Czytaj książkę: «Sepp Kerschbaumer», strona 4

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Resonanzen und Dissonanzen

Im Ausland hatte die Kundgebung von Sigmundskron eine gute Presse. Nicht so im Inland. Liest man die Kommentare der italienischen Zeitungen über den Tag von Sigmundskron, so gewinnt man den Eindruck, dass ihnen der disziplinierte Verlauf der Kundgebung gar nicht recht war. Es fehlte der Skandal, das Anrüchige, das Kriminelle. Aber was nicht war, ließ sich machen. Man bauschte Nebensächlichkeiten zu Staatsaffären auf, drehte einfache Tatsachen zu Sensationsmeldungen um und stellte Bezüge her, die es nicht gab. Dabei erlangte Kerschbaumers Flugblatt einen unerwarteten Stellenwert. Der L’Adige in Trient schob es kurzerhand der Südtiroler Volkspartei in die Schuhe.54 Magnago stellte richtig: Die SVP hat mit dem Flugblatt „nicht das Geringste zu tun“.55 Umsonst. Die Diskussion ging weiter, ja nahm an Heftigkeit zu. Und so befasste sich in der Sitzung vom 25. November 1957 die Parteileitung mit dem Corpus Delicti. Auch die Parteileitung erklärte: Die SVP hat mit dem Flugblatt nichts zu tun. Sie habe es weder gebilligt noch billige sie es. Gleichzeitig machte sie der italienischen Presse zum Vorwurf, dass sie dieses Flugblatt benütze, „um die sehr sachlichen Forderungen der Partei und des Volkes zu übergehen und den Haß der italienischen Bevölkerung zu schüren, mit all den Folgen, die wir Sonntag in Bozen sehen konnten“. Die „Würde der Nation“ könne nicht durch ein anonymes Flugblatt verletzt werden. Sie könne auch nicht durch Umzüge und Anpöbelungen wiederhergestellt werden.56

Diese Stellungnahme enthält zwei Anspielungen auf italienische Gegendemonstrationen. Wie man einen Protest mit Würde und Anstand an den Mann bringt, hatten zuerst italienische Oberschüler am 19. November den Südtirolern vor Augen geführt. Allein die Aufschriften auf ihren Transparenten offenbarten feinen Takt und ein überdurchschnittlich hohes Bildungsniveau:

Fuori legge la SVP! – Die SVP ist aufzulösen!

Fuori Magnago dall’Italia! – Hinaus mit Magnago aus Italien!

Non vogliamo rinnegati in Italia! – Wir wollen keine Verräter in Italien!

Alto Adige, non Südtirol! – Alto Adige, nicht Südtirol!

Basta con le provocazioni, qui è Italia! – Schluß mit den Provokationen, hier ist Italien!

Tedeschi, non insultate chi vi ha tolto la fame! – Deutsche beleidigt nicht jene, die euch vor dem Hunger gerettet haben!

Governo se ci sei, batti un colpo! – Regierung, wenn du da bist, gib ein Zeichen!

Damit kein Zweifel aufkomme, wie der letzte Slogan gemeint sei, zierte ein Totenkopf die Tafel.57 Damit war aber noch nicht Schluss. Es waren sogar noch Steigerungen möglich. Dazu trug bei, dass am 22. November auf das Grabmal Tolomeis in Montan ein Anschlag verübt wurde. Die Attentäter sind zwar nie ausgeforscht worden, doch stand für die italienischen Medien unzweifelhaft fest, dass sie unter den Südtirolern zu suchen seien. So war das Klima um einige Grade heißer, als am Sonntag, dem 24. November, Frontkämpfer und Neufaschisten aus Italien in Bozen angereist kamen, um an einer Kranzniederlegung beim Siegesdenkmal teilzunehmen, die als „Wiedergutmachungsakt gegen die in Schloß Sigmundskron formulierten Beleidigungen der Werte des Kämpfertums“ vorgenommen wurde. Von kaum zu überbietender Freundlichkeit auch ihre Rufe:

19. November 1957: Gegendemonstration vor dem Bozner Siegesdenkmal wider die Kundgebung von Sigmundskron

A morte! – Zum Tode!

Porci! – Schweine!

