Czytaj książkę: «Der alte und der junge August», strona 2

Czcionka:

Göring heißt jetzt Meier

Als die Käthe-Kollwitz-Schule noch nicht Käthe-Kollwitz-Schule hieß, sondern Blücher-Oberschule4 und eine Bildungseinrichtung nur für Jungen war, wurde ich im Frühjahr 1943 dort in die 1. Klasse aufgenommen. Um aufgenommen zu werden, musste meine Mutter mich dem Rektor vorstellen. Das war damals Schulleiter i.V. Spindler, später Oberstudienrat Spindler, mein Biolehrer, genannt Spinne oder auch Bobbi. Bobbi – so hieß der Gorilla im Berliner Naturkundemuseum. Und ich wurde nach eingehender Befragung durch den Rektor in die 1. Klasse der Blücher-Oberschule für Jungen eingeschult.

Der Krieg dauerte, und die Bomben auf Berlin fielen immer öfter. Die Berliner nannten Göring jetzt Meier, denn so wollte der heißen, sollte auch nur eine einzige Bombe über Berlin abgeworfen werden. Wir wohnten damals in der Hufelandstraße 30, im Quergebäude, unsere Anderthalb-Zimmer-Wohnung hatte ihre Fenster zum zweiten Hof hinaus, und der grenzte an ein Hinterhaus in der Allensteiner Straße. Dort im Vorderhaus wohnte ein Spielkamerad von mir. Sein Vater betrieb einen Zwischenhandel mit Zutaten für Konditoreien und Bäckereien. Mein Spielkamerad versorgte uns, seine Spielkameraden, mit Marzipanstangen. Und dieser so großzügig handelnde Mensch wurde ein Opfer der ersten Luftmine, die über Berlin abgeworfen wurde. Die traf genau das Haus in der Allensteiner Straße, das an unseren zweiten Hof angrenzte.

Die Bewohner des gebombten Hauses saßen vorschriftsmäßig im Luftschutzkeller, die Luftmine zerriss die Hauptwasserleitung, der Keller wurde überflutet, die festverriegelten metallenen Luftschutzkellertüren verkeilten sich, die Bewohner des Hauses in der Allensteiner Straße ertranken. Granatsplitter in allen Größen zu sammeln und untereinander zu tauschen, das war damals für uns Knaben „in“, würde man heute sagen, für mich war das nach dem Bombentod meines Spielkameraden „out“.

Göring hieß weiterhin Meier, und die Bomben auf Berlin wurden immer mehr und immer größer. Und so ordnete die Schulbehörde im Prenzlauer Berg an, dass unsere Schule, im Zuge der seit einem Jahr praktizierten Kinderlandverschickung, in den Warthegau, einen von Deutschland okkupierten Teil Polens, umgesiedelt werden muss. Wir Schüler selbstverständlich mit.

Meiner Mutter war´s recht. Unseren Vater hatte das Vaterland an die Ostfront geschickt, mitzuwirken am vom deutschen Vaterland begonnenen Überfall auf die Sowjetunion. Mit den Zwillingen, 1940 geboren, konnte sie bei ihrer Tante in Liegnitz im Zuge der so genannten Evakuierung unterkommen. Reisen hat für Angehörige der „Unterschichten“ schon immer seinen besonderen Preis gehabt. Das Geld für eine Fahrkarte nach Liegnitz hätte sie im Frieden niemals gehabt. Und den Bruder Kalle hatte die KLV nach Ostpreußen reisen lassen.

Wir Blücher-Schüler sollten nach Litzmannstadt, dem polnischen Lodz, evakuiert werden, doch wir landeten in Kalisch. Kalisch? Wohin hatte es uns da verschlagen? Das schlaue Lexikon gab mir später noch einmal nähere Auskunft5:

Kalisz. Mittelpolnische Wojewodschaft. 6.512 km2. 650.000 Einwohner. Erstreckt sich über die Niederung des Flusses Prosna in der Tiefebene von Wielkopolska.

