Czytaj książkę: «Die Arbeiterin in Zürich um 1900»
Hans Peter Treichler
Die Arbeiterin
in Zürich um 1900
Sozialgeschichtliches auf den Spuren Verena Conzetts (1861-1947)
Conzett Verlag
Alle Rechte Vorbehalten
Nachdruck in jeder Form sowie die Wiedergabe
durch Fernsehen, Rundfunk, Film, Bild- und Tonträger,
die Speicherung und Verbreitung in elektronischen Medien
oder Benutzung für Vorträge, auch auszugsweise, nur
mit ausdrücklicher und schriftlicher Genehmigung des Verlags
1. Auflage 2011
© 2011 Conzett Verlag by Sunflower Foundation, Zürich
EPUB-ISBN 978-3-03760-023-8
Weitere Informationen finden Sie unter
www.conzettverlag.ch und www.sunflower.ch
eBook-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
Inhalt
Vorwort von Jürg Conzett
Einleitung von Andreas Urs Sommer
1. Die Arbeiterin
Scharen von Fabriklerinnen
Beengtes Zuhause
Kinderarbeit
Krank – was nun?
Endlich Sonntag
Zahlen zum Proletariat
2. Seine eigene Spur ziehen: Das Leben der Verena Conzett-Knecht
Die Stimme der Arbeiter
Höhen und Tiefen
Der «wilde Löwe von Chicago»
Für des Volkes Rechte, gegen alles Schlechte
Immer mit einem Fuss im Gefängnis
Hausfrau und Kauffrau
Neu aufgleisen
Vor dem Nichts
Die Entfremdung
Der Aufstieg
Lebensfazit
3. Arbeiteralltag: Wohnen, Essen, Haushalten
«Luft- und fensterlose Löcher»
Die ewigen Härdöpfel
Preise und Löhne
4. Solidarität: Erste Organisationen für Arbeiterinnen
Eine Gräfin weist den Weg
Schlüsseljahre
«Leider abgewiesen»
Jedes Jahr ein Kind
Prüde Genossen
5. Kämpfen für die Zukunft: Zürich 1875 bis 1900
Ein Buchbinder aus Breslau
«Was wollen die Sozial-Demokraten?»
Gegensätze
Anhang
Bibliografie
Textnachweise
Bildnachweise
Vorwort
Oft werde ich gefragt, ob der Name der Strasse, in der ich mein Büro habe, etwas mit mir zu tun habe. Ja, tatsächlich. Die kleine Verena-Conzett-Strasse ist nach meiner Urgrossmutter benannt, deren Lebensende mit meinem Geburtsjahr übereinstimmt und deren Geburtsjahr sich im Jahre 2011 zum 150. Mal jährt. Wenn ich in ihren alten Schriften lese, fühle ich mich innerlich verbunden mit ihren Ansichten. Grund genug, Hans Peter Treichler zu einer Art Sozialgeschichte mit biografischem Charakter zu bitten, Andreas Urs Sommer über Sozialpolitisches einst und heute nachdenken zu lassen und im MoneyMuseum eine eigene Ausstellung zur «Arbeiterin in Zürich um 1900» zu gestalten. Sie alle zeigen: Das Gefühl des Umbruchs, der Beschleunigung und der Zerstörung überlieferter Ordnung war damals so gross wie heute. Und die zentrale Frage für die individuelle Persönlichkeit bleibt die gleiche: Wie können wir es einrichten, dass unsere Erwerbsarbeit Selbstzweck wird – dass wir sie tun, weil wir sie tun wollen?
