ho Chi Minh unterzeichnete es trotzdem. Er wollte Franzosen wie Vietnamesen einen vielleicht jahrelangen, verlustreichen Kolonialkrieg ersparen.

Seine Friedensbereitschaft wurde nicht belohnt. Während in Hanoi eine Kommission der DRV-Nationalversammlung am Entwurf der ersten Verfassung arbeitete, provozierte die französische Flotte in Haiphong schwerwiegende Auseinandersetzungen. Einige tausend vietnamesische Opfer waren zu beklagen. Und Frankreichs Kommandeure erhielten aus Paris den Befehl, die Situation auszunutzen und mit jedem nur verfügbaren Mittel die Regierung der DRV zu entmachten. Der nächste Akt war ein französischer Angriff auf den Sitz des Präsidenten Ho Chi Minh, und danach die Aufforderung an die Streitkräfte der DRV, die Waffen niederzulegen.

Damit begann der französische Kolonialkrieg gegen den neuen Staat. Er sollte siebeneinhalb Jahre dauern. Dann war Frankreichs Expeditionskorps strategisch am Ende. Nur die Generale und die hinter ihnen verborgenen Interessengruppen aus Wirtschaft und Politik, für die Indochina unverzichtbar schien, wollten das Handtuch nicht werfen. Sie schickten Henri Navarre als neuen Chef des Expeditionskorps nach Vietnam. Er sollte die noch junge, in vieler Hinsicht schlecht ausgerüstete Volksarmee der DRV in eine sogenannte offene Feldschlacht locken, in der die Franzosen letztlich doch noch den Sieg zu erringen hofften.

General Navarre, mit dessen Dienstantritt in Vietnam dieses Buch beginnt, wählte als Platz für die Entscheidungsschlacht Dien Bien Phu aus. Er wußte genau, daß er die Entscheidung dort in sehr kurzer Zeit erringen mußte: Für den Frühling 1954 war von den Außenministern der westlichen Großmächte auf Drängen der Sowjetunion Genf als der Ort vereinbart worden, an dem eine internationale Konferenz den Indochinakrieg beenden sollte …

Ho Chi Minh

Jahrgang 1890, die herausragende Persönlichkeit der vietnamesischen Revolution, wuchs in einer Familie auf, in der die Gedanken an Freiheit und Unabhängigkeit stets wach gewesen waren. Günstige Umstände erlaubten es ihm, sich Schulbildung zu erwerben, und der wißbegierige Nguyen Van Thanh, wie er eigentlich hieß, übte später sogar den Beruf eines Lehrers in einer Schule aus, die von einer Fabrik in Huê unterhalten wurde.

Bald erkannte der junge Revolutionär jedoch, daß er zuwenig von der Welt wußte, um der Befreiungsbewegung im Vaterland eigene Impulse zu geben, und weil es ihn dazu drängte, heuerte er kurzerhand als Hilfskoch auf einem französischen Dampfer an: ein erster Schritt zur entscheidenden Erweiterung seines Horizontes.

Er wechselte, um die Spur zu verwischen, seinen Namen, und er sah nicht nur Frankreich, sondern auch Spanien, Portugal, England, die afrikanischen Länder am Mittelmeer und Irland.

Während des ersten Weltkrieges arbeitete (als Fotograf) und studierte er in Frankreich, später in den USA. Bei Kriegsende, eng verbunden mit der Sozialistischen Partei Frankreichs, übergab er der Versailler Konferenz eine Denkschrift über sein unterdrücktes Volk.

Seine politische Arbeit wurde immer zielstrebiger. So gehörte er zu den Gründungsmitgliedern der KP Frankreichs und war der erste vietnamesische Kommunist, der fortan im Kolonialland Frankreich für die Unabhängigkeit kämpfte. Er verfaßte eine Vielzahl politischer Schriften und gab eine in seinem Land viel beachtete Zeitschrift heraus. Sein politischer Weg führte ihn weiter: in die Sowjetunion zur Kommunistischen Internationale, nach China, Deutschland, der Schweiz und wieder zurück nach Asien, wo er 1930 mit anderen Revolutionären die KP Indochinas gründete.

