Czytaj książkę: «Ich»
Hans-Joachim Höhn Ich
Ich
Essays über Identität und Heimat
Hans-Joachim Höhn
ICH
Essays über Identität und Heimat
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.
1. Auflage 2018
© 2018 Echter Verlag GmbH, Würzburg
Umschlag: hain-team.de (Foto: © Martin Koos / photocase)
Satz: Crossmediabureau – http://xmediabureau.de
eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de
ISBN
978-3-429-04454-1
978-3-429-04966-9 (PDF)
978-3-429-06386-3 (ePub)
Inhalt
I. „Endlich ich!“ – oder: Identität und Heimat im Fokus theologischer Zeitdiagnose
II. „Die Freiheit nehm’ ich mir!“ Identität – Selbstbehauptung – Unverfügbarkeit
1. Das Versprechen der Moderne: Identität – Autonomie – Individualität
2. Freiheit im Plural: Die Strategie der Optionensteigerung
3. Unverzichtbar? Die Logik der Unverfügbarkeit
III. Das wahre Selbst – oder: Eigentlich bin ich ganz anders!
1. Identität und Ästhetik: Vom Ansehen der Person
2. Identität und Lebenskunst: Vom eigenen Wollen, Können und Tun
3. Identität und Religion: Spiritualität der Selbstbeteiligung
3.1. Anspruch und Erwartung: Eigenes Leben – eigener Glaube
3.2. Risiken und Nebenwirkungen: Umwege und Irrwege religiöser Identitätssuche
3.3. Nicht ganz bei sich: Die Logik der Selbsttranszendenz
IV. Alle gleich – alle eins! Identität durch Differenz?
1. Vom „Satz der Identität“ – oder: Die verfängliche Logik des Unterscheidens
2. Zwischen Exklusion und Inklusion: Diskriminierende und wohltuende Unterschiede
2.1. Wer ist das Volk? – oder: Identität durch Exklusion
2.2. Kein wer ohne ein was? – oder: Über sex und gender
3. Das entscheidend Christliche: Was alle Unterschiede relativiert
V. „Da gehör ich hin!” – oder: Identität und Heimat
1. Geboren in … Heimat als Entfernungsangabe
2. Wir bleiben unter uns! Heimat als Gegenwelt
3 Nichts ist mehr, wie es war! Heimat als „Andersort“
4 Wohin es uns zieht … Heimat im Imperfekt – Heimat im Futur
Anmerkungen
Auswahlbibliographie
Personenregister
I.
„Endlich ich!” – oder: Identität und Heimat im Fokus theologischer Zeitdiagnose
„Endlich ich!“ – Situationen, die einen solchen Ausruf provozieren, sind in der Regel ambivalent. Wer diesen Ich-Seufzer von sich gibt, hat eine Phase hinter sich, in der dieses Ich nicht sich selbst gehörte. Es musste anderen den Vortritt lassen oder wurde in Beschlag genommen von Aufgaben, die es widerwillig zu erfüllen hatte. Nun ist der Zeitpunkt gekommen, sich wieder an die erste Stelle zu setzen. Offensichtlich war alles Bisherige vor allem eine Verhinderung eines selbstbestimmten Lebens. Was jetzt kommt, soll endlich ein eigenes Leben werden. Aber ausgerechnet im Moment neu gewonnener Freiheit und Selbstständigkeit wird mit nur einem Wort eine Einschränkung in Erinnerung gebracht. Eine List der Sprache macht auf eine Tücke des Lebens aufmerksam: Es ist endlich. Was am Ende aller Anstrengungen erreicht wird, ist nicht von Dauer. Die Wendung, die das Ziel aller Vorsätze und das Vorhaben eines eigenen Lebens zusammenfasst, erinnert zugleich an die Grenze dessen, was man sich vornimmt und mit dem eigenen Leben vorhat.
Alles ist endlich und das eigene Ich macht davon keine Ausnahme! Ausnahmslos ist alles zu jeder Zeit endlich. Die Zeit des Lebens wird nicht nachträglich befristet. Von Anfang an steht fest, dass sie vergeht. Der Mensch kommt als Sterblicher zur Welt. Aber bis zu dem Zeitpunkt, an dem er sie wieder verlassen muss, hat er mit sich und seinem Leben viel vor. Er will ein eigenes, selbstbestimmtes und freies Leben führen. Er will herausfinden, was eigentlich in ihm steckt und was er aus sich machen kann. Er will zeigen, was ihn auszeichnet. Mal will er sich von Seinesgleichen unterscheiden, und ein anderes Mal will er einer von ihnen sein. Das Vergangene lässt ihn oft nicht ruhen, und die Frage, was einmal aus ihm wird, versetzt ihn bisweilen in noch größere Unruhe.