Jürg Conzett
Arbeit, Sklaverei und Selbstbestimmung
Eine Einleitung
Von den sozialen Zuständen, die Hans Peter Treichler in diesem Buch eindringlich schildert, können wir uns heute in Mitteleuropa kaum mehr einen Begriff machen. Kaum eine Leserin, ein Leser wird es wirklich nachfühlen können, wie das Leben einer Fabrikarbeiterin im späten 19. Jahrhundert ausgesehen hat. Die Welt, mit der uns Katalog und Ausstellung konfrontieren, ist uns fremd geworden. Und doch haben manche unserer Grosseltern und Urgrosseltern diese Welt noch hautnah erlebt, ja sie durchlitten. Die Not, die uns hier in Bild und Text vor Augen geführt wird, betraf jede Lebenslage: sehr lange Tages- und Wochenarbeitszeiten, Arbeit von Kindsbeinen an, kein Unfall- und kein Kündigungsschutz, keine Kranken- oder Rentenversicherung, geringe Bildungschancen, Mangelernährung und prekäre Wohnverhältnisse, die das Zusammenleben in jeder Hinsicht beeinträchtigten. Mit dem Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft kam die «Soziale Frage» aufs Tapet, die Frage also, wie mit den gewaltigen Missständen umzugehen sei, die der soziale Umbruch und das Ende traditioneller bäuerlicher (und bürgerlicher) Lebensformen mit sich brachte. Mit dem Fortschreiten der Industrialisierung konkretisierte sich die «Soziale Frage» als «Arbeiterfrage»: Wie sollten die Existenzbedingungen der neu entstandenen Scharen von Fabrikarbeiterinnen und Fabrikarbeitern – nicht selten Kindern – nachhaltig verbessert werden?
Nicht zufällig ist das 19. Jahrhundert auch das grosse Zeitalter der gesellschaftlichen Visionen und Reformideen. Es brachte den Sozialismus und den Marxismus ebenso wie den modernen Liberalismus und Utilitarismus hervor, die allesamt auf die «Arbeiterfrage» ihre Antworten formulierten. Selbst die katholische Kirche, die aus ihrer schroffen Ablehnung alles «Modernen» kein Hehl machte, sah sich zur Konzeption einer eigenen Soziallehre veranlasst. Ein Jahr nachdem die Hauptperson dieses Buches, Verena Conzett, Präsidentin des neugegründeten Schweizerischen Arbeiterinnenverbands geworden war, veröffentlichte Papst Leo XIII. 1891 seine Sozialenzyklika Rerum Novarum, die sich gegen die sozialistische Forderung nach Abschaffung des Privateigentums wandte und die Kirche selbst als Basis jeder gesellschaftlichen Ordnung verstand. Der Papst distanzierte sich dabei von einem Schlagwort der Französischen Revolution, nämlich von der Gleichheit: «Vor allem ist […] von der einmal gegebenen unveränderlichen Ordnung der Dinge auszugehen, wonach in der bürgerlichen Gesellschaft eine Gleichmachung von hoch und niedrig, von arm und reich schlechthin nicht möglich ist. Es mögen die Sozialisten solche Träume zu verwirklichen suchen, aber man kämpft umsonst gegen die Naturordnung an. Es werden immerdar in der Menschheit die grössten und tiefgreifendsten Ungleichheiten bestehen.» Der Klassenunterschied zwischen Kapitalisten und Arbeitern wird damit zementiert. Aber die Lehre der Kirche gebiete, so der Papst, dass Arbeiter und Arbeitgeber in Eintracht und Frieden kooperierten. Man sei aufeinander angewiesen: «So wenig das Kapital ohne die Arbeit, so wenig kann die Arbeit ohne das Kapital bestehen.»