Von da an war er der kluge, welterfahrene, am Internationalismus orientierte Führer der vietnamesischen Befreiungsbewegung, die zuerst gegen die japanische Besatzung bewaffneten Widerstand leistete, die Okkupanten besiegte und die Republik proklamierte.

Damit aber begann ein neuer Kampf gegen den alten Feind, den französischen Kolonialismus. Er führte nach Siegen und Niederlagen schließlich zu der letzten Schlacht, um Dien Bien Phu, die endlich die Unabhängigkeit Vietnams von Frankreich zur Tatsache machte.

Truong Chinh

Der 1907 in der Provinz Nam Dinh geborene Lehrerssohn gehörte seit seinem 18. Lebensjahr zur revolutionären Bewegung in Vietnam. Drei Jahre später verhafteten ihn die Franzosen, und er mußte sechs Jahre im Gefängnis verbringen. Nach Beginn des zweiten Weltkrieges kämpfte er als Partisan zuerst gegen die japanischen Okkupanten und später wieder gegen die Franzosen, die ihn in Abwesenheit zum Tode verurteilten. Truong Chinh leitete das oberste Gremium des Volksaufstandes gegen die zurückgekehrten Franzosen.

Seit 1941 war er Generalsekretär des ZK der Partei. Mit Ho Chi Minh, Pham Van Dong und Vo Nguyen Giap zusammen war er an der Planung und Leitung der Schlacht um Dien Bien Phu beteiligt.

Pham Van Dong

1906 geboren, gehörte er schon als Student zur revolutionären Bewegung in Vietnam. 1929 wurde er von den französischen Kolonialtruppen gefangengenommen und auf die berüchtigte Gefängnisinsel Poulo Condor geschafft.

1936 konnte er freikommen. Von da an arbeitete er mit anderen führenden Revolutionären, vor allem mit Ho Chi Minh, an der Befreiung, lange Zeit im Süden des Landes. Er wurde Außenminister der Volksregierung. 1954 nahm er als Vertreter der DRV an der Genfer Konferenz über die Beendigung des Indochina-Krieges teil.

Vo Nguyen Giap

Er wurde 1912 in Vinh (Zentralvietnam) geboren und reihte sich bereits als junger Mann in den antikolonialistischen Kampf seines Landes ein. Während er später an der Universität Hanoi Geschichte und Geographie lehrte, gehörte er schon zum Zentrum der kommunistischen Bewegung und arbeitete illegal mit Ho Chi Minh zusammen.

1940 entzog er sich der drohenden Verhaftung durch Emigration nach China. Doch bereits zwei Jahre später war er wieder in seiner Heimat, wo er im bewaffneten Widerstand gegen die ins Land eingedrungenen Japaner aus den ersten, verstreut operierenden Partisanengruppen den Kern der späteren Volksarmee formierte.

Ho Chi Minh hatte schon in den Anfängen des antikolonialistischen Aufbegehrens die großen Fähigkeiten des Historikers Giap erkannt und arbeitete eng mit ihm zusammen. In der ersten Provisorischen Regierung der mit der Augustrevolution 1945 ausgerufenen Republik Vietnam bekleidete Giap das Amt des Innenministers. Mit Einsetzen der französischen Intervention und der Verstärkung des Befreiungskrieges widmete er sich mehr und mehr militärischen Aufgaben und entwickelte sich zu einem umsichtigen mutigen Feldherrn. 1953/54 leitete er die Operationen der Volksarmee bei Dien Bien Phu, die das Ende des französischen Kolonialregimes herbeiführten.

Bis ins hohe Alter blieb Giap an der Seite des Präsidenten Ho Chi Minh Verteidigungsminister.

Gaston le Fou

»Alle Huren versammelt?« fragte der Capitaine in streng militärischem Ton, als sich am Eingang der Maison de France, dem Sitz des französischen Hochkommissars von Vietnam, der Wachführer, ein Lieutenant, vor ihm aufbaute.

