Der kleine Enno Kluge hat es viel schlechter getroffen als sein »Kumpel« Emil Barkhausen, den nach den Erlebnissen dieser Nacht eine Frau, sie mochte sein, wie sie wollte, doch immerhin in ein Bett gepackt hatte, wenn sie ihn auch sofort danach bestahl. Der schwächliche Rennwetter hat auch viel mehr Schläge bekommen als der lange, knochige Gelegenheitsspitzel. Nein, dem Enno ist besonders übel mitgespielt worden.
Und während er durch die Straßen läuft und angstvoll nach seiner Tutti sucht, ist der Barkhausen aus seinem Bett aufgestanden, hat sich in der Küche was zu essen gesucht und isst sich finster und nachdenklich satt. Dann findet Barkhausen im Kleiderspind eine Schachtel Zigaretten, er brennt sich eine an, steckt die Schachtel in seine Tasche und sitzt wieder finster grübelnd am Tisch, den Kopf in der Hand.
So findet ihn seine Otti, als sie von ihren Besorgungen wieder zurückkommt. Natürlich sieht sie gleich, dass er sich Essen genommen hat, sie weiß auch, er hat nichts zu rauchen in der Tasche gehabt, als sie ging, und sie entdeckt sofort den Diebstahl aus ihrem Kleiderspind. Sofort bricht sie einen Streit vom Zaun, so verängstigt sie auch ist. »Jawohl, so was liebe ich, einen Kerl, der mir mein Essen frisst und mir meine Zigaretten klaut! Gleich gibst du sie mir wieder, auf der Stelle gibst du sie mir wieder! Oder du bezahlst sie mir! Gib Geld her, Emil!«
Sie wartet gespannt, was er sagen wird, aber sie ist ihrer Sache ziemlich sicher. Die achtundvierzig Mark hat sie schon fast ganz ausgegeben, da kann er wirklich nicht mehr viel machen.
Und sie sieht aus seiner Antwort, so böse sie auch klingt, dass er von dem Gelde wirklich nichts weiß. Sie fühlt sich diesem doofen Kerl von einem Manne weit überlegen, sie hat ihn ausgenommen, und der Affe merkt es nicht mal!
»Halt die Schnauze!«, grunzt Barkhausen nur, ohne den Kopf zu erheben. »Und mach, dass du aus der Stube kommst, oder ich schlage dir alle Knochen im Leibe entzwei!«
Sie ruft von der Küchentür her, einfach, weil sie immer das letzte Wort haben muss und weil sie sich ihm so überlegen fühlt (obwohl sie jetzt Angst vor ihm hat): »Sieh du lieber selbst, dass dir die SS deine Knochen nicht ganz zerschlägt! Weit biste nicht mehr davon ab!«
Damit geht sie in die Küche und lässt ihren Ärger über diese Verbannung an den Gören aus.
Der Mann aber sitzt immer weiter in der Stube und grübelt. Er weiß nur wenig von dem, was in der Nacht geschah, aber das Wenige, das er weiß, das reicht ihm. Und er denkt daran, dass da oben die Wohnung der Rosenthal liegt, die jetzt wohl von den Persickes ausgeräumt ist, und er hätte sich nehmen können, noch und noch! Durch seine eigene Dussligkeit hat er das verbockt!
Nein, der Enno ist daran schuld gewesen, der Enno hat mit dem Schnaps angefangen, der Enno ist von allem Anfang an besoffen gewesen. Ohne den Enno hätte er jetzt einen Haufen Zeugs, Wäsche und Kleider; dunkel erinnert er sich auch an einen Radioapparat. Wenn er den Enno jetzt hier hätte, würde er ihm alle Knochen im Leibe zerschlagen, diesem feigen Schwächling, der ihm die ganze Sache vermasselt hat!
Aber einen Augenblick später zuckt Barkhausen schon wieder die Achseln. Wer ist denn schließlich dieser Enno? ’ne feige Wanze, die davon lebt, dass sie den Weibern Blut abzapft! Nein, wer richtig schuld ist, das ist dieser Baldur Persicke! Dieser Bengel, dieser Schuljunge von einem HJ-Führer hat von Anfang an vorgehabt, ihn reinzulegen! Das war alles vorbereitet, um einen Schuldigen zu haben und sich selbst die Beute ungestraft aneignen zu können! Das hat sich diese Giftschlange mit den funkelnden Brillengläsern fein ausgedacht! Ihn so reinzulegen, dieser verdammte Rotzjunge!
Barkhausen versteht es nicht so ganz, warum er nun eigentlich doch nicht in einer Zelle auf dem Alex, sondern in seiner Stube sitzt. Da muss denen was dazwischengekommen sein. Ganz dunkel erinnert er sich an zwei Gestalten, aber wer das war und wieso, das hat er damals schon in seiner halben Betäubung nicht erfasst, und jetzt weiß er es erst recht nicht.
Aber das eine weiß er: dies verzeiht er dem Baldur Persicke nie. Der mag noch so sehr hochkriechen auf der Leiter der Parteigunst, der Barkhausen passt auf. Der Barkhausen kann warten. Der Barkhausen vergisst nichts. So ’n Bengel – eines Tages wird er ihn doch rankriegen, und dann liegt der im Dreck! Aber er soll schlimmer drinliegen als der Barkhausen, und er soll nie wieder daraus aufstehen. Einen Kumpel verraten? Nein, das wird nie verziehen und vergessen! Die schönen Sachen in der Rosenthal’schen Wohnung, Koffer und Kisten und Radio, das hätte er alles haben können!