Vorwiegend Textilindustrie. Weiterhin: Lebensmittel-, Holzindustrie, Maschinenbau, Metallverarbeitung, Musikinstrumentenherstellung. Landwirtschaft: Getreide, Kartoffeln, Zuckerrüben, Schweinemast.

Kalisz. Bezirksstadt der gleichnamigen Wojewodschaft. Älteste Stadt Polens; 87.000 Einwohner.

Textil-, Chemie-, Lebensmittelindustrie, Maschinenbau. Theater, Museum; bauhistorisch wertvolle Altstadt (vorwiegend neoklassizistisch). Franziskaner-, Bernhardinerkloster.

Wir haben damals weder das Museum noch das Theater besucht, sondern wurden auf Panjewagen von Hilfsdienstwilligen, von den Reichsdeutschen höchst verächtlich als Wasserpolacken bezeichnet, nach Kreuzweg kutschiert, einem ehemaligen polnischen Lungenheilsanatorium. Und da gefiel es uns.

Nächtens mussten wir nicht in den Luftschutzkeller, es fielen auch keine Fliegerbomben, obwohl tagsüber hin und wieder amerikanische und englische Fliegerpulks über unser Lager hinwegdonnerten, gen Osten, vielleicht die Industrie um Litzmannstadt zu bomben. Deutsch und Englisch unterrichtete uns Erstklässler in der Oberschule Dr. Feist, der meinte, Englisch sei ziemlich einfach zu erlernen: „Hau du ju du, wiss´te wie ´nen Jummischuh!“ Mein Großvater kannte ihn von der Adventskirche und bezeichnete ihn als einen strammen Nazi.

Nachmittags hatten wir frei und tobten im weitläufigen Lagergelände, spielten Völkerball, oder unser Lagermannschafts-Fähnleinführer Günter Schabowski 6 hielt uns, wir saßen dann im Karree um ihn auf der Wiese hinter dem Hauptgebäude, aufmunternde Reden vom Endsieg. Das musste er wohl, denn eines Tages tauchte der HJ-Bannführer auf. Ein „von Glasenapp“ – schicke maßgeschneiderte braune SA-Uniform, schwarze blankgeputzte Stiefel – wir mussten antreten, er ließ vom Fähnleinführer sich melden, dass wir ‚flink wie Windhunde, zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl‘7 seien, überhaupt kerngesund und voller Siegeszuversicht.

Der Bannführer blieb über Nacht. Am nächsten Morgen hatte mich unser Fähnleinführer auserkoren, des Bannführers Stiefel zu putzen und zu wienern. Das gefiel mir gar nicht. Ich putzte und wienerte, und den Rest der Tube drückte ich ins Innere der Stiefelschäfte. Danach fühlte ich mich wohler, nicht bedenkend, dass meine „mutige Tat“ auch ins Auge hätte gehen können.

Der Winter war kalt und schneereich und die Zufuhr elektrischen Fernstroms oftmals unterbrochen. Im Keller war eine Maschine installiert, die, drehte man ihr großes seitlich angebrachtes Schwungrad, elektrischen Strom erzeugte. Und so wurden wir, besonders wir, die Jüngeren, in den Keller delegiert, um Strom zu machen. Wir taten es gern, denn da unten war es warm. Und – oho! – nicht nur das. In einer Ecke hatte die Wirtschaftsleiterin, die Ehefrau unseres Deutsch- und Geschichts- und Englischlehrers Dr. Feist, ihre Kartoffel- und Mohrrübenvorräte stapeln lassen.

Die so genannten Pferdemohrrüben, gelb, groß und süß, wurden von uns besonders bevorzugt, denn die allmorgendlichen Mehlsuppen stillten nicht unseren Hunger, auch nicht fünf und mehr volle Teller davon.

