Czytaj książkę: «Sepp Kerschbaumer», strona 3

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Von der zivilen Auflehnung zur Gewaltanwendung
Todesmarsch und Existenzängste

Rom und Trient machten von ihrer Macht über Südtirol einen denkbar schlechten Gebrauch. Wie bereits angedeutet, hatte das Pariser Abkommen eine Auslegung erfahren, die seinen Sinn und Zweck in das Gegenteil verkehrte. An Stelle einer Region Südtirol war die Doppelregion Trentino-Tiroler Etschland mit je einem Landtag in Bozen und Trient und einem übergeordneten Regionalrat geschaffen worden. Im Regionalrat waren die Südtiroler im Verhältnis zwei zu fünf vertreten, daher den Launen der Italiener völlig ausgeliefert. Vor allem aber waren es die Trentiner, die bestimmten, was wie über die Bühne ging. Dies begann schon bei der Zuteilung der Gelder. Mit ihrem Übergewicht konnten sie den Hauptanteil des Budgets in ihre Provinz verlagern. Zwar räumte das Autonomiestatut den Südtiroler Abgeordneten die Möglichkeit ein, gegen das Regionalbudget Einspruch zu erheben. Diese Bestimmung hatte aber nur einen dekorativen Wert. Denn immer, wenn die Südtiroler von diesem Recht Gebrauch machten, genehmigte der Innenminister den Haushalt so, wie ihn die Trentiner erstellt hatten.25 Ähnlich war es mit Artikel 14 im Regionalstatut. Die Region konnte auf die Provinz, auf die Gemeinden und auf andere Körperschaften bestimmte Verwaltungsbefugnisse übertragen.26 Dies war aber keine Muss-, sondern nur eine Kann-Bestimmung, eine Kann-Bestimmung freilich, die lange Zeit die Hoffnung aufrechterhielt, dass wenigstens auf dem Gebiet der Verwaltung ein gewisses Maß an Autonomie zugestanden werde. Aber bis 1960 blieb dieser Artikel toter Buchstabe; später wurde er nur in Ausnahmefällen angewandt.27

Zur Enttäuschung über die verweigerte Autonomie kam die Sorge über die Zuwanderung, die bereits 1945/46 massiv eingesetzt hatte und in den 1950er-Jahren beängstigende Ausmaße annahm. Dieser Zustrom aus dem Süden folgte nicht einem Naturgesetz, sondern war gelenkt. System steckte auch hinter der Praxis, den Südtirolern den Zugang zu den staatlichen und halbstaatlichen Stellen zu versperren. Diese Ausgrenzung erzeugte allmählich einen gefährlichen Druck. Bedingt durch den Einzug der Technik in die Landwirtschaft, setzte der Bauernstand immer mehr Arbeitskräfte frei. Zudem strebten Jahr für Jahr stärkere Geburtenjahrgänge in das Erwerbsleben. Stellen hätte es ja in Südtirol gegeben, aber sie waren Italienern vorbehalten. Und so blieb oft nur mehr der Weg ins Ausland offen. Um 1958 verließen jährlich rund 7.000 Südtiroler ihre Heimat, um in Deutschland oder in der Schweiz Arbeit zu suchen.28 Nur ein kleiner Prozentsatz von ihnen kehrte nach Südtirol zurück; die meisten blieben für immer weg. Potenziert wurde diese Verdrängungs- und Überfremdungstendenz durch eine gezielte Wohnbaupolitik. In den 1950er- und 1960er-Jahren war es für einen Südtiroler fast unmöglich, eine Sozialwohnung zu bekommen. In der Zeit von 1945 bis 1956 wurden in der Provinz Bozen 4.100 Volkswohnungen errichtet, aber nur 246 davon gingen an Südtiroler.29