Fuori oltre il Brennero! – Hinaus über den Brenner!

Auf dieser Höhenstufe stand auch die Rede des Bozner MSI-Führers Andrea Mitolo. „Die Südtiroler“, verkündete er, „werden als Nazi geboren und bleiben Nazi, denn sie sind von Natur aus Nazi!“58 Dies alles waren italienische Beiträge zur politischen Kultur im Lande.

Jedoch die Vorgänge auf Sigmundskron und die Nachklänge zu Sigmundskron versetzten nicht nur die Italiener in Erregung. Sie lösten auch innerhalb der SVP ein Nachbeben aus. Josef Raffeiner gab im Senat am 26. November 1957 eine Erklärung ab, die mit der Linie der Partei nicht mehr im Einklang stand:59

Ich fühle mich für meine Person zur Feststellung verpflichtet, daß ich den Dynamitanschlag, durch welchen am vergangenen Freitag das Grabmal des Senators Ettore Tolomei in dem kleinen Friedhof von Montan, an der Fleimstaler Straße, zerstört wurde, bedauere. Nicht weniger bedauere ich die Beleidigungen, die dem nationalen Gefühl der Italiener von unverantwortlichen Elementen mit feindseligen Rufen und einem Flugblatt anläßlich der Kundgebung unseres Volkes in Sigmundskron zugefügt wurden. Ich glaube, daß mein Freund und Kollege Braitenberg, der nicht im Saale anwesend ist und mit welchem ich über diesen Gegenstand nicht sprechen konnte, mit mir in dieser meiner Verurteilung und meinem Bedauern eines Sinnes ist. Ich will für den Augenblick nichts weiteres hinzufügen.

Kein Wort über Sinn und Zweck der Kundgebung von Sigmundskron, kein Wort über die Ausschreitungen der Italiener in Bozen. Von Braitenberg schloss sich dann in der Tat der Erklärung Raffeiners an.

Die Dolomiten meinten, die Südtiroler würden es begrüßen, wenn Senator Raffeiner seinen Kollegen im Senat und den Mitgliedern der Regierung auch den übrigen Inhalt der Entschließung der Landesleitung der Südtiroler Volkspartei zur Kenntnis brächte, in welcher die Ausschreitungen und Übergriffe bei der Kundgebung der Neufaschisten in Bozen am letzten Sonntag gebrandmarkt wurden und die Einsetzung einer Untersuchungskommission des italienischen Parlamentes zur Überprüfung der Zustände in Südtirol verlangt wurde. Die Zeitung gab der sicheren Erwartung Ausdruck, dass Senator Raffeiner dies bei nächster Gelegenheit nachholen werde.60 Diese Hoffnung erfüllte Raffeiner jedoch nicht. Der L’Adige erkannte richtig, dass zwischen den Erklärungen Raffeiners und Braitenbergs und dem Geist, der die SVP-Resolution leite, ein Abgrund klaffte.61 Viele Südtiroler stellten sich die Frage, auf welcher Seite die beiden eigentlich standen. Sie hatten diese Frage vermutlich auch an die drei SVP-Abgeordneten Tinzl, Guggenberg und Ebner gerichtet, wenn sie gewusst hätten, dass sie und die zwei Senatoren am 29. November 1957 ohne Wissen der Parteileitung bei Bundeskanzler Julius Raab in Wien vorsprachen und die Politik der neuen SVP-Führung madig machten. Nach den Ausführungen Tinzls und Guggenbergs hätte die in Sigmundskron erhobene Forderung nach Provinzialautonomie in der italienischen Regierung jener Richtung Oberwasser gegeben, die schon immer die Ansicht vertreten habe, es habe keinen Sinn, den Südtirolern Konzessionen zu machen.62 Wenn man das weiß, dann wundert man sich auch nicht, dass sich Raffeiner und Braitenberg weigerten, im Senat den Entwurf für ein neues Autonomiestatut einzureichen. Man wundert sich nach diesen Vorkommnissen vielmehr darüber, dass die Abgeordneten Tinzl, Ebner und Guggenberg am 4. Februar 1958 das Autonomieprojekt dann doch noch in der Kammer einbrachten.63 Logisch ging’s wirklich nicht her in der SVP in diesen Monaten. Sepp Kerschbaumer, über die Vorgänge in der Partei gut informiert, fand, dass es wieder an der Zeit war, ein Flugblatt in die Welt zu schicken.