Der Winter 1943/44 war schneereich. Um dem Fähnlein- und Lagermannschaftsführer Schabo zu zeigen, dass wir schnell wie Windhunde, hart wie Kruppstahl und drahtig, ich hab´s vergessen, wie drahtig wir sein sollten, jedenfalls also, dass wir des Führers Worte verstanden und ebenso wie Krupp und die Windhunde und ja eben das andere sein wollten, rollten wir uns nach der morgendlichen Katzenwäsche mit nacktem Oberkörper auf der schneebedeckten Wiese hinter dem Haus. Das Haus hatte im Obergeschoß, mehr als dieses gab es nicht, drei Schlafräume, Saal 1 im rechten Giebel, Saal 3 im linken, und der Schlafraum 2 lag gegenüber der Treppe, war kein Saal und wurde von den älteren Schülern bewohnt, die noch nicht als Flakhelfer einberufen waren, bereit zu sein, für Volk und Führer sich totschießen zu lassen. Der Stube 2 gegenüber waren rechts von der Treppe Waschraum und Toilette, von den Zöglingen aller drei Schlafräume genutzt, und links der Treppe war die Sanitätsstelle. Als ich nachts einmal zur Toilette musste, ich hatte Durchfall, huschte aus dem Sanitätszimmer, in dem nachts die Nachtschwester Dienst tat, ein Knabe in den Schlafraum 2. Als ich nach ungefähr fünfzehn Minuten wieder retour war, dasselbe, wieder eine weißgekleidete Gestalt, die eiligst aus dem Sanitätsraum in der Stube der Älteren verschwand.

Anfangs, also im Herbst 1943, hatte ich mein Bett im Saal 1. Dort hatten wir Erstklässler tagsüber auch Unterricht. Von einem Lehrer, einem Studienrat aus der Friedrichshainer Andreas-Oberschule, behaupteten seine Schüler, die gleich wir hier in Kreuzweg gelandet waren, er habe das Wasserauto erfunden. „Spinnen“ war ein beliebter Sport, die Zeit von der Nachtruhe bis zum Einschlafen erträglicher zu machen.

Gespenstergeschichten standen hoch im Kurs, von einigen meisterhaft ausgedacht. Im Spätherbst wurde ich im Zuge einer Umorganisation – aus der Schlafstube 2 mussten einige in den Saal 1 umziehen – in den Saal 3 verlegt.

Ich hatte Glück, bekam wieder das obere Bett vom Doppelstock-Bett. Mir schräg gegenüber „wohnte“ Heinz Huth. Der spielte gern und laut und einfallsreich „feiger Verrat Badoglio“. Dieser hatte nämlich als Ministerpräsident Italiens am 3. September 1943 einen Waffenstillstand mit den Alliierten geschlossen, also mit unseren Todfeinden, den Amerikanern und Engländern und Franzosen.

Jungen im KLV-Lager: Immer hungrig und immer auf der Suche nach etwas zum Knabbern und nach Erlebnissen und Abenteuer.


Die 1. Klasse der Blücher-Oberschule aus Berlin 1943 im Kinderlandverschickungslager in Kalisch im damaligen Warthegau (Westpreußen), heute: Woiwodschaft Großpolen. Unter ihnen auch der junge August – der damals elfjährige Autor Hans Plaumann.

In den Freistunden nach Unterricht, Mittagsruhe und den Essenzeiten spielten wir im Winter im Essensaal, der dann zum Aufenthaltsraum wurde, Monopoly. Das Spielfeld und die Aktien dafür hatten selbsternannte „Insider“ gebastelt. Und wie in der realen kapitalistischen Ökonomie wurde hier im virtuellen Abklatsch gepokert, geblufft, gezockt, beschissen, betrogen, übervorteilt, bestochen, kurz geübt, was zukünftige Banker und Aktionäre so draufhaben müssen, um im realen Kapitalismus zu bestehen. Da ich dieses „Instrumentarium“ nicht so perfekt beherrschte wie einige andere Mitspieler, hatte ich das von der Bank mir zugeteilte Startkapital auch schnell und radikal verspielt.