Die «unveränderliche Ordnung der Dinge», die man kirchlicherseits beschwor, um Arbeiter und Arbeitgeber zu einem versöhnlichen Miteinander zu ermahnen, entsprach freilich nicht der vorherrschenden Erfahrung in dieser Zeit. Das Gefühl des Umbruchs, der Beschleunigung und der Zerstörung überlieferter Ordnung liess sich schon im späten 19. Jahrhundert nicht mehr so einfach wegreden. Man suchte nach neuen Begriffen, um mit aktuellen Erfahrungen umzugehen. Manche besannen sich auch auf alte Begriffe, mit deren Hilfe sie versuchten, die Gegenwart in Gedanken zu fassen. Als Verena Knecht, spätere Conzett, mit 13 Jahren in einer Zürcher Seidenfärberei als Hilfsarbeiterin ihre erste Stelle antrat, machte sich im nahen Basel der dortige Professor für Klassische Philologie – mit einem Jahresgehalt von 3000 Franken – Gedanken über die Frage, was uns Heutige denn von den alten Griechen unterscheide: «Wir Neueren haben vor den Griechen zwei Begriffe voraus, die gleichsam als Trostmittel einer durchaus sklavisch sich gebarenden und dabei das Wort ‹Sklave› ängstlich scheuenden Welt gegeben sind: wir reden von der ‹Würde des Menschen› und von der ‹Würde der Arbeit›.» Friedrich Nietzsche, der hier über die Gesellschaft seiner Gegenwart nachdenkt, zögert nicht, den noch fast rechtlosen modernen Industriearbeiter mit dem antiken Sklaven zu vergleichen, der quasi eine blosse Sache in der Hand des ihn besitzenden Herrn war. Für reines Wortgeklingel hält Nietzsche es, von der «Würde der Arbeit» und der «Würde des Menschen» zu sprechen, während in Tat und Wahrheit der nur schlecht verhüllte Sachverhalt der Sklaverei vorliege. Diese Diagnose führt Nietzsche allerdings nicht zu klassenkämpferischen Parolen: Zwar glaubt er im Unterschied zu Papst Leo XIII. nicht an eine «unveränderliche Ordnung der Dinge», hält aber dennoch die Fronarbeit von Sklaven für eine notwendige Basis grosser Kultur.
Diese politisch reaktionäre Auffassung, die Nietzsche später überwunden hat, war freilich schon damals keine längerfristig erfolgversprechende Option. Vielmehr wurde grundsätzlich die Notwendigkeit eingesehen, die Lebensbedingungen der Arbeiterschaft zu verbessern. Auch in einem Obrigkeitsstaat wie dem Deutschen Reich bescherten die Sozialreformen Bismarcks der Arbeiterschaft zunächst eine Krankenversicherung, dann eine Unfall- und schliesslich eine Rentenversicherung, die zu einer schrittweisen Verbürgerlichung der Industriearbeiterschaft führten. Diese Verbesserungen wurden nicht durch eine Revolution von unten erreicht, etwa durch die Enteignung der Kapitaleigentümer, sondern durch den Ausgleich der Interessen zwischen der Arbeiter- und der Arbeitgeberschaft. Gesellschaftlich-politische Initiativen, wie sie Verena Conzett sowohl in Interessensgruppierungen wie dem Schweizerischen Arbeiterinnenverband und dem Schweizer Arbeiterbund als dann auch in ihrem Unternehmen entfaltete, waren wegleitend.
Das Arbeiterinnenschicksal des 19. Jahrhunderts ist uns fremd geworden, weil wir uns kaum vorstellen können, wie wenig Freiräume dieses Schicksal der eigenen Lebensgestaltung liess. Zwar war es im rechtlichen Sinne keine Sklaverei, Fabrikarbeiterin zu sein, aber die scheinbare Freiheit, jederzeit kündigen zu können, war keine echte Freiheit, denn die Alternative zur Fabrikarbeit hiess Hunger und Not. So bestand zwar kein rechtlicher, aber ein ökonomischer Zwang, auf dem Posten zu bleiben. Im Blick auf solche Verhältnisse liesse sich sagen, dass Sklaverei in einem weiteren Sinne des Wortes erst dann abgeschafft wäre, wenn wir wirklich über die eigene Zeit verfügen können. Das 20. Jahrhundert hat in Mitteleuropa der durchschnittlichen «Arbeitnehmerin» gewiss positive Veränderungen gebracht, gerade verglichen mit den bescheidenen Verbesserungswünschen der Arbeiterinnen des späten 19. Jahrhunderts: ein paar Rappen mehr Lohn, ein freier Samstagnachmittag, etwas weniger als 13 Stunden tägliche Arbeitszeit. Die Wünsche der Menschen sind während der vergangenen 150 Jahre kontinuierlich gewachsen, damit auch ihre Erfüllungschancen: Niemand muss mehr im Alter von 13 Jahren eine Fabrikanstellung antreten oder eine 100-Stunden-Woche absolvieren. Der Traum der Verbürgerlichung, der damalige Arbeiterinnen umtrieb, ohne dass er wie bei Verena Conzett in Reichweite rückte, hat sich für viele ehemalige «Proletarier» verwirklicht. Der Rahmen, innerhalb dessen wir über unsere eigene Zeit verfügen können, ist stetig gewachsen. Wir können heute den Traum der Individualisierung träumen und ihn uns mindestens teilweise erfüllen, selbst wenn wir kein Erwerbseinkommen haben, sondern uns auf die sozialen Sicherungssysteme verlassen (müssen).