Ein BAS-Flugzettel aus der Werkstatt Sepp Kerschbaumers

V O L K S V E R T R E T E R!

Seit der denkwürdigen Volkskundgebung auf Schloß Sigmundskron sind Tage und Wochen vergangen. Überall hat man sich eine entschlossene Inangriffnahme unserer brennenden Probleme erwartet.

Und aus Rom kam dann auch bald eine frohe Kunde. Giuseppe Raffeiner und sein Mitläufer Karlo de Breitenberg distanzierten sich feierlich von dem Geiste der Volkskundgebung von Schloß Sigmundskron und somit vom Südtiroler Volke. Die beiden Volksverräter wurden von uns mittels Schreiben aufgefordert, sofort zurückzutreten. Vierzig Jahre italienische Besatzung brachte Südtirol mit Hilfe einiger Volksverräter an den Rand des Abgrundes. Das Südtiroler Volk ist aber nicht länger gewillt, den Todesmarsch mitzumarschieren! Bedenkt die Worte unseres mutigen Tirolers Magnago am Abend der Kundgebung: „Man darf die Geduld und Disziplin des Volkes nicht überfordern.“ Durch die feige Handlungsweise der Volksverräter in Rom wurde sie bereits überfordert. Wir fordern euch energisch auf, die notwendigen Konsequenzen zu ziehen, ansonsten wir gezwungen sind, geeignete Maßnahmen zu ergreifen.

„Los von Trient“ hieß die Forderung aller Südtiroler auf Schloß Sigmundskron. Seit einigen Monaten spricht man im ganzen Lande von berufener Seite (davon), den sog. Gesetzesantrag zur Schaffung der Landesautonomie innerhalb des Jahres 1957 im Parlament einzubringen. Bei der Kundgebung war für das Südtiroler Volk das deutsche Wort bindend. Ist für unsere Parlamentarier dieses deutsche Wort nicht bindend??? Die BAS wird unermüdlich weiterarbeiten zur Rettung der Heimat, und jeder aufrechte Volksvertreter kann versichert sein, daß sie stets hinter ihm stehen wird für ein freies Südtirol.

BAS

Es ist dies vermutlich das erste Flugblatt, das mit BAS gezeichnet ist. Dem aufmerksamen Leser fällt auf, dass da nicht der BAS, sondern die BAS steht. Dies ist darauf zurückzuführen, dass Kerschbaumer zunächst seine Phantom-Organisation Befreiungsaktion Südtirol nannte. Erst später kam er auf den Namen Befreiungsausschuss Südtirol. Ein Umstand, der etwas Verwirrung stiftete. Selbst Leute des BAS wussten eine Zeitlang nicht, was richtig war: der BAS oder die BAS, Befreiungsaktion oder Befreiungsausschuss. Durchgesetzt hat sich dann das Markenzeichen Befreiungsausschuss Südtirol, also der BAS. Kerschbaumer selbst sorgte in seinem nächsten Flugblatt für Klarheit.64 Bezugnehmend auf eine Äußerung des österreichischen Bundeskanzlers Julius Raab, wonach das italienische Volk von einem außerordentlichen Nationalismus beseelt sei, wandte er sich erneut an die Öffentlichkeit.65 Er wies zunächst darauf hin, dass wir es besonders „in unserer Heimat Südtirol mit fanatischen Nationalisten zu tun“ hätten, „die direkt und indirekt von Rom gelenkt“ würden. Ihr Ziel sei es, „mit allen erlaubten und unerlaubten Mitteln unser Volkstum zu schädigen und uns in unserer angestammten Heimat in die Minderheit zu versetzen“. „Selbst das unabhängige italienische Gerichtswesen ist von diesem Nationalismus verseucht.“ Jedoch eine Überprüfung der Lage ergebe, „daß wir nicht allein bei anderen die Schuld für die Mißstände in unserem Lande suchen dürfen, sondern daß es an der Zeit ist, bei uns selbst reinen Tisch zu machen!“

Was nützt uns, über die italienische Zuwanderung Klage zu führen, solange unsere eigenen Arbeitgeber – vielleicht aus Feigheit – Italiener beschäftigen, während unsere Landsleute, die in der eigenen Heimat brotlos sind, sich im Ausland Existenzmöglichkeiten suchen müssen. Und solange Südtiroler Besitzer ihre Güter als Baugründe an die Italiener verkaufen, die auf diese Weise die Zuwanderung fördern.