Unruhige Menschen erkundigen sich häufig nach der Uhrzeit. Dabei interessiert sie nicht, wie spät es ist. Eher treibt sie die Sorge um, es könnte zu spät sein. Es geht ihnen um den richtigen Zeitpunkt für einen Ortswechsel. Sie fürchten, zu spät zu kommen und etwas zu verpassen. Manchmal tröstet es sie, wenn man ihnen sagt, sie seien gut in der Zeit.1 In welcher Zeit? In dem kurzen Abschnitt zwischen Geburt und Tod?
Die folgenden Reflexionen gehören zur Gattung der Zeitdiagnose.2 Dabei geht es nicht nur um die Frage nach guten oder schlechten Zeiten oder um die Unterscheidung, wofür die Zeit gerade gut oder schlecht ist. Das Augenmerk liegt vor allem auf den besonderen Zeitumständen, welche die Frage nach Identität und eigenem Leben mit Relevanz und Aktualität versehen. Theologische Zeitdiagnostik will herausfinden, was in und zu unserer Zeit an der Zeit ist und zugleich über diese Zeit hinausweist. Ihre Adressaten sollen wissen, wie weit es mit ihnen gekommen ist und was auf sie zukommt.
Theologische Zeitdiagnostik ist ein prekäres Unternehmen. Man sagt ihr häufig ein unkritisches Verhältnis zum Zeitgeist nach, der bekanntlich sprunghaft und launisch, unbeständig und unberechenbar ist. Entsprechend kurzlebig und unzuverlässig müssen Auskünfte über den Geist der Zeit ausfallen. Allenfalls Momentaufnahmen einer sich permanent verändernden Gesellschaft scheinen möglich. Aber dieser Umstand ist es nicht, der an der Seriosität theologischer Zeitdiagnosen zweifeln lässt. Weitaus gravierender ist die Tatsache, dass hierbei doppelt Maß genommen werden muss: an den Zeichen der Zeit und am Evangelium. Denn die Theologie will einerseits nach jenen säkularen Zeichen fragen, welche die jeweilige Zeit setzt. Andererseits hat sie sich dem Anspruch des Evangeliums zu stellen, für die Deutung dieser Zeichen bedeutsam zu sein und in der Zeit eine eigene Zeichensetzung vorzunehmen. Folglich ist die Theologie dazu verpflichtet, etwas zu praktizieren, was in anderen Wissenschaften verpönt ist. Sie muss mit zweierlei Maß messen. Sie muss ermessen, welche Bedeutung die Zeichen der Zeit für die Auslegung des Evangeliums haben und welche Relevanz das Evangelium für die Deutung dieser Zeichen hat.3 Hierbei kommen Regeln des Zeichengebrauchs ins Spiel, die nicht deckungsgleich sind. Daraus resultieren wiederum unterschiedliche Lesarten und Deutungen, was an der Zeit ist und daraus noch werden kann.