»Geh nach Hause, Gaston«, riet der Lieutenant dem Capitaine mit gedämpfter Stimme. »Du weißt, es gibt Ärger …«

Der Capitaine ließ sich nicht so einfach abweisen. Für heute, den 21. Mai 1953, hatte Hochkommissar Jean Letourneau, den manche Leute den biblischen Fürsten von Tongking nannten, zu einem großen Abendempfang eingeladen. Hanoi war um diese Zeit schon ein ziemlich heißer Ort, es gab keinen Regen. Wie immer unterschieden sich hier im Delta des Roten Flusses die Tagestemperaturen kaum von denen, die abends und nachts herrschten. Altgediente Kolonialoffiziere allerdings meinten, dieser auslaufende Frühling gliche einem angenehmen europäischen Hochsommer.

»Ich muß die Ärsche aller Huren sehen!« beharrte Capitaine Gaston Janville. »Nur wenn ich die Ärsche kontrolliere, kann ich Dung wiedererkennen. Im Gesicht unterscheidet sie sich kaum von tausend anderen Gelben, besonders wenn sie sich schminkt. Aber ihr Arsch – er ist unvorstellbar. Und unverwechselbar, seit damals nämlich …«

Der Wachführer zog ihn behutsam von der Freitreppe fort, zur Seite, wo er versuchen wollte, ihm das Eindringen in die feine Abendgesellschaft des Hochkommissars auszureden. Jeden anderen hätte der Lieutenant sofort abführen lassen – Gaston war ein Sonderfall. Man nannte ihn nicht umsonst Gaston le Fou, Gaston der Narr. Und so hörte er sich geduldig wieder einmal die alte Geschichte an, die er längst kannte: Dung, eine vietnamesische Prostituierte, war die große Liebe des Capitaine gewesen, bevor man ihn mit einer kleinen Truppe nach dem östlichen Laos geschickt hatte, auf Fernpatrouille. Oberbefehlshaber Salan hatte sich eine nachhaltige Störung der laotischen Befreiungsaktionen von solchen schlagkräftigen Einheiten versprochen. Von versteckten Stützpunkten aus sollten sie das Hinterland des Gegners verunsichern. Gaston Janville war auf dem Hügel 743 gelandet, zwölf Soldaten, mitten im ewig grünen, verfilzten Regenwald des nördlichen Laos, wo es zwischen Hügeln und Flüssen keine Straßen mehr gab, nur noch schwer zu entdeckende Pfade und Wildwechsel.

»Sie ist als Kind von einem Affen gebissen worden. Eine schreckliche Wunde, deren Narbe heute noch zu erkennen ist. Wenn ich nur die Ärsche kontrollieren kann …«

Er wollte wieder zum Eingang, aber der Chef der Wache hielt ihn mit sanfter Gewalt zurück und redete beruhigend auf ihn »Sie ist nicht unter den Weibern hier, Gaston. Ich habe sie selbst in Saigon gesehen; sie lebt jetzt dort!«

Janville schüttelte den Kopf. »Das würde sie nie tun, lieber Freund! Sie ist mir treu. Sie wartet auf mich, sie erkennt mich nur nicht. Es war dunkel, damals. Und ich muß ihren …«

»Ja, ja«, fiel der andere ihm ins Wort. »Wenn du die Narbe siehst, klar. Nur – Dung lebt tatsächlich in Saigon. Findest sie im ›Arc-en-Ciel‹; das Lokal gehört ihr. Ehrlich, Gaston, du kannst mir das glauben, sie hat mich nämlich nach dir gefragt. Und jetzt geh, bevor es Ärger gibt. Saigon, ›Arc-en-Ciel‹. Flieg mit der nächsten Maschine ’runter, mach sie glücklich!«

Es war dem Lieutenant gelungen, den anderen zumindest nachdenklich zu machen. Jedenfalls empfand er es so. Janville versuchte nicht mehr, sich aus dem Griff des Wachführers zu befreien.