Damals war ich darüber wütend, doch heute weiß ich es genauer, getreu dem bulgarischen Sprichwort:

Alles Schlechte hat auch was Gutes!

Schon damals also keimte in mir die abgrundtiefe Abneigung gegenüber einer Gesellschaftsordnung, in der ich heute lebe, oder auch prosaischer, damals wurde in meine Seele das Korn meiner antikapitalistischen Überzeugung gepflanzt. Später kamen noch viele Pflanzungen hinzu. Einer der wichtigsten für mich war Professor Hermann Duncker8. Er hat mit seinen Vorlesungen über dialektischen und historischen Materialismus, die ich 1948 gemeinsam mit einem Mitzögling aus dem KLV-Lager, Ingo Reschke, in der Volkshochschule in der Prenzlauer Allee besuchte, dieses damals gelegte Korn zum weiteren Wachsen gebracht.

In den Stunden nach dem Abendessen sammelten wir uns im Speisesaal und „Schabo“ las professionell aus dem Buch „Titanic: Die Tragödie eines Ozeanriesen“ oder er spielte auf dem Akkordeon, das er auf dem Tisch querlegte, so dass er tat, als spiele er Klavier. An der gegenüberliegenden Seite des Tisches saß einer von uns Zöglingen und zog und schob den Balg, um dem Akkordeon die für das Spielen benötigte Luft zuzuführen.

Im Sommer tobten wir durch die weitläufige Tannen- und Fichtenschonung vor dem Haus. Wir glaubten, Hasen zu jagen, doch fangen taten wir keinen. Oder wir holten die unter den Fichten- und Tannensetzlingen von uns versteckten Schmöker heraus, in denen Max Schraut9 von den detektivischen Leistungen seines Freundes Harald Harst berichtete. Wir hatten uns die Hefte von einer Berliner Versandfirma schicken lassen, ohne Wissen der Lehrer. Sicher war sicher! Deshalb die geheimen Verstecke in der Schonung.

Erst Sachsen – dann Berlin

Wir lebten sicher vor dem Krieg, so glaubten wir, in dem wunderschönen Haus im Wald. Nur die Briefe der Mütter von zu Hause und ihre darin beschriebenen Erlebnisse vom Krieg störten unsere Idylle. Unser Wissen über die Umwelt, die nährte sich aus gelegentlichen Ausflügen in die nächste Kreisstadt Bornhagen. Die Wirtschaftsleiterin schickte, selbstverständlich in Absprache und mit Erlaubnis des Direktors Tiedemann, kleine Gruppen von uns dorthin, um Lebensmittel und andere Wirtschaftsgüter, wie zum Beispiel Kerzen, Waschpulver, Petroleum, zu holen, die sie vorher persönlich bestellt und auch bezahlt hatte. In der Apotheke verkauften sie dunkelbraunen wunderbar süßschmeckenden Hustensaft, den tranken wir.

Auf dem Rückweg kamen wir an der Wassermühle vorbei. Das große hölzerne Mühlrad wurde vom Wasser eines kleinen Baches angetrieben. Dort, wo das Wasser, nachdem es seinen Lauf über die Mühlradschaufeln genommen hatte, wieder ins Bachbett zurückfiel, hatte es durch seinen Aufprall eine Art Bucht ausgehöhlt, groß und tief genug, dass wir an heißen Sommertagen, der Warthegau hat ein kontinentales Klima, also sehr warme Sommer und vergleichsweise kalte Winter, mit Lust und Wonne dort hineinsprangen. Ich lernte dabei schwimmen. Weiter auf unserem Weg von Bornhagen zurück nach Kreuzweg lag linker Hand das Gehöft eines polnischen Bauern. Paninetschka Pferdebuhl, ein Mitzögling, der wurde so genannt, weil er schon des Öfteren dieses Gehöft besucht hatte und einige Worte polnisch sprechen konnte.