Auch auf unser Recht im Sprachgebrauch wollen wir schweres Gewicht legen. Aus Feigheit oder Bequemlichkeit auf den Gebrauch seiner Muttersprache zu verzichten, schadet unserer Volksgruppe! Wir dürfen nicht auf fremde Hilfe hoffen, solange wir nicht alles getan, was in unseren eigenen Kräften liegt. Erst wenn sich diese unsere Kräfte im ungleichen Kampfe als zu schwach erweisen, dürfen wir Anspruch auf fremde Hilfe erheben.

Südtiroler erfülle Deine Pflicht dem Herrgott, dem Volke und Deiner Heimat gegenüber auch im Alltagsleben!

Südtiroler, kein Opfer darf Dir für Deine Heimat zu groß sein; denke an die Zukunft Deiner Kinder.

Zur Vermeidung von Mißverständnissen und irrigen Auslegungen wollen wir diesmal unseren Landsleuten mitteilen, was die Bezeichnung

B.A.S. heißt:

Befreiungs-Ausschuß-Südtirol

Über die Urheberschaft der Flugzettel sind viele Mutmaßungen angestellt worden. Oberflächlich betrachtet, könnte man meinen, dass verschiedene Hände am Werk gewesen seien. Manche Flugzettel sind sprachlich etwas holprig und unbeholfen, andere im Stil glatter und gewandter. Dieser Unterschied in der Diktion erklärt sich daraus, dass Sepp Kerschbaumer manche Flugzettel von einem Journalisten seines Vertrauens ausfeilen ließ. Wenn hingegen die Zeit drängte, schickte er die Flugzettel so aus, wie er sie entworfen hatte. Dass jemand anderer die Texte verfasst hat, dürfte auszuschließen sein. Sie haben nämlich das Wesentliche gemeinsam: die Denkweise des Sepp Kerschbaumer.

Kerschbaumers Rundschreiben und Flugblätter wurden alle auf Matrize geschrieben und dann vervielfältigt. Wer hat ihm diese Arbeit besorgt? Eine Frage, die 1961 bei den Verhören auch die Carabinieri mit Nachdruck stellten. Kerschbaumer wollte nicht recht heraus mit der Sprache. Er habe das selbst gemacht, murmelte er. „Wenn das so ist“, meinten die Carabinieri, „dann setzen Sie sich an die Schreibmaschine und machen Sie es uns vor!“ Dazu war er aber nicht in der Lage. Wer war es dann? Das wusste ganz genau die Tiroler Tageszeitung. Unter Berufung auf eine „zuverlässige Quelle“ brachte das Blatt eines Tages folgende „Tatsachenmitteilung“: Ursprünglich habe Kerschbaumer die BAS-Briefe einer seiner Töchter diktiert. Ordnungsgemäß, wie es seine Art sei, habe er sie als Sekretärin angestellt. Aber die Tochter habe an dieser Arbeit keinen Gefallen gefunden. Daher habe sie ihm eines Tages eröffnet: „Du, Tatta, ich mag von deiner Politik nichts wissen. Ich möchte dir in Zukunft diese Briefe nicht mehr schreiben müssen.“ Kerschbaumer habe daraufhin seine Tochter als Sekretärin formal korrekt entlassen und die minderjährige Tochter des Frangarter Mesners, Annelies Ausserer66, nach Bozen in die Schule geschickt, damit sie dort das Maschineschreiben lerne. Annelies Ausserer habe er dann als neue Sekretärin des BAS angestellt.67 Hier wird wieder einmal einiges durcheinandergebracht. Es stimmt nicht, dass er eine seiner Töchter oder sonst jemanden als Sekretärin angestellt hatte. Er verfasste im Jahr vielleicht sechs, sieben Rundschreiben und drei, vier Flugzettel. Das war eine Arbeit von jeweils einigen Stunden. Der Wahrheit entspricht aber, dass ihm seine Tochter Mali nicht mehr mitgemacht hat, als sie erkannte, dass das Ganze nicht „astrein“ war.68 Der Vater musste sich dann tatsächlich nach einer neuen „Schreibkraft“ umsehen. Er fand sie in Annelies Ausserer, die damals in Bozen die Marco-Polo-Schule besuchte. Das gab er dann widerstrebend bei einem der vielen Verhöre in der Carabinieri-Kaserne von Eppan zu. Er musste dann auch die Schreibmaschine und den Vervielfältigungsapparat herausrücken, die er in der Ringmauer des Schlosses Sigmundskron versteckt hatte.