Gaston war alles andere als bösartig, obwohl er gut einen Meter neunzig maß, ein Hüne mit kohlschwarzem Haar unter dem hohen Képi der Armee. Dunkle Augen, die hilflos blickten, wenn er nachzudenken versuchte, wie jetzt. Eines der unzähligen tragischen und von den meisten belächelten Schicksale, die es in dieser Kolonialarmee der Franzosen gab. Dort, auf dem obskuren Hügel 743, war er mit seinen Soldaten in einen Hinterhalt geraten. Wie alles verlaufen war, blieb ungeklärt, weil Gaston Janville der einzige war, der es überlebte. Seine Leute fielen unter den Schüssen der Pathet-Lao-Soldaten, die vor und hinter dem gepanzerten Mannschaftswagen, der die Truppe beförderte, je einen Baum so gefällt hatten, daß die Straße blockiert wurde. Janville war, wie er selbst sich nach und nach erinnerte, vor dem Fahrzeug im Schrittempo marschiert, um nach vorn zu sichern. Ihn hatte der vordere Baum voll getroffen, am Kopf. Viel später, als sich weitum nichts mehr regte, war Janville aus seiner Betäubung erwacht. Er hatte Mühe gehabt, sich zurechtzufinden, und war dann, nachdem er sich von jedem seiner toten Männer verabschiedet hatte, zwei Monate lang durch Busch und Savanne getrampt; allein mit seinem Kompaß und dem lächerlichen Dienstrevolver, den die Pathet-Lao-Soldaten übersehen hatten.

Als er beim ersten französischen Außenposten am Schwarzen Fluß ankam, war er nicht nur total erschöpft und halb verhungert gewesen, seine Haut war von Dschungelgeschwüren bedeckt, und widerliche Egel hatten sich an vielen Stellen festgesaugt – Janville konnte sich nur schlecht darauf besinnen, was überhaupt geschehen war. Er gab an, er käme von einer Beerdigung und hätte sich verlaufen.

Einige Wochen vergingen, ehe sich bei ihm Spuren von Erinnerung zeigten, doch auch was Janville dann erzählte, war konfus. Er blieb im Lazarett stationiert, ein Objekt besonderen beruflichen Interesses für die Ärzte dort, die außerdem der Meinung waren, der Mann sei in einem Lazarett der Armee am besten aufgehoben. Im zivilen Leben Frankreichs würde er nur als willkommenes Beispiel für die Verderbnis des Kolonialkrieges benutzt werden. Außerdem hätte er keine Chance, sich durchzubringen. Die nicht gegen den Kolonialkrieg opponierende Hälfte der Franzosen liebte den Helden, nicht den Krüppel.

So galt der ehemals fähige Capitaine als harmloser Idiot, dem jedermann alles verzieh, was er in seinem geistigen Dämmerzustand anstellte. Die Ärzte beobachteten gelegentlich Phasen, in denen er für kurze Zeit ein klares Bewußtsein zu haben schien, aber sie hielten nicht an, wurden auch nicht häufiger.

»Du bist sicher, sie ist in Saigon?« wandte er sich jetzt an den Wachführer. Der atmete erleichtert auf. Es schien, als besänne sich Gaston, als habe sich da just in diesem Augenblick eine Kette klarer Gedanken angekündigt. Am besten, ich schicke ihn schnell weg, solange die Einsicht anhält, dachte er. Deshalb nickte er zustimmend. »Saigon, da mußt du hin, wenn du sie sehen willst. Laß dir von den Kerlen im Lazarett einen Flug besorgen. Wo das ›Arc-en-Ciel‹ ist, sagt dir jedes Kind in Saigon.«

Er schob Janville an der Freitreppe vorbei dem Ausgang des Grundstücks zu. Auf der anderen Straßenseite lag das »Metropole«, Hanois größtes Hotel, bewirtschaftet von Monsieur Louis Blouet, der als vorsichtiger Mann in Paris ebenfalls noch ein Hotel betrieb. Aus dem »Metropole« kamen mehrere hohe Offiziere, vor denen der Wachführer am Fuße der Treppe zu salutieren hatte.

»Geh jetzt!« flüsterte er Gaston zu, der sich auf die Straße zu bewegte. Dann stellte er sich, wie es die Wachordnung vorsah, an der ersten Treppenstufe auf und kommandierte: »Achtung!«

Salan, der elegante Oberbefehlshaber mit den blankgeputzten Generalssternen, dessen Ablösung bevorstand, kam federnd heran, in den Augen das starre Blinken, von dem der Wachführer wußte, daß es vom Opiumgenuß herrührte. Er würde hier auf seinen Nachfolger treffen, den General de Corps d’Armée Henri Navarre, Viersterneretter Indochinas, wie die Witzbolde ihn jetzt schon nannten, obwohl man eigentlich Respekt vor ihm haben mußte. Er war ein Mann mit dem Ruf von Besonnenheit und nüchterner Berechnung. Ob er diese Eigenschaften auch hier unter der sengenden Tropensonne angesichts eines Gegners behielt, der keine der in den französischen Kriegsschulen gelehrten Prinzipien von Strategie und Taktik befolgte?