Er nahm mich eines Tages auf dem Rückweg mit zu diesem Gehöft. Die Eingangstür war niedrig, mehr eine Pforte. Wir kamen in einen großen Raum, dieser nur wenig erhellt durch zwei kleine Fenster, links befand sich der Wohnraum, der wohl auch die Schlafstätte der Familie war, dahinter lag die Küche mit Herd und einer Handschwengelpumpe. Rechts der Eingangstür, durch einen Vorhang vom Hauptraum abgetrennt, war der Stall, dort standen eine Milchkuh und ein recht dünnes klappriges Pferd. Draußen vor und hinter der Hütte im Hof scharrten Hühner, gackerten Gänse.

Bauerngehöfte kannte ich im schlesischen Fischbach, wohin ich 1942 und 1943 im Rahmen der Kinderlandverschickung bei Klara und Hans Kroll untergekommen war. Er war Fleisch- und Trichinenbeschauer, sie führte den Haushalt, gelernt hatte sie das Handwerk einer Schneiderin. Während die Berliner Mitschüler, die bei Bauern untergebracht waren, schwer schuften mussten, wurde ich als Spielkamerad der beiden Grafenkinder vom Schloss, der Junge zehn Jahre, seine Schwester acht Jahre alt, geduldet und hin und wieder gerufen. Die Bauerngehöfte zwischen Fischbach und Krummhübel lernte ich kennen, weil mich Pflegevater Kroll auf seinen Inspektionstouren dorthin mitnahm. Die hatten stattliche Wohnhäuser, riesige Scheunen und Ställe mit mindestens zwei Pferden und mehreren Kühen, dazu Schweine und im Hof eine Heerschar von Hühnern und in einem umzäunten Garten Gänse und Enten. Allein schon der Dunghaufen mitten im Hof, riesig und im Winter in der Kälte dampfend, verriet den Reichtum dieser Bauern. Und nun diese armselige Hütte hier im Landkreis Bornhagen, im Warthegau, von Deutschland okkupiert, einst polnisches Staatsgebiet. Interessant, was hierzu der neudeutsche Brockhaus zu vermelden hat10:

Warthegau, Bessarabien. Deutsche Nachkommen der zwischen 1812 und 1842 ursprünglich im Süden Bessarabiens (heute Ukraine) angesiedelten deutschen Kolonisten (vor allem aus Schwaben und Mitteldeutschland), zumeist pietistische Protestanten. Nach dem deutsch-sowjetischen Vertrag vom 5.9.1940 Aussiedlung der etwa 93.000 Bessarabien-Deutschen und Ansiedlung im Warthegau beziehungsweise in Danzig-Westpreußen. 1945 Vertreibung.

Eine dieser umgesiedelten bessarabiendeutschen Familien wurde Nachbar von unserem polnischen Bauern. Die hatte natürlich nicht so eine mickrige Hütte, die wohnte in einem stattlichen Herrenhaus, das einem zuvor vertriebenen polnischen Gutsbesitzer gehörte, das hatte Ställe mit Rindern und Schafen und einen mit Reitpferden. Manchmal kam die bessarabiendeutsche Jungfrau mit ihrem Pferd uns im Lager Kreuzweg zu besuchen. Und nicht nur unser Fähnleinführer auch einige von uns Pimpfen durften dann auf das Reitpferd unserer bessarabiendeutschen jungen Nachbarstochter aufsitzen und eine Runde im lagereigenen Waldpark reiten.