Aber die Frage bleibt, ob wir tatsächlich allen Zwängen entronnen sind. Sind wir nicht immer noch gezwungen, unsere Zeit mit Dingen zuzubringen, die wir vielleicht nicht tun wollen? Die Vergegenwärtigung der vergangenen Arbeiterinnenschicksale dient – neben dem Interesse, das sie um ihrer selbst willen verdienen – auch wesentlich dazu, uns bewusst zu machen, wie weit gesteckt unsere Freiheitsspielräume sind. Wir sollten uns fragen, was wir mit der Zeit machen, von der uns jetzt so viel mehr zur freien Verfügung steht als unseren Ahninnen und Ahnen. Begeben wir uns womöglich freiwillig in andere Knechtschaften – indem wir die Zeit beispielsweise mit Fernsehen oder im Internet vertrödeln? Und tun wir das, was wir tun, weil wir es tun wollen, oder tun wir es nur, weil wir es aus ökonomischen Gründen tun zu müssen glauben? Keine unwesentliche menschliche Aufgabe ist es, die Welt, in der man leben will, mitzugestalten – für andere und für sich selbst Freiräume zu schaffen.
Andreas Urs Sommer
Kapitel 1
Die Arbeiterin
Abb. 1: Arbeiterinnen und Aufseher der Textilfabrik Zinggeler in Richterswil ZH stellen sich der Kamera des Fabrikanten und Fotografen Rudolf Zinggeler (1864–1954). Foto um 1900.
Die Frauen und Mädchen, die an diesem Herbstmorgen vor sechs Uhr auf dem Mühlesteg beim Zürcher Hauptbahnhof eintreffen, haben zumeist einen Weg von einer Stunde und länger hinter sich. Trotz des strengen Fussmarschs haben sie kalt; sie schlagen die Arme übereinander wie Fuhrleute, die sich wärmen wollen, hauchen in ihre steifen, blaugefrorenen Hände. Es sind die ersten Fabrikarbeiterinnen, mit denen es die eben schulentlassene Verena Knecht (später Conzett) zu tun bekommt. Sie merkt sich diesen Anblick für immer. «Die Arbeiterinnen, jung und alt, trugen Kleider aus dunkelblauem Baumwollstoff, in den kleine weisse Tupfen oder Sternchen eingedruckt waren. Sie hatten wollene, handgestrickte Zipfeltücher umgebunden, eine Wollschleife um die Ohren und trugen einen mächtigen Deckelkorb am Arm.» Manche Mädchen sind nicht älter als sie selbst, manche Frauen wiederum gleichen eher ihrer Grossmutter. Den frühmorgendlichen Marsch aus Vororten wie Höngg und Altstetten, wo die Wohnungsmieten tiefer sind als in der Stadt, nehmen sie sommers wie winters unter die Füsse. Verena lernt den Arbeitsweg an der nächsten Fasnacht kennen, als sie bei einem der Fabrikmädchen in Affoltern übernachtet. Es hat seit Stunden geschneit und man bricht früher als gewöhnlich auf. «Gegen halb fünf bildete sich ein langer Zug in der Mitte des Dorfes. Voran marschierten die Arbeiter der Maschinenfabrik Neumühle, dann kamen die Frauen und Mädchen, und den Schluss bildeten die Kinder.» Rufe hallen durch das Schneetreiben, «denn es war zu dunkel, um einander zu sehen, dazu schneite es immer noch fein und dicht. Todmüde vor Anstrengung, die Unterkleider vom Schweiss, die Oberkleider vom Schnee durchnässt, langten wir gegen sechs Uhr in der Fabrik an.»