Die beiden oben erwähnten Flugblätter lösten in der SVP Besorgnis aus.69 In der Sitzung vom 1. März 1958 teilte Silvius Magnago der Parteileitung mit, dass ihm erst ein Schreiben des BAS zugeschickt worden sei. Politisch maß er ihm nur insofern eine Bedeutung bei, als es die italienische Volksgruppe verärgere. Damit sei nichts erreicht. Das Endresultat sei vielmehr dies, dass diejenigen, die sie verfassten, und diejenigen, die sie verteilten, ins Gefängnis kämen. „Letzten Endes muß dann die SVP für die Familien sorgen, wie sie auch heute für Familien sorgen muß.“ Sehr schlimm wäre es, wenn Ortsobmänner an dieser Aktion beteiligt wären. Käme so etwas auf, würden es die Behörden zum Anlass nehmen, in die Villa Brigl zu kommen und eine Hausdurchsuchung vorzunehmen.70 Die Sitzung offenbarte freilich das große Dilemma, in dem sich die SVP befand. Magnago berichtete anschließend der Parteileitung, dass die Verhandlungen zwischen Rom und Wien begonnen hatten. Dabei äußerte er die Befürchtung, dass sie „wahrscheinlich schleppend weitergehen“ würden. Man trat also auf der Stelle. Und die Erfolglosigkeit gab dem BAS Auftrieb.

Zwei Monate später befasste sich die Parteileitung wieder mit dem BAS. Magnago teilte ihr mit, dass ihn der Quästor im Laufe einer Unterredung gefragt habe, ob er die Herren des BAS kenne. Er habe ihm zur Antwort gegeben, dass die SVP mit der Aktion absolut nichts zu tun habe und er auch keinen der Herren kenne. Der Quästor betrachtete das letzte Schreiben des BAS als eine sehr ernste Sache. Bisher habe der BAS nur auf die Italiener geschimpft „und so weiter“. Dies sei zwar strafbar, aber nicht relevant. Mit dem letzten Schreiben habe sich aber der BAS als „Befreiungsausschuß Südtirols“ zu erkennen gegeben, als eine Organisation, die sich die Befreiung Südtirols zur Aufgabe gemacht habe. „Mit diesem Moment fällt die Sache in ein anderes Strafgebiet, und die Sache verschlimmert sich kolossal.“ Er, Magnago, sei überzeugt, dass früher oder später alles aufkäme. Und dann haben wir „nichts als Spesen und Familien zu erhalten und viele Leute, die im Kerker sitzen“. Peter Brugger sprach die Vermutung aus, dass hier junge Leute am Werk seien. Diese jungen Leute müsse man in die Reihen der SVP hereinbekommen und sie so irgendwie politisch beschäftigen. Generalsekretär Hans Stanek machte den Vorschlag, den Ortsgruppen mit einem Rundschreiben nahezulegen, „dieser Aktion schärfstens entgegenzutreten“.71 Damit waren alle einverstanden. Wenig später wurde ein solches Rundschreiben an die Ortsgruppen verschickt.