Diese Differenzen zur Geltung zu bringen, wenn es um Fragen der Selbstfindung und Selbstbehauptung des Individuums geht, ist ein Ziel der folgenden Essays. Ihnen geht es nicht nur um eine Sichtung gegenwärtiger Bestrebungen, Individualität und Identität auch unter widrigen Umständen zu behaupten. Sie wollen außerdem zeigen, welche unterschiedlichen Strategien dabei eingesetzt werden und welche Alternativen dazu bestehen. Zu diesem Zweck wird in allen Studien eine säkulare Deutungslogik mit einer theologischen Deutungslogik konfrontiert. Bei diesen Gegenüberstellungen kommen die spezifischen Maßeinheiten einer theologischen Zeitdiagnostik zur Geltung: Als maßgeblich für individuelle Freiheit gilt die Größe „Unverfügbarkeit“ und nicht das Leitbild der fortschreitenden Verfügung über ein Maximum unterschiedlicher Handlungsoptionen (Kapitel II). Als Prüfstein für die Entdeckung eines wahren Selbst stellt die Theologie das kritische Gegenüber von Mensch und Gott heraus und nicht ein Authentizitätskonstrukt, bei dem der Mensch nur auf den Weg der Selbsterkundung und Selbstaffirmation geschickt wird (Kapitel III). Bei der Erörterung des Grundsatzes, dass Identität nicht ohne die Markierung von Differenzen erhalten und gesichert werden kann, wird an den Alternativentwurf einer christlichen Anthropologie erinnert. Deren Ansatz operiert zwar auch mit einer Differenz – dem Unterschied zwischen Gott und Mensch, zwischen Schöpfer und Geschöpf. Aber er insistiert darauf, dass diese Differenz keine weiteren diskriminierenden Unterscheidungen generiert, sondern alle zwischenmenschlichen Differenzen relativiert. Es gibt keinen Unterschied zwischen Menschen, der nicht von der je größeren Gemeinsamkeit ihrer Mitgeschöpflichkeit umgriffen wird (Kapitel IV). Dieser Kernsatz des entscheidend und unterscheidend Christlichen eröffnet auch einen neuen Blick auf Konzeptionen einer sozialen Identität, die mit prekären Zugehörigkeitszuschreibungen operieren und dem Diskurs über Identität und Heimat neuen Auftrieb geben.4 In diesem Diskurs begegnen häufig Idealisierungen von identitätsstärkenden Beheimatungen. Das Verhältnis von Glaube und Heimat lässt sich jedoch nicht auf einen solchen einfachen Nenner bringen.5 Die für eine christliche Theologie relevanten biblischen Bezugstexte haben vorwiegend die Heimatlosen im Blick. Sie fremdeln mit der Vorstellung von religiöser Identität und religiöser Beheimatung, die Mitgliedsausweise frommer Vereinigungen abstempelt oder die Verwurzelung in folkloristischen Traditionen beschwört (Kapitel V). Ihr Blick ist in die Zukunft gerichtet. Was auf den Menschen zukommt und worauf er zugeht, ist hier bedeutsamer als das, woher er kommt.
Zeitdiagnosen erfüllen vor allem eine deiktische Funktion, d.h., sie wirken wie Fingerzeige, welche die Konzentration auf Entwicklungen lenken, welche die gesellschaftlichen Verhältnisse nachhaltig prägen.6 Verbunden ist damit eine Fokussierung sozialwissenschaftlicher Forschung, aber auch eine Reduktion der Komplexität sozialer Wirklichkeit. Anspruch, Reichweite und Grenzen einer Zeitdiagnose sind daher danach zu beurteilen, inwieweit sie eine Aufmerksamkeitslenkung auf signifikante soziale Phänomene bewerkstelligen und sich dabei ihrer Präferenzen und Optionen bewusst sind. Eine weitere Doppelcodierung ist beim Thema „Identität und Heimat“ zu beachten: Die aktuellen Diskurse über Identität und Beheimatung weisen sowohl eine gesellschaftsanalytische als auch eine kulturkritische Komponente auf. Zugleich sind sie selbst ein Gegenstand der Analyse ihrer Anliegen und der Kritik ihrer Resultate.
Dass sich die Theologie um ihrer eigenen Sache willen an der Analyse gesellschaftlicher Vorgänge und an der Kritik ihrer Deutungen zu beteiligen hat, muss man ihr immer wieder neu in Erinnerung rufen.7 Daran erinnert zu werden und der damit verbundenen Aufforderung nachzukommen ist ihr lästig. Denn beim Stichwort „Kritik“ sieht sie sich nicht als Subjekt, sondern primär als Zielscheibe unbequemer Fragen. Die Theologie hat sich seit geraumer Zeit widerwillig daran gewöhnt, dass sie und ihr Gegenstand – die Relevanz des christlichen Glaubens – in der säkularen Gesellschaft lediglich im Modus der Skepsis und des Argwohns thematisiert werden. Aus dieser Erfahrung erwächst die Versuchung, die eigene Sache stets mit dem Gestus der Verteidigung zu vertreten. Gelegentliche Offensiven einer theologischen Sozialkritik erfolgen meist mit einem apologetischen Hintergedanken: Es stünde besser um diese Gesellschaft, wenn sie christlichen Werten mehr Beachtung schenken würde. Das Christentum soll trotz aller Defizite seiner kirchlichen Sozialgestalt identifizierbar bleiben als eine kulturelle Kraft, die eine Gesellschaft zusammenhalten kann.
