Henrici

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Hans-Jost Frey

bei Urs Engeler

Hans-Jost Frey Henrici

Das Ausland

„Wo denken Sie hin?!“ pflegte Zauner auszurufen, wenn jemand etwas vorbrachte, das seiner Meinung nach unangebracht, masslos oder nur störend war. Nachdem er Henricis Vorschlag, man sollte bei der Einbürgerung von Ausländern weniger darauf achten, woher sie kämen, als wer sie seien, mit dieser üblichen Wendung quittiert hatte, meinte Henrici, das sei vielleicht eine gute Frage, aber er könne sie nicht beantworten. Er denke zwar lieber nicht rückwärts und lieber aufwärts als bergab, aber wo das hinführe, wisse er nicht zu sagen, und vielleicht genüge es, anstatt hierhin und dorthin einfach nur zu denken. „Sie mit Ihrem Sprachfimmel!“ schimpfte Zauner. „Damit kommen wir nirgends hin.“ „Wohin denken Sie denn, dass wir kommen sollten?“ „Ich habe lange genug hin und her überlegt, um zu wissen, was uns not tut“, sagte Zauner. „Wenn man hin und her geht, kommt man manchmal dorthin zurück, woher man kam“, warf da Henrici ein, „und ich glaube, Sie wollen einfach beim status quo bleiben.“„Ganz richtig! Quoten, das ist es, was wir brauchen, wo kämen wir sonst hin?“ „Wenigstens nicht dorthin, wo Sie hindenken“, seufzte Henrici.

Das Blatt

Auf dem Weg nachhause bemerkte Henrici, als er den Stadtpark durchquerte, dass sich an manchen Bäumen die Blätter verfärbten und abfielen, obwohl es mitten im Sommer war. Nicht weit von ihm entfernt stand ein unscheinbarer älterer Mann, den Henrici vom Sehen als den Bibliothekar Staub kannte. Dieser war gerade daran, ein dürres Blatt zwischen den Fingern zu zerkrümeln und konnte sich, wie er, halb im Selbstgespräch, murmelte, nicht erinnern, dass es je so lange trocken und so heiss gewesen sei. „Es kommt einem so vor, als falle die Natur auseinander. Wie ein altes Buch, das, wenn man es nach langer Zeit aus dem Gestell nimmt, auseinander bricht und seine Seiten nach allen Seiten hin verstreut.“ Henrici antwortete, obwohl er nicht sicher war, ob die Rede an ihn gerichtet war: „Ich verstehe, dass Sie als Bibliothekar Ihre Vergleiche aus dem Büchergestell holen. Aber abgesehen davon, dass mir Ihre Darstellung mehr auf heutige Taschenbücher zuzutreffen scheint, finde ich mich eher als an Bücher an mein Badezimmer erinnert, wo, allerdings als Folge nicht der Trockenheit, sondernd der Feuchtigkeit, die sich niederschlägt, wenn ich der Hitze durch eine Dusche beizukommen suche, die Farbe abblättert.“ Staub blickte den ihm unbekannten Herrn lange nachdenklich forschend an. „Darf ich Sie“, fragte er schliesslich, „fragen, was Sie von Beruf sind?“ „Das“, sagte, sich wieder in Bewegung setzend, Henrici, „steht auf einem anderen Blatt.“Das Buch