Auf die Gefahr, die Südtirol vom Süden her drohte, machte Kanonikus Michael Gamper schon im Oktober 1953 aufmerksam. Der Prozentsatz der einheimischen Bevölkerung sinke von Jahr zu Jahr steil ab, „gegenüber dem unheimlichen Anschwellen der Einwanderer“. „Fast mit mathematischer Sicherheit können wir den Zeitpunkt errechnen, zu dem wir nicht bloß innerhalb der zu unserer Majorisierung geschaffenen Region, sondern auch innerhalb der engeren Landesgrenzen eine wehrlose Minderheit bilden werden … Es ist ein Todesmarsch, auf dem wir Südtiroler seit 1945 uns befinden, wenn nicht noch in letzter Stunde Rettung kommt.“30 Michael Gamper, ein Mann des Volkes in des Wortes positivem Sinn, hatte hier die Problematik um Südtirol auf den Punkt gebracht. Dass Gamper mit der Parole vom Todesmarsch keine leere Worthülse in die Welt gesetzt, sondern ein Schlagwort mit Inhalt geprägt hatte, zeigte sich spätestens bei der Landtagswahl von 1956: Verglichen mit 1948 verzeichneten die italienischen Parteien einen Stimmenzuwachs von 32,8 Prozent (rund 16.000 Stimmen), die Listen der Südtiroler Parteien hingegen nur einen Stimmenzuwachs von 16 Prozent (17.000 Stimmen).31 Zu diesen Fakten kam dazu, dass sich in den 1950er-Jahren ganz allgemein das politische Klima verschlechterte. Es wurde für die Südtiroler zusehends unbehaglicher, in Südtirol zu leben. „Politik, Exekutive und Justiz arbeiteten Hand in Hand, um in Südtirol eine Atmosphäre präpotenter Repression zu erzeugen.“32 Reine Lappalien gaben Anlass für Anzeigen, umständliche Untersuchungen und für Verurteilungen. Jede Schwurgerichtssession hatte eine Reihe von Schmähprozessen im Programm, reine Grotesken im Nachkriegseuropa, in Südtirol aber harte Wirklichkeit. Die Erbitterung über solche Verfahren steigerte sich von Mal zu Mal, weil sich die Italiener den Südtirolern gegenüber alles leisten konnten – Verhöhnungen, Diffamierungen33, Störaktionen, Überfälle und Verprügelungen34 – ohne Gefahr zu laufen, von Polizei und Justiz jemals zur Rechenschaft gezogen zu werden.

Wie haben die Südtiroler auf alle diese Diskriminierungen und Provokationen reagiert? Die meisten taten das, was sie oder ihre Väter unterm Faschismus getan hatten: Sie duckten sich und machten die Faust im Sack. „Zu Beginn der fünfziger Jahre“, sagt der Bozner Unternehmer und Landwirt Franz Widmann, „da haben wir noch aus der Faschistenzeit diese Angst in den Knochen gehabt, diese kolonialistischen Minderwertigkeitskomplexe. Wir haben uns nicht losgesagt von dieser Hypothek. Wir haben ja alle nach dem Krieg unter diesem deutschen Komplex gelitten. Auch aus dieser Situation heraus läßt es sich erklären, warum wir nicht die Forderung nach Selbstbestimmung beibehalten haben, warum die Politik der Volkspartei so konziliant war. Alles Deutsche befand sich ja praktisch in einem halbkriminellen Raum. Österreich war noch nicht handlungsfähig, ein besetztes Land, Südtirol auf sich allein gestellt.“35


Kanonikus Michael Gamper gab mit seinem Leitartikel „Todesmarsch“ der Südtirol-Politik eine neue Richtung

Die SVP-Führung hatte nicht die Kraft, mit Rom einen Kampf auf Biegen und Brechen aufzunehmen. Wohl machte sie die Regierung auf die unhaltbaren Zustände in Südtirol aufmerksam, forderte sie die Rechte des Landes ein, drängte sie auf die Einhaltung von Versprechungen. Rom konnte sich gewiss nicht darauf hinausreden, dass es nicht wusste, wo die Südtiroler der Schuh drückte. Aber solange die Südtiroler Abgeordneten und Senatoren jede Regierung „in allem und jedem“36 unterstützten, ihre Klagen in höfliche Denkschriften fassten und sich mit vagen Zusicherungen zufriedengaben, nahm sie in Rom niemand ernst.