Dass Kritik nur selten versöhnlich ausfällt und im Regelfall Spaltungen verschärft, empfinden vor allem die Kritisierten. Daher wird an Christen vor allem von Seiten der häufig kritisierten politischen Eliten der Wunsch adressiert, dass sie ihre Gesellschaftskritik in sozialverträglicher Dosierung vorbringen. Flankenschutz erhält diese Empfehlung von zahlreichen Stimmen innerhalb und außerhalb der Kirche, die das Unternehmen der Gesellschafts- und Kulturkritik als das Betreiben von Agenturen des sozialen Unbehagens, des Neinsagens und Dagegenseins am liebsten in die Insolvenz verabschieden.8 Unter solchen Umständen ist es für die Theologie verlockend, in „postkritischen“ Konstellationen nur noch darüber zu reden, was das Leben in dieser Zeit zustimmungsfähig macht oder was unstrittige religiöse Identifikations- und Beheimatungsangebote auszeichnet.
Es ist unbestreitbar, dass jeder Mensch zwar mit Kritik leben muss, aber kein Mensch nur von Kritik leben kann. Und ebenso besteht kaum ein Zweifel, dass ein unablässiges Klagen über das, was im Argen liegt, schließlich nur den Argwohn befördert, dass nichts so gut ist, wie es scheint. Am Ende gibt es nur noch scheinbar Gutes und den Anschein des Guten. Jedoch macht es sich die Theologie zu leicht, wenn sie bei dem Versuch, die Zeichen der Zeit zu deuten, das Moment der Kritik vernachlässigt. Dies gilt vor allem bei den Themen „Identität“ und „Beheimatung“ – und nicht zuletzt, wenn sie ermitteln will, wie es um die Identität und um die Antreffbarkeit des christlichen Glaubens geht.
Um beides könnte es besser stehen, wenn die sozialkritische Relevanz des Evangeliums offensiver vertreten würde. Damit ist gerade nicht seine Instrumentalisierung für einen ebenso einseitigen wie larmoyanten Kulturpessimismus gemeint. Theologische Zeitdiagnosen leben von der Kunst des Unterscheidens und stehen im Dienst einer Aufmerksamkeitslenkung sowohl auf das zu wenig gewürdigte Gute als auch auf das häufig ausgeblendete Negative sozialer Veränderungen. Zeitdiagnosen schulen die Gabe der Beobachtung und stärken die Urteilskraft. Wenn die These zutrifft, dass man in der Gegenwart von Identität und Beheimatung nur reden kann, wenn man zugleich erfasst, was in diesen Diskursen nicht vorkommt, dann sollte die Theologie ihren Blick richten auf jene Leerstellen, die aus dem Abdrängen religiöser Belange in den Bereich vermeintlich geringer sozialer Bedeutung resultieren. Nicht minder ist von ihr zu erwarten, dass sie jene Zeitgenossen zur Selbstkritik ermutigt, die den christlichen Glauben individualistisch verkürzen oder religiöse Beheimatung traditionalistisch engführen. Beides führt zu Dissonanzen mit dem Evangelium.
Dass die Erörterung dieser Dissonanzen zu neuen Kontroversen führt, muss die Theologie nicht schrecken. Wem nicht widersprochen wird, der muss befürchten, niemanden angesprochen zu haben. Für die nachstehenden Versuche, beim Doppelthema Identität und Heimat eine säkulare Deutungslogik mit einer theologischen Deutungslogik zu konfrontieren, ist dies hoffentlich nicht der Fall. Theologische Zeitdiagnosen haben ihr Ziel nicht verfehlt, wenn sie Widerspruch auslösen. Denn was in dieser Zeit an der Zeit ist und daraus mit der Zeit werden kann, wird aus säkularer und christlicher Perspektive zweifellos unterschiedlich gedeutet. Außerdem ist jeder Versuch, die Zeichen der Zeit zu deuten, stets auch ein Akt der Zeichensetzung, der wiederum kontrovers diskutiert werden kann. Vielleicht verhelfen die folgenden Essays dazu, dass sich religiöse und säkulare Zeitgenossen auch darauf – endlich – einen eigenen Reim machen können.