Das Busch

Als Henrici eintrat, war Wurm damit beschäftigt, ein Buch aufzuschneiden, bei dem, wie es früher üblich war, die zweimal acht Seiten jedes Bogens durch die Faltung dem Blick des ersten Lesers entzogen waren und abwechslungsweise oben und seitlich oder nur oben sorgfältig getrennt werden mussten, damit der Inhalt erschlossen werden konnte. Während Wurm mit einem Brieföffner dieser die Lektüre vorbereitenden Tätigkeit nachging, durch die das Veröffentlichte erst aus einer immer noch verschwiegenen Verborgenheit ins Offene eigentlicher Öffentlichkeit gezerrt wurde, erzählte er mit etwas zu lauter Stimme, wie er zu diesem Buch gekommen sei, das er als eine grosse Seltenheit schon lange gesucht und mit dem schliesslich erfolgreichen Spürsinn, der den wirklich begabten Sammler auszeichne, aufgetrieben habe. Auch habe er das Buch für einen Pappenstiel erwerben können, weil es so unscheinbar aussehe und niemand ausser ihm bei der Auktion gewusst habe, um was für ein ausserordentlich wertvolles Stück es sich handle. „Es lohnt sich schon, ein Kenner zu sein, und als einen solchen darf ich mich wohl betrachten, denn ich kenne niemanden, der sich so genau wie ich auf diese Zeit versteht. Meine Bibliothek weist nur wenige Lücken auf, und ich bekomme Anfragen aus der ganzen Welt von Leuten, die auf meine Sachkenntnis vertrauen.“ „Erstaunlich, lieber Wurm“, sagte Henrici, „aber machen Sie nur weiter, ich wollte Sie eigentlich nicht beim Aufschneiden stören.“Das Einfache

Das Einfache

Am 30. September soll sich, nach seinen eigenen Worten, Henrici zur Einfachheit entschlossen haben. Denjenigen, die ihn fragten, was er damit meine, gab er zur Antwort, das Einfache sei gerade dadurch einfach, dass es weder nötig habe noch zulasse, erklärt zu werden. Es habe ihn, ganz unerwartet, auf der Strasse überfallen, so wie man stolpernd über ein Hindernis falle, das man übersehen hat. Er sei zwar nicht gestürzt, aber darüber bestürzt gewesen, dass ein Gedanke, und erst noch der an das Einfache, auf den als den gewöhnlichsten und einfachsten er längst von selbst hätte kommen müssen, einfach so über ihn hereinbrechen konnte. Dem Einwand, zu etwas, worüber man stolpere, könne man sich, da man im Voraus nichts davon wisse, schwerlich entschliessen, begegnete er mit der scheinbar nicht dazu passenden Bemerkung, was ihm widerfahren sei, hätte, unvorhergesehen und nicht geplant, wie es war, ebenso gut an irgend einem anderen Tag eintreffen können, aber ob nicht, dass er nicht verstand, warum ihn das Vorgefallene gerade am 30. September überfallen habe, gerade das Einfache sei, zu dessen Einfachheit er sich jetzt, nachdem es geschehen sei, entschlossen habe, da es ihm am einfachsten erschienen sei, das Einfache einfach hinzunehmen.

Das Erbe

„Gar nichts“, antwortete Henrici nach einer längeren Pause auf die Frage, was von den auf dem Tisch versammelten Gegenständen er für sich beanspruche. Die Teetassen mit dem stellenweise verwaschenen Goldrand, die Tischlampe mit dem grünen Glasschirm, die elegant taillierte Pendeluhr oder das schwärzlich angelaufene Silbertablett – alles kam ihm unheilbar beschädigt vor. Nicht dass es zerbrochen, zerbeult oder sonst wie defekt gewesen wäre, aber der Mangel, von der Verstorbenen als blosser Rest hinterlassen worden zu sein, entstellte die seit je selbstverständlich gewesenen Dinge zu Ruinen. Sogar in die Fotos, die durch ihre zu aufwendigen Rahmen hinreichend geschützt zu sein schienen, war das Fehlen von Erinnerung als schleichend sich ausbreitende Unkenntlichkeit gesickert. Es war nicht von Vorteil, Geerbtes voreilig als Gewinn zu verbuchen. Den heimatlosen Sachen – was allein sie an sich zu nehmen und zu besitzen zum Genuss hätte machen können – zurückzugeben, was sie verloren hatten, fühlte sich Henrici ausserstande, hatte er doch seiner Familie immer nur dem Namen nach angehört. Unter den unverwandten Blicken der Verwandten verliess er den Ort der Teilung und ging ins Café. „Gar nichts“, sagte er auf die Frage der Kellnerin, „schwarz, weder Milch noch Zucker.“Das Fenster