Je mehr sich die Lage im Lande verschärfte, umso weniger war die alte SVP-Garde geneigt, die Realität in Südtirol zur Kenntnis zu nehmen. Was nicht sein sollte, durfte nicht sein. Wer die Hand auf die Wunde legte, galt als Unruhestifter und Quertreiber. In den Monaten Jänner und Februar 1957 hatte sich in Südtirol einiges zugetragen, das nicht mehr hätte ignoriert werden dürfen. Im Vorjahr war es in mehreren Gegenden Südtirols zu Anschlägen gekommen, deutliche Signale dafür, dass es so nicht mehr weitergehen konnte. Am 19. und 20. Jänner 1957 verhaftete die Polizei die Täter, am 1. Februar auch Friedl Volgger, damals verantwortlicher Schriftleiter der Dolomiten und namhafter Exponent der SVP. Dabei geriet auch die Partei in das Schussfeld der italienischen Presse. Für die Parteigremien Gründe genug, sich mit der politischen Lage zu befassen und die entsprechenden Konsequenzen daraus zu ziehen. Die Parteileitung trat dann auch am 4. Februar zu einer Sitzung zusammen. Doch hatte man schlicht und einfach vergessen, den Punkt „Bericht über die politische Lage“ auf die Tagesordnung zu setzen. Zwölf Tage später traf sich der Parteiausschuss. Aber die Sitzung begann nicht mit einem „Bericht über die politische Lage“, sondern mit einem Anliegen Raffeiners. Senator Josef Raffeiner beunruhigten nicht die Ereignisse der letzten Wochen, nein, was ihm im Magen lag, war ein „Rundschreiben des SVP-Ortsgruppenobmannes von Frangart, Herrn Sepp Kerschbaumer, mit welchem die SVP-Führung scharf kritisiert wird“. Raffeiner muss die Klagen und Anklagen Kerschbaumers als eine Art Majestätsbeleidigung aufgefasst haben. Er beantragte nämlich nichts weniger als die „Suspendierung Kerschbaumers und die Einleitung einer Untersuchung“.37 Doch die Mehrheit im Parteiausschuss war nicht der Meinung, dass man wegen dieses Rundschreibens gleich eine Art Inquisitionsverfahren in Gang setzen müsse. Nach einigem Hin und Her beschloss der Parteiausschuss, dass Silvius Magnago, Josef Raffeiner und der Bozner Bezirksobmann Josef Rössler mit Kerschbaumer eine Aussprache führen sollten. Eine solche Unterredung wäre Kerschbaumer sicher recht gewesen. Er wollte ja, dass man sich mit der Situation im Lande befasse – gründlich befasse, er wollte freilich auch, dass man gegen das Unrecht etwas unternahm. Doch die Unterredung kam nie zustande. Magnago entledigte sich der Aufgabe viele Monate später bei einem zufälligen Zusammentreffen mit Kerschbaumer. Er eröffnete ihm, dass der Parteiausschuss ihn, Magnago, beauftragt habe, mit ihm, Kerschbaumer, über eines seiner Rundschreiben zu reden. „Was hiermit geschehen ist“, meinte er. Und die Sache war vom Tisch.