Zu alle dem, über den altangesiedelten armen polnischen Bauern und den neuangesiedelten reichen Bessarabiendeutschen, machten wir uns weiter keinen Gedanken. Außer vielleicht Heinz Huth, dessen Eltern Kommunisten waren, wie er mir später einmal erzählte. Das war ebenso! Und kamen mir Zweifel, ob das alles rechtens sei, ob es nicht vielleicht doch auch anders bestellt sein könnte, dann dachte ich an meine eigene Familie. Vater war Schneider, war fleißig und in seinem Beruf geschickt, verdiente dennoch nur 240 Mark im Monat, kurz gesagt, wir waren arm. Viele meiner Mitschüler lebten in begüterten Familien, die konnten zum Beispiel wie die Piepers unserer Lehrerin Lipkow zu ihrem Geburtstag ein Stück Seife schenken. Und das im Krieg! Warum ist das so, fragte ich mich und immer öfter, je älter ich wurde.

Im April 1944 hieß es: „Wir fahren nach …!“ Nein, nicht nach Lodz11, sondern nach Kalisch. Zum 1. Mai sei dort ein großes Sportfest, eine Sportolympiade des gesamten Warthegaus zu Ehren … ich hab’s vergessen zu wessen Ehren. Also Kalisch oder auch richtiger: Kalisz – die Stadt, in der am 28. Februar 1813 ein preußisch-russisches Waffenbündnis beschlossen wurde mit dem Ziel, Napoleons Fremdherrschaft über Europa zu beseitigen. Weiter erfuhren wir bereits aus dem zitierten klugen Nachschlagbuch, dass Kalisz die älteste Stadt Polens ist und 87.000 Einwohner hat und einiges mehr.

Wir wurden in einem ehemaligen Fabrikgebäude untergebracht, in dem vor uns englische, französische, polnische abgeschossene Fliegerbesatzungen gefangen gehalten worden waren. Das sagte uns zwar niemand, aber wir fanden in den Blechschränken Fetzen von englischen und französischen Zeitungen, ein englisches Fliegerkäppi, leere französische Zigarettenschachteln. Abends gab es eine Art Grießbrei aus Maismehl, dazu Rhabarber und Milch. Diese Kombination hatte eine ungeheure Wirkung, nicht nur bei mir. Endlich graute der Morgen und mein Magengrimmen gab Ruh´.

Mich interessierte weder das Sportfest, noch dass in Kalisch irgendwelche Industrie vorhanden war. Ich wollte ins dortige Museum, aber dafür war keine Zeit, keine Gelegenheit, kein Interesse bei den uns anführenden HJ-Führern. Die hatten aus allen LKV-Lagern ihre Lagermannschaften in die Stadt ankarren lassen, und nun marschierten die und wir, in nach Fähnlein geordneten Marschkolonnen, vorneweg ein Musikzug mit Fanfaren, Trommeln und Landknechtspauken, durch die Straßen hin zum Stadion. Das lag in einem weiträumigen Park mit herrlich großen Bäumen, er erinnerte mich an den Friedrichshain bei mir zu Hause. Wir wohnten damals ganz in seiner Nähe in der Hufelandstraße 30. Und als ich daran so dachte, musste ich schlucken, vor Heimweh. Aber solch ein unmännliches Gefühl verging, wenn ich sah, wie uns die Straßenpassanten mit Hakenkreuzfähnchen begeistert zuwinkten. Das mussten welche von denen sein, die ich später, als ich als Korrespondent in Bonn arbeitete, von den Polen als zu Unrecht Vertriebene auf den Landsmannstreffen traf.

Für das großangekündigte Sportfest spielten wir Statisten, wurden zum Stadion befohlen, guckten zu, wie Sportskanonen hoch oder weit sprangen, schnell liefen, Speere warfen, Kugeln stießen, und das war´s auch schon für uns! Schön ordentlich sortiert marschierten wir wieder ab, in das umfunktionierte Fabrikgebäude, fassten Marschverpflegung und dann ab und zurück nach Kreuzweg! Und ich hatte doch gedacht: Oh ja! Kalisch sehen und … Nischt da! Ja, ja!