II.
„Die Freiheit nehm’ ich mir!“ Identität – Selbstbehauptung – Unverfügbarkeit
Wer eine Umfrage startet und erkunden will, was junge Menschen antreibt und worauf sie erpicht sind, kann seit 30 Jahren immer wieder dieselbe Auskunft hören: eigenes Geld, eigene Wohnung, eigenes Auto – vor allem aber: ein eigenes Leben.9 Geld, Wohnung, Auto – wer das hat, ist gut dran. In den eigenen vier Wänden kann man machen, was man will. Mit dem eigenen Auto kommt man überall hin. Was will man mehr, als genügend Geld zu haben, um überall machen zu können, was man will? Wem all das fehlt, der ist weit davon entfernt, auf ein erfülltes Leben blicken zu können.
Nur ein eigenes Leben kann ein gelungenes Leben sein. Darin sind sich übrigens alle Generationen einig. Bis in die letzte Phase ihres Daseins wollen sie selbstbestimmt leben. Ob, wann und wie im Krankenhaus, im Pflegeheim oder zu Hause im eigenen Bett gestorben wird, regelt die Patientenverfügung. Und was nach dem Tod mit dem eigenen Geld, der eigenen Wohnung und dem eigenen Auto gemacht werden soll, steht im Testament. Wer diese Verfügungen anfechten will, bekommt zu hören: „Es ist mein Leben – darüber bestimme ich bis zum Schluss. Und über den Schluss bestimme ich auch!“10
Selbstbehauptung und Selbstbestimmung sind Alias-Begriffe für Identität und Freiheit. Selbstbestimmung und Selbstbehauptung nehmen auf der modernen Werteskala die vordersten Ränge ein. Aus gutem Grund: Ohne sie gibt es keine Möglichkeit, das je-meinige Eigensein mit seinen Eigenheiten und Besonderheiten zu leben. Ohne sie gibt es kein eigenes Leben und auch keinen eigenen Tod. Wo es um die ureigenen Angelegenheiten geht, will der moderne Mensch das Sagen haben. Zumindest will er gefragt werden. Ungefragt soll sich auch der Tod nicht bei ihm einstellen. Er soll sich hinten anstellen. Denn vor dem eigenen Tod ist das eigene Leben gefragt. Allerdings steht auch davor ein Fragezeichen. Denn es ist keineswegs ausgemacht, worauf es im Leben vor dem Tod ankommt. Erst recht stellt sich eine erhebliche Verlegenheit ein, wenn es gilt, in einem eigenen Leben das Eigene zu leben. Großgeschrieben wird nicht nur das Leben, sondern auch das Eigene. Aber was heißt es, ein eigener Mensch zu sein? Um welche Eigenheiten und Besonderheiten geht es dabei? Steht dahinter die Aufforderung zur Durchsetzung eigener Interessen und Bedürfnisse inklusive der Beanspruchung einer erheblichen Bein- und Ellbogenfreiheit? Und ist ein eigenes Leben auch schon ein gutes, ein gelingendes Leben?11
Mit der Erfassung und Sicherung der Besonderheit eines eigenen Lebens sind zahlreiche Versprechen und Verheißungen, aber auch Versuchungen und Irrtümer verbunden, die im Folgenden zu sondieren sind. Dabei reicht der Spannungsbogen von zeitdiagnostischen Impressionen zum neuzeitlichen Autonomieideal über freiheitstheoretische Exkurse bis hin zu einem theologischen Plädoyer für Unabhängigkeit und existenzielle Selbstständigkeit im Modus der Unverfügbarkeit. Am Anfang steht jedoch die Erinnerung an das große Versprechen der Moderne, die dafür nur ein Wort mit drei Buchstaben braucht: „Ich“. Die Moderne lässt das „Ich“ in Gesellschaft und Kultur dort Platz nehmen, wo es die Grammatik immer schon hingestellt hat: auf Rang eins.