Der Justizpalast in Bozen, faschistische Einschüchterungsarchitektur

Die Palastrevolution von 1957

Für jeden Menschen in führender Stellung kommt eines Tages der Augenblick, in dem er erkennt, dass es Zeit ist, abzutreten und Jüngeren Platz zu machen. Zieht er aus dieser Einsicht nicht die erforderliche Konsequenz, so kommt der Augenblick, in dem auch andere erkennen, dass es Zeit wäre, das Feld zu räumen. Klammert er sich dann immer noch an seine Position, dann wird es schlimm, denn dann erkennen nur mehr die anderen, dass es Zeit wäre, dass der Mann endlich „von den Haxen“ gehe. Dies hängt nicht immer vom physischen Alter ab, sondern mehr vom Vermögen oder Unvermögen, aus der eigenen physischen und geistigen Verfassung die entsprechenden Folgerungen zu ziehen. 1957 war die alte Führungsgarnitur der SVP bei dieser letzten Phase angelangt. So verdient sie sich in den ersten Nachkriegsjahren um Südtirol gemacht hatte, ihre Zeit war abgelaufen. Sie hatte nicht die Kraft und nicht den Willen, Rom gegenüber eine härtere Gangart einzuschlagen. Da die Mannschaft aber auch keine Anstalten machte, abzutreten, blieb keine andere Wahl, als ihr die Basis und den Rückhalt in der Partei zu entziehen. Das oberste Entscheidungsgremium der SVP war der Parteiausschuss. Den Parteiausschuss wählte die Landesversammlung. Es kam daher darauf an, die Fäden so zu ziehen, dass die Wahl nach Wunsch ausging. Der Bozner Unternehmer Franz Widmann und der Landtagsabgeordnete Hans Dietl begannen, sehr vorsichtig die Weichen für die Ablöse zu stellen. Nach einigem Hin und Her legte der Parteiausschuss den Termin für die Landesversammlung auf den 25. Mai 1957 fest. Am 14. Mai trafen Hans Dietl und Franz Widmann die letzten Vorbereitungen. Eine Tagebucheintragung von Hans Dietl belegt, dass auch Sepp Kerschbaumer mit von der Partie war:

15.30 Uhr, Besprechung bei Widmann bis nach 18 Uhr (Stanek, Kritzinger, Eschgfäller, Kerschbaumer, Neuhauser, Baur, Weiß, Trientbacher und zum erstenmal auch Brugger).38

Ungewollt eine gute Stimmung für die bevorstehende Wahl schuf der Obmann Toni Ebner. Nicht einen einzigen nennenswerten Erfolg, wohl aber eine Reihe von Rückschlägen und Niederlagen wies sein Jahresbericht aus. Eine Bilanz, die die Debattenredner geradezu aufforderte, eine neue Politik zu verlangen. Sepp Kerschbaumer etwa meinte:

Ich würde in die heutige Entschließung hineinschreiben: „Los von Trient!“ Und das müßte auch schneidig durchgeführt werden. Es ist schon viel zu viel um den heißen Brei herumgeredet worden, es wäre bald Zeit, den Brei selbst einmal in die Hand zu nehmen.39

Die Wahl, bisher eine reine Formsache, erbrachte den ersehnten Umschwung. Von den Kandidaten, die der Parteiausschuss aufgestellt hatte, fielen elf durch. An ihre Stelle rückten ebenso viele „Durchfallkandidaten“. Alles Vertreter einer harten Linie. Magnago wurde zum Obmann gewählt, Karl Tinzl, Hans Dietl, Alfons Benedikter und Friedl Volgger traten ihm als Vizeobmänner zur Seite. „Eine neue Garnitur übernahm die Parteiführung, eine neue Ära brach an.“40 Sepp Kerschbaumer vertrat in einem später verbreiteten Flugblatt die Ansicht, der 25. Mai 1957 werde als „Ehrentag unseres Volkes in die Geschichte eingehen“. „Hier hat das Volk mit unmißverständlicher Deutlichkeit gesprochen.“41