Brigadier Cogny schob sich leicht hinkend heran, der breitschultrige Zweimetermann, dessen Division die wichtigsten strategischen Punkte im Delta des Roten Flusses besetzt hielt. Dickfellig und jovial, ein Fuchs mit der Gestalt eines Ochsen. Um den neuen Oberkommandierenden gleich an seine Wesensart zu gewöhnen, trug er nicht Gala, sondern den gescheckten Kampfanzug: Dies hier, Hanoi, war ebenso Kriegsgebiet wie jede Straßenkreuzung im Umkreis von hundert Kilometern, also war er, der sich nicht ungern »Chef des Deltas« nennen ließ, im Dienst. Immer, auch auf Empfängen. Er tippte an sein Képi und nickte dem Wachführer zu, als er die Treppe hinaufstieg. Niemand hätte vermutet, daß er den Grad eines Doktors der Rechtswissenschaften besaß.

Im Unterschied zu ihm erschien General Gonzales de Linarès eher zierlich. Er war der militärische Chef aller in Tongking, dem Nordteil Vietnams, operierenden französischen Truppen. Unter der vorgehaltenen Hand wurde er allerdings »Bürgermeister von Gia Lam« genannt, weil er sich jenseits des schlammigen Flusses, am anderen Ende der Daumer-Brücke, das Töchterchen eines chinesischen Beamten zur Geliebten genommen hatte. Deren Vater beteiligte den Galan der Tochter, wie es hieß, an den Einkünften, die er aus schwer zu ermittelnden Quellen kassierte, hauptsächlich aus dem Baugeschäft um den französischen Militärflugplatz, in dem Linarès unauffällig vermittelte. Die kleine, zierliche, stark geschminkte Chinesin brachte den General nur bis zum Eingang des Gouverneurspalastes, weil sie da drinnen nicht erwünscht war. Französische Generale hatten Statusprobleme, wenn es um einheimische Geliebte ging. Das Chinesenmädchen ärgerte sich darüber nicht sonderlich. Für sie war Gonzales de Linarès ein nicht mehr sehr appetitlicher Kolonialfranzose, mit dessen Hilfe die Familie Reichtum erwerben konnte. Sobald sich dieser Reichtum in fünfstelligen Ziffern darstellte, wurde er jeweils umgehend nach Paris transferiert, auf eine sichere Bank. Liebe war hier ein Geschäft, nicht mehr. Der eine gab, der andere zahlte. Freundinnen wußten von der Geliebten des Oberbefehlshabers der Tongking-Truppen, daß er ungeschliffen war, ständig aus dem Mund roch, zu viel soff und während des Geschlechtsverkehrs laut zu furzen pflegte. Nun ja, er würde bald nach Frankreich zurückkehren, aber bis dahin konnte man die mit seiner Bekanntschaft verbundenen Vorteile noch nutzen.

Gerade war Linarès am Wachführer vorbei und in die Halle getreten, da zog Gaston le Fou draußen am eisernen Gittertor, wo die Geliebte des Generals noch neben dem Wagen stand, der sie nach Gia Lam zurückfahren würde, erneut seine Glanznummer ab. Er baute sich vor der Dame auf, die ihm knapp bis zur Brust reichte, und tippte an sein Képi. »Madame, darf ich Sie höflichst bitten, Ihren werten Arsch frei zu machen, damit ich mich überzeugen kann, ob Sie Dung sind?«

Er sagte das in nahezu perfektem Vietnamesisch, und er brachte seinen absurden Wunsch mit einem Ernst vor, der unweigerlich zum Lachen reizte. Auch die Chinesin empfand das so. Sie prustete los, hielt sich dann aber sofort die kleine, manikürte Hand vor den Mund und besann sich.

»Was wollen Sie?«, fragte sie drohend zurück, in leidlichem Französisch, obwohl sie sehr gut verstanden hatte.