Dies ist das Jahr 1874, und Zürichs Fabriken dringen allmählich bis in den Stadtkern vor. Die genannte Neumühle nimmt ein ausgedehntes Stück Limmatufer gegenüber dem Bahnhof ein. Etwas weiter flussaufwärts erhebt sich auf zwei Brücken eine wunderliche Fabrikwelt: die Seidenzwirnereien und -spinnereien des Oberen und Unteren Mühlestegs. Sie sind, so wie die dazugehörige Papier- und Motorenfabrik, auf Pfählen gebaut. Dampfmaschinen beginnen um sechs Uhr früh zu fauchen, die zahlreichen Fabrikkamine rauchen – und dies alles über dem rasch ziehenden Wasser der Limmat.
Scharen von Fabriklerinnen
So wie Verena und ihre Kolleginnen nehmen in diesen Jahren Abertausende von Mädchen und Frauen täglich den Weg zur Fabrik unter die Füsse. Die erste umfassende Erhebung, die Fabrikzählung von 1882, meldet 135000 Beschäftigte in der Industrie, davon 65000 Frauen: ziemlich genau die Hälfte! In der Textilindustrie stellen Frauen eine Dreiviertelmehrheit, vorab bei der Seidenverarbeitung. Zudem dienen sie als Heimarbeiterinnen den Uhrenfabriken und den Strohflechtereien zu; manche weben zuhause Seidentücher und Seidenbänder für den «Fergger» – den Mann, der den Kontakt mit der Fabrik besorgt.
Zur Zeit der nächsten statistischen Erhebung von 1900 ist ihre Zahl nochmals massiv angestiegen – auf 120000 Fabrikarbeiterinnen, zu denen fast ebenso viele Heimarbeiterinnen kommen. Eindrücklich fasst der Gewerkschafter Otto Lang die Arbeitsmarktzahlen der Jahrhundertwende zusammen: «Von 1470000 in Berufen tätigen Personen waren 420000 Frauen. Von den 221 Berufen, welche zu diesem Zeitpunkt ausgeführt wurden, hatte die Frau bereits 210 erobert; es gab nur 11 Berufe, die keine weiblichen Arbeitskräfte aufwiesen.» Mehr noch: 90000 Frauen hatten sich in 146 verschiedenen Berufen selbstständig gemacht. Die schweizerische Volkswirtschaft hing stärker denn je ab von einem Heer weiblicher Arbeitskräfte: meist unterbezahlte und in untergeordneter Stellung tätige Frauen, meist einer Generation zugehörig, die das bäuerliche «Heimet» hinter sich gelassen hatte und jetzt in den Arbeitervierteln der Städte und den halb ländlichen Fabriksiedlungen entlang den Mittellandflüssen nach einer neuen Lebensform suchte.
Abb. 2: Am Unteren Mühlesteg in Zürich erhebt sich über der Limmat ein unwirkliches, auf Pfählen erbautes Fabrikquartier. In der Seidenfärberei Meier (Haus Bildmitte und niedriger Vorbau) findet die 13-jährige Verena Knecht im Frühling 1874 ihre erste Anstellung als Hilfsarbeiterin. Foto um 1900.
Völlig unerreichbar schien dabei das bürgerliche Ideal der Ehegattin, Mutter und Hausfrau, die dem berufstätigen Gatten ein schmuckes Heim bereitete und die Brotarbeit dem «Ernährer» überliess. Ein solch geordnetes, geräumiges Zuhause blieb für die allermeisten Arbeiterinnen ein Wunschtraum. In vier Fünfteln aller Fabrikarbeiterfamilien waren beide Elternteile in der Industrie tätig. Für die Frauen ergab sich dadurch eine unerträgliche Doppelbelastung. Nur die Randstunden und der Sonntag blieben für Hausarbeiten wie Kochen, Flicken und Saubermachen; die Betreuung der Kinder war Zufallssache. Der regelmässige Kirchenbesuch endete bei den meisten Arbeiterfrauen mit der Konfirmation, vorab in den mehrheitlich protestantischen Industriekantonen. Noch weniger Zeit blieb für die politische Arbeit der Frauen in Gewerkschaft oder Partei. Ohnehin war sie umstritten; auch bei den als fortschrittlich geltenden Sozialdemokraten standen viele Genossen dem politischen Engagement der Frauen skeptisch gegenüber. Die niedrigen Fabriklöhne, die bei den weiblichen Beschäftigten noch um ein Drittel tiefer lagen als jene ihrer männlichen Kollegen, erstickten jede Hoffnung auf eine «Überwindung der proletarischen Lebensführung», wie es in einer Untersuchung heisst. Diese glang nur einer schmalen Oberschicht der Arbeiterschaft.