Die Kundgebung von Sigmundskron

Wenn die Politiker in Trient und Rom auf der Höhe ihrer Aufgabe gewesen wären, hätten sie erkennen müssen, dass mit der Wachablöse in der SVP eine neue Ära begann. Die Zeit des Zurückweichens und des Leisetretens war vorbei. Dass die neue Führung bereit war, den Fehdehandschuh aufzugreifen, zeigte sich spätestens im Herbst 1957. Der Minister für öffentliche Bauten, Giuseppe Togni, schickte am 15. Oktober um 17 Uhr an den Bozner Bürgermeister, Giorgio Pasquali, ein Telegramm ab. Die Optimisten im Lande glaubten, dass es sich um die vom Minister versprochene Soforthilfe für die von der Unwetterkatastrophe Betroffenen handle.42 Im August hatten schwere Unwetter das Land heimgesucht.43 Sepp Kerschbaumer hatte sich nicht wenig darüber gegrämt, dass die meisten Landespolitiker in diesen Tagen höchster Not und Gefahr durch Abwesenheit geglänzt hatten. In einem an die Führenden Männer unserer Volksgruppe gerichteten Rundschreiben warf er im Namen vieler Landsleute die Frage auf, wo denn „unser Landesvater, unser Landeshauptmann mit seinen vom Volk gewählten Vertretern“ sei. „Haben wir nur zwei Männer im Lande, die ein Verantwortungsbewußtsein haben? Landeshauptmannstellvertreter Fioreschy und Vizebürgermeister von Bozen Riz?“

Er gönne jedem seine Sommerfrische, aber in der Zeit höchster Not wäre es schon erste Pflicht eines Verantwortlichen, bei seinem Volke zu sein. Die Absenz der Landespolitiker konnte seiner Ansicht nach auch politische Folgen haben: „Soll das Südtiroler Volk sich in seiner Not an die ANDEREN wenden, die es mit ihm so GUT meinen und sofort zur Stelle sind, wenn es darum geht, im trüben zu fischen?“44 Zumindest in dieser Hinsicht hätte Kerschbaumer beruhigt sein können. Das Togni-Telegramm hatte keine Katastrophenhilfe, sondern eine Katastrophenmeldung zum Inhalt:


Die Kundgebung von Sigmundskron

Dem Herrn Bürgermeister von Bozen und zur Kenntnis an S. Exz. den Präfekten von Bozen.

Es freut mich, Ihnen mitteilen zu können, daß das Koordinierungskomitee für Volkswohnbau (CEP) eine schnelle Realisierung des zweiten Wohnbauprogramms beschlossen hat, in welchem die Errichtung eines neuen Stadtteiles in Bozen einbegriffen ist, und zwar für den Betrag von 2,5 Milliarden Lire für die Errichtung von 5000 Wohnräumen, zusätzlich Kirchen und die Gebäude für soziale und öffentliche Dienste.

Ich bin sicher, auf Ihre Mitarbeit bei der Verwirklichung dieser Initiative der Regierung rechnen zu können, und bezweifle nicht, daß dieser wesentliche Beitrag zur Durchführung des sozialen Wohnbauprogramms in dieser Stadt gewürdigt wird.

Togni, Minister für Öffentliche Arbeiten.

„Der Togni-Plan“, schreibt Franz Widmann, der diese Zeit als aufmerksamer Beobachter miterlebt hat, „ging wie ein elektrischer Schlag durch die Südtiroler Bevölkerung; er löste Entrüstung und Zorn aus über eine derart dreist und offenkundig fortgesetzte Zuwanderungspolitik, mit der die Südtiroler praktisch an die Wand gedrückt werden sollten.“45 Eine SVP-Delegation sprach schon am 24. Oktober 1957 beim Minister vor, um gegen dieses Großprojekt Einspruch zu erheben. Ihr Erfolg war gleich null. Togni erklärte ihr, dass das Vorhaben Teil eines für ganz Italien geplanten Volkswohnbauprogramms sei. Es habe lediglich sozialen und keinen politischen Charakter.46 Wer’s glaubte, konnte selig werden. Aber danach hatte zu der Zeit niemand ein Verlangen.