Das Fenster

Durch die Glasscheiben war, auf beiden Seiten von den Vorhängen begrenzt, in der Mitte durch die Einfassung der Fensterflügel entzweigeschnitten, der Ausschnitt eines Ahorns im April zu sehen, dessen im Gegensatz zu später hellgrüne Blätter sich erst teilweise entfaltet hatten und rasch sich verformende Wolken durchscheinen liessen, die ab und zu den Blick auf einen blauen Schimmer freigaben. Das von eingetrockneten Regentropfen verunreinigte Glas legte über das Bild ein durchsichtiges Muster, das manchmal in es hineinzusinken und den Baum mit befremdlichen gallertigen Früchten zu behängen schien, bis man es, den Kopf leicht bewegend, in die spröde Starre seiner Oberflächlichkeit zurückholte. Dann und wann stach ein Vogel quer durch die Aussicht. Henrici stand auf und verliess das Haus.

Das Fundament

„Ich baue beim Bau meines Hauses ganz auf meine Hausautoren, sie sind das Fundament meines Verlags“, sagte Engeler zu Henrici, als sie zusammen in die Baugrube blickten, wo einige Schriftsteller eben damit beschäftigt waren, mit einer Nervensäge Wörter zu zerlegen. Die zu wirren Haufen aufgeschichteten Bausteine wurden von den werkmüdigerweise damit beauftragten Anagrammatikern so zusammengeschottert, dass sie mindestens bis zum Richtfest fast festgemauert in der Rede stehen würden. „Hausautoren sind zwar fundamental“, sagte Henrici, „aber ich bin beruhigt zu sehen, dass du nicht so sehr auf sie baust, dass du sie einmauerst.“ Engeler warf ihm einen etwas misstrauischen Blick zu und meinte: „Unser ganzer Fundus ist ausschliesslich mental, allerdings mehr ornamental als instrumental, und weniger monumental als experimental. Deshalb kommen wir auch ohne Zement aus. Die Wände mögen wie Papier aussehen, aber sie sind mit Bleistiften armiert. Das Haus ruht, wie du bemerkt haben wirst, auf festen Grundsätzen, denn wir werden jetzt häuslich, ganz ohne Feld-, Wald- und Wiesenpoesie. Es beginnt ein neuer Abschnitt.“ „Man könnte fast sagen: ein Umbruch“, pflichtete ihm Henrici bei, „sogar noch bevor alles gestrichen ist.“Das H

Das H

Heilig ärgerte sich darüber, dass er so hiess, nicht nur weil er aus der Kirche ausgetreten war und nichts von Heiligkeit hielt, sondern auch, weil man ihn in Frankreich immer Eilig nenne, was er, weil er dort immer in den Ferien weile, ebenso wenig wie heilig sei. Als bei einer seiner Reisen der Polizist, der ihn wegen übersetzter Geschwindigkeit angehalten hatte, seinen Namen ohne H aussprach, hatte er ihm empört „Ha! Ha! Ha!“ zugerufen, worauf er beinahe wegen Beamtenbeleidigung zusätzlich gebüsst worden wäre. Henrici, dem er sein Leid klagte, versuchte ihn damit zu trösten, dass es nicht wichtig sei, was der Name bedeute, da es doch allein darauf ankomme, dass damit er, Heilig, gemeint sei, worauf Heilig entgegnete, gerade dies widerstrebe ihm ja, mit Heiligkeit und Eile gemeint zu sein. „Immerhin“, meinte Henrici, „muss man dem Polizisten zugutehalten, dass er annehmen durfte, du habest es eilig, da du zu schnell fuhrst. Heilig hat es eilig ist eine Art Übersetzung von Nomen est Omen, und vielleicht ist dein Name daran schuld, dass du in Frankreich zu schnell fährst. Dies und deine Beziehung zur Polizei wird doch wohl verhindern, dass irgend jemand dich noch für einen Heiligen hält.“ Heilig blickte Henrici etwas misstrauisch an, weil er nicht sicher war, ob dieser sich vielleicht über ihn lustig machte, aber Henrici versicherte ihm, er spreche ganz ohne Hohn, und im Übrigen könne am Ende jeder zu seinem Namen, selbst wenn er ihn als Albtraum erlebe, der vielleicht auch nur ein Halbtraum sei, nur Amen sagen.