Eine verlorene Stimme der Vernunft

Ein Beamter kann in die Lage kommen, dass er Handlungen setzen muss, die mit seiner Überzeugung im Widerspruch stehen. In diese Situation geriet 1957 der Bozner Quästor Renato Mazzoni. Er hatte bei dem Ringen um einen Platz für die Kundgebung von Sigmundskron eine Position einnehmen müssen, die mit seiner Einstellung nicht im Einklang stand. Wie er wirklich dachte und die Dinge in Südtirol beurteilte, legte er dem Innenminister Fernando Tambroni mit Schreiben vom 17. März 1957 ausführlich und unmissverständlich dar. Seiner Meinung nach sei der jetzige Zustand auf einen schweren Bildungsmangel und auf die politische Kurzsichtigkeit der regierenden Trentiner Kreise zurückzuführen. Sie hätten eine historische Gelegenheit versäumt und nicht begriffen, welch ein Instrument vor allem kultureller und dann auch verwaltungsmäßiger Art das Autonomiestatut darstelle, um Europa zu zeigen, dass das freie, zivile und demokratische Zusammenleben von zwei Volksgruppen in einem bestimmten Raum möglich sei.

Bedenklich findet er auch den kulturellen Hochmut, der jedes Südtiroler Brauchtum als dekadente Folklore abtue und nicht begreifen wolle, dass das Volkstum nicht allein in der Hochsprache, sondern auch in der Mundart, im Brauchtum, in den Überlieferungen, kurz in all dem begründet liegt, was von der Vergangenheit auf die Gegenwart gekommen ist.

Wer ein solches Volkstum als eine „civiltà della Stube“ bezeichne, offenbare seine Arroganz und setze eine vermeintliche Überlegenheit der lateinischen Zivilisation über jede andere davon abweichende Lebensart. „Die systematische Ablehnung der Verständigungsbereitschaft, die Unkenntnis der deutschen Sprache seitens der Politiker, Justizbeamten und hohen Staatsfunktionäre hat eine unüberwindliche Barriere zum Verständnis der Bedürfnisse der Minderheit entstehen lassen.“ Er selbst habe es als seine erste Aufgabe angesehen, die deutsche Sprache zu erlernen, dies habe ihn in die Lage versetzt, die Südtiroler Wesensart zu verstehen. Und dadurch habe er sich nicht nur die Wertschätzung und das Vertrauen der Politiker erworben, sondern auch und vor allem der Bevölkerung.

In ihrer antikulturellen und antihistorischen Handlungsweise hätten die regierenden Trentiner Kreise mächtige Bundesgenossen in den nationalistischen Zirkeln der Provinz Bozen gefunden, die sich in allen Parteien, insbesondere aber in der Democrazia Cristiana und im bürokratischen Apparat des Staates eingenistet hätten – und das auf jeder Ebene, sei es in Rom wie in Bozen.

Auch das zerstörerische Werk der Presse nimmt Mazzoni aufs Korn. Dem „Alto Adige“ sei es, der römischen Subventionen und des Absatzes wegen, nicht schwergefallen, die nationalistische Werbetrommel zu rühren, ohne Rücksicht auf die Folgen für jene, deren Anliegen er vorgebe zu vertreten.

Dem Staat, so Mazzoni weiter, müsste die Erlernung der deutschen Sprache ein ernstes Anliegen sein. Derzeit sei es so, dass eine Generation von Italienern heranwachse, die die deutsche Sprache nicht beherrsche und ihre Gleichaltrigen deutscher Muttersprache auch in Zukunft nicht verstehen werde. Der Staat, rät er dem Innenminister, müsse unverzüglich ernsthafte Maßnahmen zur Behebung dieser Situation treffen.

Der Bozner Quästor Renato Mazzoni, ein Mann der Mäßigung und der Vernunft, aber ohne Rückhalt in Rom, daher auf verlorenem Posten

Mazzoni schlägt Tambroni vor, bei der Region die rein legislativen Aufgaben zu belassen und jegliche verwaltungsmäßige Kompetenz an die beiden Provinzen zu delegieren. Der Anspruch der Trentiner Politikerklasse, die italienische Volksgruppe vor den Deutschen schützen zu müssen, habe die Situation zusätzlich verschlechtert. Es sei zunächst eine „linguistische Häresie“, aber auch ein politischer Fehler, von der italienischen Volksgruppe in Südtirol als ethnischer Minderheit zu sprechen, denn die Italiener in Südtirol bildeten einen integrierenden Bestandteil der italienischen Nation. Ein anderer Fehler sei der, die Region auf die Person des Präsidenten Odorizzi zuzuschneiden („La Regione si chiama Odorizzi“). In Wirklichkeit sei die Region mehr als eine Gesetzesmaschine, sie sei ein humanes Ganzes, entstanden aus der Geschichte, aus dem Brauchtum, aus gemeinsam erlebtem Leid, aus dem Erbe der Väter.