Wie sich diese Art von Sozialpolitik auswirke, konnten sich die Südtiroler an den Fingern ausrechnen. Der Parteiausschuss der Südtiroler Volkspartei beschloss in seiner außerordentlichen Sitzung vom 27. Oktober 1957, gegen den Togni-Plan eine Protestkundgebung abzuhalten. Die Demonstration sollte am 17. November vor dem Landhaus in Bozen stattfinden. Doch da legten sich die Neufaschisten quer, die drohten, am gleichen Tag zu gleicher Zeit und am gleichen Ort eine Gegendemonstration zu veranstalten.47 Der Querschuss zeigte Wirkung. Unter Berufung auf Artikel 18 des Polizeigesetzes verbot der Quästor Renato Mazzoni der SVP, die Landsleute, die die römische Volkswohnbaupolitik ablehnten, vor dem Landhaus zu sammeln. Als Ausweichplatz wies er ihr den Sportplatz zu. Magnago wäre der Grieser Platz lieber gewesen. Der aber schien wiederum Mazzoni zu gefährlich. In Wirklichkeit wollten die Behörden die Kundgebung überhaupt verbieten. Kurz nach dem Gespräch, das Magnago mit Mazzoni geführt hatte, nahm der Regierungskommissar Luigi Sandrelli die Genehmigung für die Abhaltung der Kundgebung auf dem Sportplatz zurück. Spätestens jetzt aber mussten die Behörden zur Kenntnis nehmen, dass sie es bei der SVP mit neuen Leuten zu tun hatten, mit Leuten, die Verbote nicht einfach hinnahmen. Die SVP hatte am 30. Oktober 1956 zum 10. Jahrestag des Pariser Vertrags in Bozen eine Großkundgebung veranstalten wollen. Doch der Regierungskommissar hatte ihr die Genehmigung verweigert. Und die SVP hatte sich in das Njet gefügt.48 Doch 1957 war nicht mehr 1956. Magnago und seine Leute gaben das Vorhaben nicht auf. In der SVP kam man auf den Gedanken, die Kundgebung auf Schloss Sigmundskron zu verlegen. Verkehrsmäßig lag der Standplatz ungünstig, aber er hatte eine starke Symbolkraft. Magnago musste sich dem Regierungskommissar gegenüber verbürgen, dass die Kundgebung geordnet verlaufen werde. Unter dieser Voraussetzung erhielt er die Genehmigung, die Demonstration auf Schloss Sigmundskron abzuhalten.

Hatten die Behörden mit ihrem Hin und Her auch die Nerven der Veranstalter arg strapaziert, so lieferten sie ihnen doch auch die Werbung frei Haus. Hätte es ihre Widerstände nicht gegeben, so wären 10.000, maximal 15.000 Südtiroler gekommen, nach Sigmundskron aber begaben sich 35.000. Von der Menge stürmisch begrüßt, trat Magnago ans Rednerpult. In einer der Wortwahl nach sehr zurückhaltenden Ansprache rief er das „Los von Trient!“ aus, „das den künftigen Kurs der Politik in Südtirol bestimmte“.49 Es bereitete ihm keine Schwierigkeiten, den Resolutionsentwurf durchzubringen, wohl aber musste er seine ganze Überzeugungskraft aufbieten, um die Massen von einem Marsch auf Bozen abzuhalten. Er habe als Verantwortlicher für diese Kundgebung und als Obmann der SVP sein Wort gegeben, „daß kein Marsch und kein Sonderprogramm“ nach dieser Kundgebung stattfinden werde. Zwischenruf aus der Menge: „Die anderen haben schon viele Worte gegeben!“ Magnago: „Ich aber habe mein deutsches Wort gegeben, und ich bitte euch, dieses mein deutsches Wort einzuhalten, denn das deutsche Wort hat bei uns immer noch Gültigkeit.“50 Das schlug ein. Die Veranstaltung klang ohne Zwischenfall aus. Claus Gatterer spricht von einer „feierlich-disziplinierten und gerade hierin unitalienischen Demonstration“.51