Gaston Janville wiederholte sein Anliegen, ernst, in gemessenen Worten, aber so laut, daß es jeder, der sich auf dem Weg zum Palast befand, hörte und sogleich schallend auflachte. Janville schien das nicht zu merken; sein Gesicht blieb unverändert ernst. Die Puppenzüge der Chinesin hingegen verzerrten sich von einer Sekunde auf die andere zu einer haßvollen Maske. Und ihre Stimme kreischte los, daß der Wachführer wie von einer Sumpfschlange gebissen herumfuhr und zum Tor hinaussprintete.

»Aber Madame«, beklagte sich Gaston gerade, »Sie müssen nicht böse mit mir sein. Ich kontrolliere die Ärsche aller Huren in Hanoi, nicht nur den Ihrigen! Es geht um mein Lebensglück! Nur an der Narbe des Affenbisses werde ich Dung wiedererkennen. Sie müssen wissen, wir taten es stets so, daß ich eben diese Narbe die ganze Zeit vor Augen hatte. Sie genoß es am meisten so, Ihr Gesicht – nun, man schminkt es …«

Weiter kam er nicht. Der Lieutenant nahm ihn am Arm und zog ihn resolut beiseite, während er sich zugleich durch eine Handbewegung mit dem Türsteher vor dem »Metropole« verständigte: einen Wagen!

»Gaston!« fuhr er Janville an, »du machst mir Ärger!« Er wußte aus mehrfacher Erfahrung, daß es sinnlos war, dem Capitaine Vorhaltungen zu machen. Nein, lediglich geduldiges Zureden half. Deshalb versicherte er ihm: »Das war sie doch auch nicht, Junge! Die da kenne ich, sie hat einen ganz glatten Hintern, blank wie ein gewienerter Gewehrkolben. Du irrst dich. Und nun mußt du unweigerlich heim, ins Lazarett. Du erregst hier Ärgernis, und du bist doch ein französischer Offizier, oder?«

Die Chinesin schüttelte noch einmal ihre kleine Faust, während sie, zur Erleichterung des Wachführers, in den Wagen ihres Liebhabers stieg, der sofort anfuhr. Und dann erkundigte sich Gaston Janville bei dem Lieutenant plötzlich ganz erstaunt: »Ich habe Ärger erregt? Das wollte ich nicht! Wie kam es? Ich kann mich an gar nichts erinnern …«

»Siehst du all die grinsenden Leute da?«

»Willst du sagen, sie grinsen über mich?« Janville wirkte ernüchtert.

Der Wachführer hatte den Verdacht, daß in diesem Augenblick wieder einmal eine Phase klaren Denkvermögens bei Gaston dem Narren eintrat. Deshalb flüsterte er: »Ja, über dich grinsen die, weil du den Arsch der Matratze von Linarès sehen wolltest! Mensch, reiß dich zusammen, verschwinde!«

»Jesus«, murmelte Janville, »er wird mich in den Arrest werfen lassen!«

»Das wird er nicht. Du bist ein Held, und außerdem blessiert. Da kommt der Wagen, der bringt dich zum Lazarett. Tu mir den Gefallen und bleib dort!«

Es war ein Sanitätsfahrzeug, das der Türsteher des »Metropole« herbeigerufen hatte. Die Besatzung kannte Gaston. Sie nahm ihn ohne weiteres Aufsehen in Empfang, verfrachtete ihn in den Wagen. Dabei redete der Fahrer ihm zu, im Lazarett wartet sein alter Kamerad, der Commandant Prunelle, auf den Partner für das tägliche Vingt-et-un; die Karten seien schon gemischt.

Das half. Gaston drängte zur Eile, als er an den Commandant erinnert wurde. In der Tat schien sein Kopf jetzt ziemlich klar zu sein, und er erinnerte sich im Beisein der Sanitäter weder an Dung noch an die kleine Chinesin, sondern lediglich an Prunelle, den alten, ebenso klugen wie fatalistischen Commandant mit dem amputierten Bein.

Drinnen im Gouverneurspalast, der diesen hochtrabenden Namen gar nicht verdiente, denn das Haus war nicht viel mehr als ein mit geringem Aufwand geschaffenes Verwaltungsgebäude im Kolonialstil, standen die Gäste mit ihren Champagnergläsern in Grüppchen beisammen und tratschten. Niemand hatte bei einer Zusammenkunft dieser Art jemals etwas anderes erlebt: man ließ sich sehen und klatschte mit ebenfalls Gesehenen über jene die nicht zu sehen waren.