Zwar kommen regelmäßig Skepsis, Zweifel und Bedenken auf, ob das Individuum diese Position auch verdient. Solche Vorbehalte werden aber ebenso regelmäßig wieder zerstreut. Dass es auch in Wirtschafts- und Finanzangelegenheiten auf die erste Person Singular ankommt, hat zuletzt die Postbank bekräftigt. Sechs Jahre lang hat sie mit dem Slogan geworben: „Unterm Strich zähl’ ich!“ Natürlich stellt sich bereits hier die Frage, was es mit diesem Versprechen auf sich hat. Zähle ich nur, wenn ich zahlungskräftig bin? Welche Strategie muss ich wählen, um bei riskanten Geschäften nicht draufzuzahlen? Wie verhindere ich, dass mir ein Strich durch die Berechnung eines eigenen Lebens gezogen wird?
Fragen beantwortet man am besten mit Fakten. Nicht selten sind es jedoch gerade Fakten, die Fragen aufwerfen. Dreht sich in der Moderne wirklich alles um das Individuum?12 Oder sind die alten Zwänge der Fremdbestimmung nur durch neue Nötigungen eines hochgradig individualisierten, auf sich allein gestellten Daseins abgelöst worden? Aber auch hier weiß die Moderne einen schnellen und guten Rat. Sie empfiehlt, sich mit genügend Alternativen einzudecken. Man ist umso mehr ein eigener Mensch, je mehr Alternativen man hat, etwas Eigenes zu unternehmen.
Aber führt diese Strategie immer zum Erfolg? Stimmt das Kalkül der Freiheit, das sich aus Optionen und Alternativen zusammensetzt? Auf den ersten Blick geht die Rechnung auf. Je mehr Optionen man hat, über umso mehr Alternativen kann man verfügen. Je größer der Verfügungsspielraum ist, umso größer ist die eigene Freiheit. Allerdings kann es angezeigt sein, auch auf die Grenzen dieses Optionenwachstums zu achten und zu überprüfen, ob die Logik der Freiheit tatsächlich einer Logik des Wachstums von Verfügbarkeiten entspricht. Die späte Moderne ist nicht zuletzt geprägt von den Risiken und Gefahren, von den Rückschlägen und Einbußen eines auf Expansion und Unterwerfung bedachten Fortschrittsmodells. Die ökologische Krise hat gezeigt, dass die Nebenwirkungen und Spätfolgen expansiver Naturbeherrschung immense Kosten verursachen. Längst ist es angezeigt, einen anderen Kosten/Nutzen-Vergleich anzustellen und die Gegenrechnung aufzumachen: Das Projekt der Freiheitssicherung auf eine Verfügungslogik zu gründen steht in der Gefahr, selbst zum Opfer eines expansiven Verfügbarkeitsstrebens zu werden.
Als Alternative bietet sich an, die Grundbestimmung von Identität und Freiheit anhand der Kategorie „Unverfügbarkeit“ vorzunehmen. Dies entspricht einem genuin christlichen Freiheitsethos, das mit der Tatsache konfrontiert ist, in einer Multioptionsgesellschaft (P. Gross) eine noch immer angefragte, aber zunehmend fragliche und abwählbare Option zu sein. Zu den Versprechen der Moderne gehört eben auch, möglichst jede Option zur Disposition zu stellen.13
1. Das Versprechen der Moderne: Identität – Autonomie – Individualität
„Damit kann ich mich nicht identifizieren!“ – Dieser Satz formuliert ein Dementi, indem er das Setzen eines Gleichheitszeichens bestreitet: „Wenn ich das gesagt haben sollte, so habe ich es nicht so gemeint!“ – „Ich denke nicht, dass ich das so gemeint haben könnte!“ – „So denke ich nicht – so bin ich nicht!“ Wo es ums Identifizieren geht, sind Übereinstimmungen gefragt. Bei einer Personenkontrolle an einer Grenze ist mit Problemen zu rechnen, wenn das aktuelle Aussehen mit dem Passbild nicht übereinstimmt. Die Feststellung von Identitäten geht jedoch über die Ermittlung von Personalien hinaus. Personale Identität liegt erst dort vor, wo Übereinstimmung und Zustimmung gegeben sind. Es geht um die Übereinstimmung mit mir selbst und um meine Zustimmung zu mir selbst: „Das bin ich, so bin ich – und das ist auch gut so!“
Identität hat mit Zustimmung und Akzeptanz zu tun. Aber bei Identitätsvergewisserungen geht es nicht nur um die Bestätigung von Selbstübereinstimmung und Selbstakzeptanz. Die Selbstakzeptanz eines Menschen wird fraglich, wenn er in seinem Leben zu viel von dem entdeckt, das völlig inakzeptabel ist und zu dem er ohne Wenn und Aber „nein“ sagen muss. Wie kann man sich selbst noch annehmen, wenn man in einer unannehmbaren Welt existieren muss?