Beengtes Zuhause
Einem familiären Privatleben im heutigen Sinn standen die prekären Wohnverhältnisse entgegen. Zwar wurden, vorab in den ländlichen Industrieregionen, sogenannte Kosthäuser zur Unterbringung der Arbeitskräfte errichtet. Aber die Miete einer Wohnung teilte sich die Kernfamilie oft mit Fremden, den «Kostgängern» oder «Schlafgängern», oder dann mit mehr oder weniger vertrauten Verwandten. Der Vermieter erliess Hausordnungen, die tief ins Privatleben eingriffen. Lichterlöschen wurde beispielsweise für zehn Uhr nachts angeordnet: «Um 10 Uhr abends sollen alle Bewohner zu Hause sein, zu Bett gehen und Feuer und Licht gelöscht werden. Ausnahmen können nur in Krankheitsfällen, aus vorheriger Anzeige, vom Obermeister erlaubt werden.» Weiter heisst es: «Geistige Getränke dürfen weder in der gemieteten Wohnung ausgeschenkt, noch Trinkgelage, Schmausereien oder Lärm gestattet werden. Ebensowenig dürfen die Kinder ungewaschen, ungekämmt oder in zerrissener Kleidung herumlaufen.»
Abb. 3: Arbeiterfamilie in Einzimmerwohnung, die als Wohn- und Schlafraum und Küche dient. Die Aufnahme gehört zu einer Dokumentation über Heimarbeit in der Schweiz, die 1909 in Bern gezeigt wurde. Foto um 1900, wahrscheinlich Bern.
All dies ergab Probleme vielfältiger Art. Anny Morf, eine junge Fabrikarbeiterin, Altersgenossin von Verena, erzählt: «Wir hatten noch einen Kostgänger, einen Halbbruder des Vaters, der als Heizer bei den SBB arbeitete. Der Onkel zahlte Miete und kam zum Essen.» Das engte die beschränkte Mittagszeit ihrer Mutter zusätzlich ein. Wegen verschobener Schichtzeiten musste diese erst das Mittagessen für den Vater bereitstellen, eine halbe Stunde später jenes für den Kostgänger. Noch schlimmer: «Dieser Onkel wollte mich später, als ich etwa vierzehn Jahre alt war, missbrauchen. Ich wehrte mich so heftig, dass das Küchengestell umfiel.»
Über moralisch-sittliche Probleme klagen viele Fürsorger, die Sozialbeamten von einst. So droht angeblich überall die Gewöhnung an homosexuelle Praktiken. Denn oft würden sich die «Schlafgänger» zu zweit ein Bett teilen: «Fremde Arbeiter, die in Pension sind, werden zusammengelegt.» Ebenso die Kinder der Familie: «Um sich vor Frost zu schützen, krochen die Buben auf den Laubsäcken zu zweit und zu dritt dicht aneinander, näher als gesundheitlich und moralisch zuträglich war.»
Wie zu erwarten lag auch die Zahl unehelicher Geburten in den Industrieregionen doppelt so hoch wie im bäuerlichen oder bürgerlichen Umfeld. Ob ehelich gezeugt oder nicht – die Säuglinge hatten eine erheblich tiefere Überlebensrate als im Landesdurchschnitt. In den Jahren 1850 bis 1880 starb im Kanton Zürich jedes vierte lebendgeborene Arbeiterkind im ersten Jahr, während die Sterblichkeitsrate bei Bauern- oder Bürgerfamilien bei 12 Prozent lag. Mangelhafte hygienische Verhältnisse und einseitige Ernährung waren die Hauptgründe. Vom Stillen wurde Fabrikmüttern kategorisch abgeraten; Fabrikärzte befürchteten beispielsweise bei Arbeiterinnen im Textildruck, sie riskierten, «ihrem Sprössling eine mit giftigen Farbstoffen besudelte Brust zu reichen». Ohnehin nahmen die meisten Mütter schon Tage nach der Geburt die Arbeit wieder auf. Den Säugling betreuten ältere Geschwister, oder er wurde einer fremden Familie in Obhut gegeben.