General Navarre, der zukünftige Oberkommandierende, bekam von Salan, den er ablöste, die höheren Offiziere vorgestellt, die er noch nicht kannte. Sie würden fast ausnahmslos in einigen Wochen ebenfalls ihre Koffer packen. Navarre wußte das, und er begrüßte sie mit jener höflich-zurückhaltenden Freundlichkeit, die überall auf der Welt benützt wird, um Desinteresse zu verschleiern. Die Mannschaft Salans, die schon zur Zeit von dessen gescheitertem Vorgänger De Lattre de Tassigny nach Indochina gekommen war, hatte ihre dreißig Monate Kolonialdienst abgeleistet, und damit war die wichtigste Voraussetzung für spätere Beförderungen, aber auch für die Pension erfüllt. Außerdem hatte Salan es geschickt verstanden, die Tatsache bekanntzumachen, daß Navarre nie in Übersee gedient hatte. Was konnte ein kolonialerfahrener Offizier schon unter einem so unbedarften Mann an Meriten erwerben?

Cogny, der Brigadegeneral mit der Herkulesfigur, war der einzige höhere Offizier, der bleiben würde. Er tat es nicht wegen Navarre; er kannte ihn kaum. Aber er liebte die Art, in der er hier Dienst machen konnte. Dies war ein Krieg, bei dem zwar nichts weiter herauskam, aber er erhob einen Offizier in die Position eines Paschas, dessen Macht am Stationierungsort so gut wie unbegrenzt war. Alles stand ihm zur Verfügung, von den besten, in Korea erprobten US-amerikanischen Waffen, über reichlichen Sold, bequeme Lebensbedingungen bis zu den Weibern, die man sich hier buchstäblich kaufen konnte: Was man in Paris fürs tägliche Schuheputzen bezahlte, reichte in Vietnam aus, um eine Gespielin einen ganzen Monat zu unterhalten.

Cogny ahnte nicht, daß Navarre sich bereits in Saigon bei Vertrauten sehr genau über die personellen Veränderungen in seinem Kommando informiert hatte, die für die nächste Zeit anstanden. Er hatte nicht nur einen Ersatzmann für Linarès parat, auch die Anwärter auf den Posten des Stabschefs in Saigon und des Chefs der Luftstreitkräfte standen bereits fest.

Für Cogny hatte Navarre den Oberbefehl über die Truppen in Tongking vorgesehen. Er hielt ihn für einen erfahrenen Mann, der ihm zur Hand gehen würde, vorausgesetzt, man ermunterte ihn. Navarre war klug genug, auf einen erfahrenen Mann wie Cogny nicht zu verzichten. Er kannte die Grenzen seiner eigenen Erfahrungen über diesen Kriegsschauplatz, der aus unermeßlichen Dschungeln, rauhen Gebirgen, Sümpfen und schlammigen Reisebenen bestand, aus wenigen Städten und einer Unzahl von winzigen, stets feindlichen Dörfern, aus brütender Hitze und sintflutartigem Monsunregen, aus Moskitos und Schlangen, Handgranaten werfenden Bäuerinnen und exakt schießenden Kindern.

In Paris war er durch Ministerpräsident Mayer von seinem Posten beim Oberkommando der alliierten Streitkräfte in Westeuropa zurückberufen worden. Der Zivilist Mayer war dem General ziemlich ratlos erschienen, als er ihm die Lage in Indochina schilderte: Rote, von den Truppen der Vietminh beherrschte Gebiete, die einen großen Teil Vietnams ausmachten, Unruhe in Kambodscha und die Gefährdung des gesamten nördlichen Laos durch die Pathet-Lao-Truppen, mit denen die des vietnamesischen Kommunistenführers Ho Chi Minh verbündet seien. Sie handelten koordiniert, mit dem Ziel, die von Frankreich erneut angestrebte Herrschaft über die Länder Indochinas zu vereiteln. Beinahe ein Jahrzehnt schlug man sich damit herum. Ein Erfolg Frankreichs wurde nicht einmal mehr von Optimisten für möglich gehalten.

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