Diese Möglichkeit scheint am ehesten dann zu bestehen, wenn die Welt Optimierungschancen aufweist, d.h., wenn sich aus ihr noch etwas Besseres machen lässt, als sie es von sich aus ist. Hier setzt der Fortschrittsmythos der Moderne ein. Der Mensch kann aus dem, was die Natur oder die Evolution aus ihm und seiner Welt gemacht hat, noch etwas Besseres und Eigenes machen. Mittels Wissenschaft und Technik sind Weltverbesserungen möglich und mit ihnen lassen sich auch die Aussichten auf eine Akzeptanz des Daseins in dieser Welt verbessern.14 Man kann es auch in einem endlichen Leben zu etwas bringen und etwas vom Leben haben. Man kann durchaus ein eigenes und zudem akzeptables Leben führen. Selbstakzeptanz ist möglich, wenn man sich zu eigen sein kann und wenn man über genügend Akzeptables verfügt, das man sein Eigen nennt.
Dafür – so steht es im Prospekt der Moderne – ist genau jetzt die richtige Zeit. Das Zeitalter der Aufklärung, der wissenschaftlich-technischen Weltgestaltung, Daseinssicherung und Wohlstandsmehrung, der politischen Emanzipation, der Durchsetzung von Menschenrecht und Menschenwürde, der Verpflichtung zu Toleranz und Autonomie, ist auf dem besten Wege, dem Menschen ein besseres Leben zu ermöglichen. Ein besseres Leben muss auf jeden Fall ein freies Leben und ein eigenes Leben sein. Dabei sollte es jedem Menschen freigestellt bleiben, welche Eigenheiten er ausbilden möchte und woran er Eigentum erwerben will.
Allerdings sind viele Vorschläge, wozu man es im Leben bringen könnte, noch nicht zureichend für die Bestimmung des eigenen Lebens. Über Auto, Geld und Wohnung wollen alle anderen ja auch verfügen. Daher erweitert die Moderne die Perspektive des eigenen Lebens. Der moderne Mensch darf sich verstehen als Eigentümer eines Architekturbüros, dem er den Großauftrag seiner Biographieplanung erteilt und bei dessen Ausführung er zugleich als Generalunternehmer auftritt.15 Ein eigenes Leben führt man erst dann, wenn man in Personalunion als Bauherr, Architekt und Eigentümer eines „behausten“ Daseins auftreten kann.
Das Versprechen eines eigenen Lebens hat in den letzten 50 Jahren eine enorme Dynamik entwickelt. Wo es ernst genommen wurde, hat es Gesellschaft und Kultur, aber auch das Leben des Einzelnen radikal verändert. In der zeitgenössischen Soziologie und Sozialpsychologie sind diese Veränderungen mit dem Containerbegriff „Individualisierung“ erfasst worden.16 Er steht für Umbrüche, die Zerfall und Neubeginn markieren und das Leben erst zum Gegenstand persönlicher Planungen machen.
• Eigenes Leben füllt die Leerstellen, die durch die Erosion und abnehmende Bindungswirkung traditioneller Sozialzusammenhänge entstehen. Wenn lebensweltliche Prägungen (z.B. Milieu, Konfession) verblassen und sich industriegesellschaftliche Muster sozialer Zugehörigkeit (Klasse, Schicht) abschwächen, wächst der Anteil individueller Selbstbestimmung. Eigenes Leben setzt voraus, dass man aus jeder Gemeinschaft, der man angehört, wieder austreten kann.
• Eigenes Leben wird möglich, wenn Biographien nicht mehr an Idealverläufen gemessen und von überkommenen Rollenzuschreibungen normiert werden. Wenn Abweichungen von solchen Vorgaben üblich werden, ist ein selbstbestimmtes Leben nicht mehr Ausnahme, sondern Normalfall.
