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Harry Lehmann Oral – Literal – Digital Zur Genese einer digitalen Musikkultur

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Harry Lehmann

Oral – Literal – Digital

Zur Genese einer digitalen Musikkultur

Die Auswirkungen der digitalen Revolution auf die Gesellschaft zeigen sich vielleicht am prägnantesten in einem ihrer entlegenen Außenbezirke: der Musik. Mit dem Einbruch der Digitalisierung in die Kunstmusik kommt eine tausendjährige literale Musikkultur an ihr Ende und wird von einer digitalen Musikkultur abgelöst. Als Ausgangspunkt für diese Überlegung können uns zwei Bemerkungen von Niklas Luhmann dienen. Zum einen machte er den Vorschlag, »Kultur« als ein Zusammenwirken aller Kommunikationsmedien zu verstehen. Zum anderen sagte er, dass man von einer geschichtlichen »Epoche« nur dann sprechen könne, wenn sich mindestens drei Epochen anhand von zwei geschichtlichen Zäsuren unterscheiden lassen – ohne einen solchen gemeinsamen Vergleichsgesichtspunkt kann man jedes historische Ereignis zu einer Epochenzäsur stilisieren.1

Von der oralen zur literalen Musikkultur

In Europa lassen sich entsprechend drei große Musikepochen anhand ihrer spezifischen Kompositions-, Speicher- und Verbreitungsmedien differenzieren. Im gesamten Frühmittelalter beruhten die Medien der Musik ausschließlich auf dem Prinzip der Mündlichkeit; heute ist absehbar, dass Musik in Zukunft weitgehend digital komponiert, gespeichert, wiedergegeben und verbreitet wird. Insofern lässt sich eine vom Hochmittelalter bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts reichende literale Musikkultur, die auf der Notenschrift beruht, von einer oralen Musikkultur auf der einen Seite und einer digitalen Musikkultur auf der anderen Seite abgrenzen.

Das Ereignis, mit dem der Übergang von der oralen zur literalen Musikkultur sofort assoziiert wird, ist Guido von Arezzos Erfindung des Terzliniensystems mit Notenschlüssel, das der Benediktinermönch im Jahr 1026 im Micrologus veröffentlicht hatte. Allerdings kann man nicht ausschließen, dass bereits in den vorangegangenen zwei Jahrtausenden, in denen alphabetische Schriften existierten, ähnliche Aufschreibesysteme für Musik erfunden wurden. Eine technische Erfindung wird jedoch ein Bagatellereignis in der Geschichte bleiben, wenn es nicht in einen gesellschaftlichen Kontext fällt, wo es auf Interesse stößt und zu einem Attraktor für einen Evolutionsprozess wird. Ein solcher evolutionärer Kontext ist offenbar erst im elften Jahrhundert in Europa entstanden, in welchem die Musik in Gestalt von gregorianischen Chorälen ein fester Bestandteil der Liturgie war. Bei diesen Chorälen handelte es sich um einstimmige Chorgesänge, die ohne eine instrumentale Begleitung während der Gottesdienste aufgeführt wurden.

Insofern diese geistliche Musik ausschließlich mithilfe des menschlichen Gedächtnisses erinnert und verbreitet werden konnte, hatte man es hier mit einer oralen Musikkultur zu tun. An und für sich war das menschliche Gedächtnis als Speicher- und Verbreitungsmedium von einstimmigen Chorgesängen vollkommen ausreichend und stieß erst aufgrund von institutionellen Erfordernissen und theologischen Überlegungen in der römisch-katholischen Kirche an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit. Zum einen erhöhte sich mit der Zeit die Zahl der kirchlichen Feiertage, zu denen jeweils verschiedene Choräle aufgeführt werden sollten, was zur Folge hatte, dass die Ausbildungszeit der Chorknaben auf circa zehn Jahre anwuchs, bis sie das erforderliche Repertoire aus dem Gedächtnis singen konnten.

Der eigentliche Beweggrund, weshalb Papst Johannes XIX. sich persönlich im Jahre 1028 von Guido von Arezzo dessen Liniennotion vorführen ließ, dürfte aber ein theologischer gewesen sein. Die Kirche besaß ein genuines Interesse an der identischen Reproduktion der liturgischen Musik in allen ihren weit verstreuten Glaubensgemeinschaften. Einer wirkmächtigen Legendenbildung zufolge wurden die von Papst Gregor I. im sechsten Jahrhundert gesammelten und später nach ihm benannten Choräle diesem vom Heiligen Geist eingegeben, was auf entsprechenden Abbildungen so dargestellt wird, dass diese Melodien ihm von einer Taube ins Ohr gesungen werden. Ähnlich wie die Heilige Schrift das Wort Gottes dokumentiert, wurde auch den Chorgesängen ein göttlicher Ursprung zugeschrieben. Durch diese Art der nachträglichen Kanonisierung bekam die Musik einen genuin sakralen Charakter, führte aber zugleich zu dem sehr profanen Problem, dass in einer oralen Musikkultur permanent Erinnerungsfehler auftreten. Man versuchte diesem Dilemma zunächst dadurch zu begegnen, dass man kleine Symbole, die sogenannten Neumen, über die Textzeilen der Choräle schrieb, aber bei diesen handelte es sich nur um Erinnerungshilfen, die nicht wie das Notationssystem von Guido exakt die Tonhöhen notieren konnten.

Es waren also theologische Überlegungen zur Funktion von Musik in der römisch-katholischen Kirche, die den amtierenden Papst auf Guidos Erfindung aufmerksam werden ließen und schließlich auch zu deren Verbreitung und Akzeptanz in den Klöstern und im Gottesdienst führten. Was zu diesem Zeitpunkt niemand ahnte, war, dass die Kirche mit diesem Notationssystem nicht nur ein exakteres Speicher- und Verbreitungsmedium von gregorianischen Chorälen in Gebrauch nahm, sondern damit auch ein neues Medium der musikalischen Komposition in Umlauf brachte. Zunächst entwickelten sich in der Pariser Kathedrale von Notre Dame zweistimmige Chorgesänge, bis hier schließlich am Ende des zwölften Jahrhunderts die ersten vierstimmigen Choräle wie Viderunt omnes oder Sederunt principes von Pérotin entstanden. Diese polyfone Musik konnte nur im Medium der Notenschrift kreiert, erinnert und aufgeführt werden. Bei dem alltäglichen Gebrauch von Guidos Aufschreibesystem für die exakte Reproduktion von einstimmigen Chorälen hatte man die Mehrstimmigkeit entdeckt.

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