Fatal sei, dass sich die deutsche Volksgruppe in ihren Hoffnungen auf eine echte Autonomie verraten fühle und das „Los von Trient“ ausgerufen habe. Aber man halte sich vor Augen: „Los von Trient“ heiße noch nicht „Los von Rom“. Um zu vermeiden, dass es zu einem „Los von Rom“ komme, müsse man mit hoher politischer Intelligenz den Dialog wieder aufnehmen und das ganze Problem einer gerechten Lösung zuführen. Konkret: Das Statut müsste so abgeändert werden, dass die legislativen und administrativen Aspirationen der deutschen Minderheit gesichert seien. Dabei dürfe man sich nur vom Gerechtigkeitssinn und nicht von der „italica furberia“ (italienischen Schlauheit) leiten lassen. Nur so könne man auch den Italienern in Südtirol einen neuen ethnischen und sozialen Frieden verschaffen. „Es drängt mich“, schreibt Mazzoni abschließend dem Minister, „Ihnen meine tiefe Besorgnis darüber auszusprechen, daß sich unter dem Druck der Ereignisse die Lage weiter verschlechtern wird.“ Die Gründe dafür sieht er in der „Internationalisierung des Südtirolproblems, in der fehlenden Koordinierung der verschiedenen Staatsgremien und ihren Eifersüchteleien, in der nationalistischen Erpressung gegenüber Rom durch genau bekannte Trentiner und italienische Kreise in Südtirol, in den Fehlern der SVP und den stets misslungenen Versuchen, diese Partei durch Zuwendungen an diskreditierte Personen und Institutionen zu spalten.“

Andrea Mitolo, genannt Duce von Bozen, suchte – im Unterschied zu Mazzoni – die Konfrontation mit den Südtirolern. So sprengte er am 19. November 1957 mit einem Schlägertrupp in Neumarkt eine Versammlung der Südtiroler Volkspartei.

„Wenn die geschichtsbildenden Ereignisse den Staat zum ‚redde nationem‘ zwingen werden“, warnt Mazzoni den Minister eindringlich, „dann wird man von der Gerechtigkeit abweichen und den ethnischen Bedürfnissen mehr als das Gebührende gewähren müssen.“ Zum Schaden der italienischen Volksgruppe, wie er meint, die man schlauerweise durch juridische Ausflüchte schützen wolle. „Leider wird nicht unsere Generation dafür büßen müssen, sondern jene, die nach uns kommen wird.“72

Soweit der Bozner Quästor Renato Mazzoni in seinem Lagebericht. Doch war und blieb er ein einsamer Rufer in der Wüste, ein lästiger obendrein. Rom dachte damals nicht daran, Südtirol Konzessionen einzuräumen. Deshalb wollte es in Bozen auch an der Spitze der Polizei einen Mann der harten Hand, nicht einen Menschen mit Herz und Verstand. Vollends in Ungnade fiel Mazzoni in Rom durch die Ereignisse um die Kundgebung von Sigmundskron. Ein kleiner Zwischenfall bei einer Gegenkundgebung des MSI, bei der italienische Schüler zum Sitz der Volkspartei marschieren wollten, gab den letzten Anstoß zu seinem Sturz. Er wird nach Treviso versetzt. Für den aus Venedig stammenden Staatsbeamten alten Stils, der seine delikate Aufgabe in Südtirol seit 1947 mit Geschick und Verständnis für die Minderheit ausgeübt hatte, ist dies eine Strafversetzung, eine Demütigung, an der er schwer leidet. Depressionen stellen sich ein. Anfang 1959 scheidet er freiwillig aus dem Leben.

Renato Mazzoni, der treue Diener seines Staates, war gewissermaßen das erste Opfer der von ihm frühzeitig als verfehlt erkannten Politik des Staates in Südtirol. Es hat noch Jahre gedauert und noch vieler Opfer bedurft, bis die Vernunft im Sinne Mazzonis sich einen Weg bahnte.