• Eigenes Leben wird möglich, wenn Lebensform, Wertpräferenzen und Weltanschauung zu einer Angelegenheit der individuellen Wahl und Entscheidung werden. Kann ein gutes Leben im Plural entworfen werden, ist das Insistieren auf Individualität nicht Ausdruck eines moralischen Relativismus, sondern manifestiert den Spielraum, den die Moral des eigenen Lebens eröffnet.
Diese Tendenzen und Umstände begleiten einen Zuwachs an Entscheidungsmöglichkeiten und subjektiv wählbaren Optionen. Allerdings gehen von diesen Zuwächsen auch neue Zumutungen und Zwänge aus. Das Individuum wird nun zum Entwurf und zur Inszenierung der eigenen Biographie genötigt. Die Aufgabe, dem Leben eine Form zu geben und diese Form mit Sinn zu füllen, ist eine „do it yourself“-Angelegenheit geworden.17
Daraus ergeben sich wiederum weitreichende Folgen für das Projekt der Identitätsfindung. „Sie geschah noch vor wenigen Generationen weitgehend durch An- und Einpassung an und in soziale, moralische und kulturelle Vorgaben. Identität ergab sich aus der Übereinstimmung mit einem fraglos vorgegebenen, relativ klar erkenn- und definierbaren äußeren Horizont. Identität bedeutete: sich von etwas her verstehen, jemand sein in einem bekannten und von allen geteilten soziokulturellen Kontext, zu dem unter anderem an prominenter Stelle die Religion gehörte. Die Identität der Großgruppe, der man angehörte, war eine Herkunftsidentität, die sich durch Tradition bestimmte. Diese Tradition stellte das Individuum religiös in einen Zusammenhang, der vom Schöpfungsmythos bis zur Zukunftsidentität durch Jenseitshoffnung reichte. Die religiöse Sozialisation war entsprechend ein Sich-Angleichen an traditionsverbürgte Wahrheit.“18
Die Emanzipations- und Individualisierungsschübe des 20. Jahrhunderts haben dazu geführt, dass Identität nicht mehr als eine sozio-kulturelle Vorgabe erscheint, sondern das Ergebnis eines vom Subjekt zu leistenden Neuarrangements von Identifizierungsangeboten darstellt. Auf den ersten Blick erscheint diese Umstellung als späte Einlösung eines Versprechens, das zu Beginn der Moderne gegeben wurde: Verwandlung sämtlicher Voraussetzungen menschlichen Daseins in Resultate bewussten Wollens und Tuns. Versprochen wurde die Emanzipation von allen Autoritäten, Traditionen und Institutionen, von obrigkeitlich verordneten Formen der Existenz, die der kritischen Prüfung durch die autonome Vernunft nicht standhalten können. Fremdbestimmung wird ersetzt durch Selbstbestimmung. Der moderne Mensch will die Wahl haben – nicht nur in politischen Angelegenheiten. Er soll frei wählen können und aus sich machen dürfen, was er für sich als zu ihm passend ausgesucht hat.
Der tatsächliche Lauf der Welt hat jedoch nicht zur umfassenden Selbstermächtigung des Subjekts geführt. Die größer gewordenen individuellen Freiheiten sind keineswegs entkoppelt von gesellschaftlich bedingten Realisierungschancen. Ohne ein gesichertes Einkommen sind die neuen (Wahl-)Freiheiten nicht finanzierbar. Ohne den Erwerb qualifizierter Bildungsabschlüsse bleibt der Zugang zu gut bezahlten Jobs verschlossen. Und ohne eine frühzeitige Absicherung gegenüber dem Risiko der Berufsunfähigkeit wird das Fernziel der finanziellen Unabhängigkeit unerreichbar. Nur wenige Menschen geben dieses Ziel auf und folgen einem Lebensentwurf, der sie von den Ansprüchen und Leistungen sozialer Funktionssysteme abkoppelt. Wer sich nicht zu einem solchen Aussteigertum aufraffen kann, muss einsehen: Der in der Moderne errungenen individuellen Selbstverantwortlichkeit, Freiheit und Entscheidungskompetenz steht eine ebenso große Abhängigkeit von ökonomisch dominierten und politisch definierten Lebensbedingungen gegenüber. Das eigene Leben ist kein eigenes Leben im Sinne „eines freischwebenden, selbstbestimmten, allein dem Ich und seinen Vorlieben verpflichteten Lebens“19. Das eigene Leben hängt ab von einem gut dotierten Job und vom gesetzlichen