Noch vor den Sommerferien 1944 wurde ich nebst einigen anderen aus den Jahrgängen 1932/33 zu einem „Führernachwuchslehrgang“ geschickt. Der fand in einem Barackenlager weit entfernt von unserem Kreuzweg in der Nähe der Stadt Kalisch statt. Busse oder LKWs und Benzin gab´s wieder nicht, so kletterten wir denn auf Panjewagen, und die Pferdelenker machten aus der Fahrt eine Art Wettrennen. Sie droschen unbarmherzig auf die, wie mir schien, klapperdünnen Pferdchen ein. Das dämpfte nicht unerheblich meinen Spaß an der Fahrt.

Der Lehrgang dauerte zwei Wochen. Mir langte er schon nach einigen Tagen, obwohl das Essen reichhaltig war und auch schmeckte. Polnische Küche von polnischen Müttern gekocht, lecker! Der Unterricht langweilte mich. Wann und wo wurde Adolf Hitler geboren, was hat er in der Festungshaft geschrieben, was will er uns damit sagen, was will er aus Deutschland machen …? Alles Fragen, die wir beantworten sollten. Mich langweilte das, nicht weil ich etwas gegen das Pimpf-Sein hatte, sondern es war einfach uninteressant. Geländespiele, nach Karte laufen und sich orientieren, mit dem Luftdruckgewehr schießen, Fußball oder Völkerball spielen, ja das wär was, nicht aber: Wann wurde der Führer geboren und warum?

Die HJ-Führer, das waren die Lehrgangslehrer, merkten mein Desinteresse sehr bald und kommandierten mich zum Latrinensäubern mit einer Zahnbürste. Eine vollgeschissene, überquellende, stinkende Scheißbude. Ich rächte mich wenig später, als ich neben dem Lagertor die Aushängetafel unter Glas mit Propagandabildern über den siegreichen Kampf unserer Truppen ausrichten sollte. Ich klebte die Bilder verkehrt herum ein. Auch hierbei war mir nicht bewusst, welche Konsequenzen diese meine „Rache“ hätte haben können, hätte nicht der mir offenbar nachfühlende Kontroll-HJ-Führer, die falsch herum aufgehängten Bilder wieder ordentlich gerichtet.

Fast alle Lehrgangsteilnehmer wurden befördert, nur Trautmann nicht, Diedrich nicht und selbstverständlich ich nicht. Alle wir drei hatten uns der Ehre, Jungvolkführer zu sein, nicht als würdig erwiesen. Als ich später meinem Großvater August davon erzählte, meinte er, anderes habe er von einem Plaumann auch nicht erwartet. Und dann erzählte er mir seine Geschichte, weshalb und wie er aus Ostpreußen damals sich absetzte. Und ich stellte wieder einmal meine Lauscher auf.

Nach Kreuzweg zurückgekehrt, begann wieder das Einerlei des Lager- und Schullebens. Hilfreich ist es, wenn ein Zeitzeuge sich auch erinnert, an jene Zeit, die ich jetzt aus meinem Gedächtnis versuche aufleben zu lassen. Ein solcher Zeitzeuge ist mein alter Schulkamerad aus der Volksschule, der 31. für Knaben, der wie ich im Sommer 1943 in die Blücher-Oberschule für Jungen wechselte, Klaus E. Diedrich, mit Spitznamen Nibble. Er schickte mir Anfang Juli 2004 seine Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit in Kreuzweg. Warum wir ihm damals den Spitznamen „Nibble“ verpassten, das habe ich vergessen. Es kann schon sein, dass er häufig an etwas herumknabberte, immer auf der Suche nach etwas zum Mümmeln oder zum Nagen war. Wir waren ja damals fast immer hungrig. Wie dem auch sei, nachfolgend sein Bericht über das Leben im KLV-Lager und die Flucht aus Kreuzweg.

Darmowy fragment się skończył.

21,30 zł