Die bestimmende Persönlichkeit der Sigmundskroner Kundgebung war ohne Zweifel Magnago. Doch hat ihr auch Sepp Kerschbaumer seinen Stempel aufgedrückt. Er muss damals Tag und Nacht tätig gewesen sein. Es ist wahrscheinlich, dass er auch die Aktion vor der Battisti-Büste in die Wege geleitet oder zumindest unterstützt hat. Luis Amplatz und Otto Petermair legten zum Auftakt der Sigmundskroner Großkundgebung am Bozner Siegesdenkmal einen Kranz mit einer Schleife nieder, die es in sich hatte: Dem Verfechter der Grenze bei Salurn! stand da drauf, und: CESARE BATTISTI die Südtiroler. Die Wachposten, ohne Deutschkenntnisse und ohne Ahnung von der Landesgeschichte, erfassten nicht, dass hiermit ein Protest gegen die Brennergrenze deponiert wurde.

Eine Huldigung an Cesare Battisti als Verfechter der Salurner Grenze

Kerschbaumer dürfte auch dafür Sorge getragen haben, dass auf Sigmundskron die verbotene Tiroler Fahne gehisst wurde, zuerst am Bergfried, dann auch an anderen Stellen, jedes Mal von der Menge mit Jubel begrüßt.52 Den stärksten Akzent aber setzte er mit einem maschinegeschriebenen Flugblatt, das er in Sigmundskron unter die Leute brachte:53

LANDSLEUTE!

Noch nie in den fast 40 Jahren italienischer Herrschaft hat sich unser Volk in einer so gefährlichen Lage befunden wie heute! Was dem Faschismus in nahezu 20 Jahren mit gewaltsamsten Unterdrückungsmethoden nicht gelungen ist, hat das demokratische Italien in 10 Jahren beinahe erreicht. Trotz des Pariser Vertrages! Noch 10 Jahre „christlich-demokratische Herrschaft“ in Südtirol, und sie haben es erreicht, was sie sich vom Anfang an zum Ziele gesetzt haben: Die Südtiroler im eigenen Lande in die Minderheit zu drängen und sie dann auf „demokratische Weise“ auszurotten, sie zu verwelschen!

L A N D S L E U T E !Es ist fünf vor zwölf! Wir rufen daher alle echten Tiroler auf, sich endlich zu besinnen und zu handeln, ehe es zu spät ist! Es ist das letzte Aufgebot! Die Welt weiß es, der alte, echte Tiroler Geist, er ist noch nicht tot, er kann nicht tot sein! Er schläft, er glimmt im Verborgenen, in Dörfern und Städten.

Hört unsern Ruf: Südtirol erwache! Rüstet euch zum Kampf! Zum Kampf um unsere Existenz! Es geht um Sein oder Nichtsein unseres Volkes! Es geht um den Bestand unsrer Kinder, unserer Kindeskinder!

Frei wollen wir wieder werden in unserem Lande, frei wie unsere Vorväter es gewesen über 1000 Jahre im deutschen Südtirol! Deutsch wollen wir bleiben und keine Sklaven eines Volkes, welches durch Verrat und Betrug unser Land kampflos besetzt hat und seit 40 Jahren ein Ausbeutungs- und Kolonisationssystem betreibt, welches schlimmer ist als die einstigen Kolonialmethoden in Zentralafrika! In den ganzen 40 Jahren italienischer Herrschaft haben wir nicht eine Spur guten Willens auf italienischer Seite feststellen können. Mochte es sich um Faschismus oder mag es sich um Christlich-Demokraten, Sozialisten oder Kommunisten handeln! Sie alle sind sich darüber einig: Das Deutschtum in Südtirol muß ausgelöscht werden!

L A N D S L E U T E !„Ein Volk, das um nichts anderes kämpft als um sein angestammtes, verbrieftes Recht, wird den Herrgott zum Bundesgenossen haben!“ (Kanonikus Gamper). Aber kämpfen müssen wir um unser Recht, kämpfen, auf daß wir wieder freie Tiroler werden! In einemf r e i e nS Ü D T I R O L!

Das Blatt war ungezeichnet, die Aufmachung bescheiden. Doch die Diktion ließ schon erahnen, dass da eine neue politische Kraft im Untergrund tätig war.