Trotz solch unlösbarer Schwierigkeiten umwarben die Unternehmer gerade die kinderreichen Arbeiterfamilien, da diese zukünftiges Personal garantierten. Stellenausschreibungen zielten etwa auf «eine solide, ordnungsliebende Familie mit arbeitsfähigen Kindern» ab, nicht selten begnügten sich die Fabrikanten in solchen Fällen mit einem herabgesetzten Zins für die Kosthauswohnung. Fand sich für Kleinkinder weder ein Krippenplatz noch eine Familie zum «Verkostgelden», duldeten manche Aufseher, dass ihre Mütter sie mit in den Fabriksaal brachten. Das verbot zwar die Fabrikordnung, aber lieber duldete die Leitung solche Unregelmässigkeiten, als ihr Arbeiterpotenzial zu verlieren.
Kinderarbeit
Freudestrahlend kehrte die halbwüchsige Verena Knecht an einem Märzabend noch vor ihrem Schlussexamen als Sechstklässlerin nach Hause zurück: «Mutter, Mutter, denke, ich habe schon Arbeit!» Als Dreizehnjährige hatte sie für ihre erste Stelle als Gehilfin in einer Textilfärberei vorgesprochen. So wie viele ihrer Altersgenossinnen würde sie von nun an als Lehr- oder Laufmädchen zum Unterhalt der Familie beitragen. Die Schule beschränkte sich fortan auf zwei Vormittage im Ergänzungsunterricht, obwohl ihr einstiger Lehrer protestierte und vorschlug, ein Stipendium für den Besuch der Sekundarschule zu beschaffen. Aber die Familienfinanzen fielen stärker ins Gewicht: «Wie glücklich war ich, als ich mit dem ersten Zahltag nach Hause kam. Stolz legte ich der Mutter mein erstes selbstverdientes Geld in die Hand, bare Franken 7.20 für zwei Wochen.»
Abb. 4: Junge Arbeiterinnen und Aufseher im Stanz- und Frässaal einer Westschweizer Blechwarenfabrik. Foto um 1910.
Drei Jahre vor Inkrafttreten des ersten landesweit verbindlichen Fabrikgesetzes (1877) teilte Verena das Schicksal Tausender Minderjähriger aus Fabriklerfamilien: eine Sechstagewoche mit 12- bis 13-stündigen Arbeitstagen, nur an zwei Morgen unterbrochen für den Ergänzungsunterricht, und dies für einen Taglohn von kaum mehr als einem halben Franken. Eine Zürcher Statistik um 1860 hatte rund 4000 kleine Fabrikler im Alter von 12 bis 15 Jahren erfasst. Diese Zahl war bis 1877 noch angestiegen, dies während mehrere europäische Staaten die Ausbeutung der kindlichen Arbeitskraft entscheidend einschränkten: Preussen beispielsweise liess für Kinder unter 14 Jahren «bloss» sechs tägliche Arbeitsstunden zu.
Bis das erwähnte Gesetz das Einstellungsalter für Jugendliche auf 14 anhob, war für Verena und ihre Altersgenossen die Kindheit verstrichen. Die geisttötende und abstumpfende Arbeit in den dröhnenden Fabrikhallen liess jede Spielfreude und Mitteilsamkeit verkümmern. Die Fabrikordnung sah für «Schwatzen» oder Zuspätkommen zehn Rappen Abzug vor – zwei Stundenlöhne! In den Webereien beaufsichtigten Mädchen und Buben je einen oder zwei mechanische Webstühle. Liefen die Spulen in den Weberschiffchen aus, musste «angesetzt» werden. Dabei «mussten die jungen Lungen den Faden des neuen Spülchens durch die Öse saugen», Baumwollstaub und Öl drangen in die Atemwege. Als kleinste und wendigste Arbeitskräfte übernahmen die Buben das Putzen und Ölen der grossen Maschinen – auch dies eine gesundheitsschädigende Aufgabe, bei der die Kinder, auf dem Rücken unter der Mechanik liegend, ölige Dämpfe einatmeten und sich Kopf und Arme wundstiessen.
Darmowy fragment się skończył.