Und weiter grübelt Barkhausen, immer dasselbe, und dazwischen holt er sich heimlich den silbernen Handspiegel der Otti, letzte Erinnerung an einen großzügigen Freier aus ihrer Nuttenzeit, und betrachtet und befühlt sein Gesicht.
Auch der kleine Enno Kluge hat unterdes in dem Spiegel eines Modewarengeschäftes entdeckt, wie sein Gesicht aussieht. Das hat ihn nur noch mehr verängstigt und ganz kopflos gemacht. Er wagt keinen Menschen anzusehen, aber er hat das Gefühl, alle sehen ihn an. Er drückt sich in den Nebenstraßen herum, seine Suche nach Tutti wird immer hirnverbrannter, er weiß nicht mehr, wo sie etwa gewohnt hat, er weiß aber auch nicht mehr, wo er jetzt grade ist. Aber er geht in jeden dunklen Torgang und sieht in den Hinterhöfen an den Fenstern hoch. Tutti … Tutti …
Es wird jetzt rasch immer dunkler, vor der Nacht muss er noch rasch Quartier gefunden haben, sonst nimmt ihn die Polizei fest, und wenn die sehen, in welchem Zustand er ist, dann machen sie Hackfleisch aus ihm, bis er alles eingestanden hat. Und wenn er das von den Persickes gesteht, und er quatscht es ja doch aus in seiner Angst, dann schlagen ihn die Persickes tot.
Er läuft ziellos immer weiter, immer weiter …
Schließlich kann er nicht mehr. Er setzt sich auf eine Bank und hockt da nun, einfach nicht imstande, weiterzugehen und sich etwas auszudenken. Schließlich fängt er ganz mechanisch an, seine Taschen nach etwas Rauchbarem abzusuchen – eine Zigarette würde ihn wieder ein bisschen in Gang bringen.
Er findet in seinen Taschen keine Zigarette, aber er findet etwas, das er bestimmt nicht erwartet hat, nämlich Geld. Sechsundvierzig Mark findet er. Die Frau Gesch hätte es ihm schon vor Stunden sagen können, dass er Geld in der Tasche hat, sie hätte den kleinen, verängstigten Mann auf seiner Suche nach einer Bleibe ein wenig sicherer gemacht. Aber die Gesch hat natürlich nicht verraten wollen, dass sie seine Taschen, während er schlief, durchsucht hat. Die Gesch ist eine anständige Frau, sie hat das Geld – wenn auch erst nach kurzem Kampf – wieder zurückgesteckt. Hätte sie es bei ihrem Gustav gefunden – sie hätte es ohne Weiteres an sich genommen, aber bei einem fremden Mann, nein, so eine war sie nun doch nicht! Natürlich hat sich die Gesch von den neunundvierzig Mark, die sie gefunden hat, drei Mark abgenommen. Aber das war nicht geklaut, das war ihr gutes Recht, für das Essen, das sie dem Kluge gegeben hat. Sie hätte ihm das Essen auch ohne Geld gegeben, aber wie kommt sie dazu, einem fremden Mann, der Geld hat, umsonst Essen zu geben? So ist sie nun auch wieder nicht.
Jedenfalls stärken die sechsundvierzig Mark den verschüchterten Enno Kluge ungemein, er weiß doch nun, er kann sich immer ein Logis für die Nacht nehmen. Auch sein Gedächtnis fängt wieder an zu funktionieren. Zwar an die Wohnung der Tutti erinnert er sich noch immer nicht, aber ihm ist plötzlich eingefallen, dass er sie in einem kleinen Café kennengelernt hat, wo sie oft verkehrt. Vielleicht wissen die dort ihre Wohnung.
Er steht auf, er läuft wieder los. Er orientiert sich, wo er eigentlich ist, und als er eine Elektrische sieht, die ihn nahe an sein Ziel bringen kann, wagt er sich sogar auf die dunkle Vorderplattform des ersten Wagens. Dort ist es so dunkel und voll, dass keiner groß auf sein Gesicht achten wird. Dann geht er in das Café. Nein, er will nichts verzehren, er geht sofort an das Büfett und fragt das Fräulein dort, ob sie wohl weiß, wo die Tutti ist, ob die Tutti hier wohl noch verkehrt?
Das Fräulein fragt mit scharfer, schriller Stimme, die im ganzen Lokal zu hören ist, welche Tutti er wohl meint. Es gäb ’ne Menge Tuttis in Berlin!
Der schüchterne kleine Mann antwortet verlegen: »Ach, nur die Tutti, die hier immer verkehrt hat! So eine dunkelhaarige, ein bisschen dick …«
Ach, die Tutti meine er! Nee, von der Tutti wollten sie hier nichts mehr wissen! Die sollte nicht wagen und sich hier noch mal sehen lassen! Von der wollten sie kein Wort mehr hören!
Und damit wendet sich das Fräulein empört von Enno ab. Kluge murmelt ein paar Worte der Entschuldigung und macht, dass er wieder aus dem Café herauskommt. Er steht noch ratlos, was er nun tun soll, auf der nächtlichen Straße, als ein anderer Herr aus dem Café kommt, ein älterer Mann, ziemlich abgerissen, kommt es Enno vor. Dieser Mann geht zögernd auf Enno zu, dann gibt er sich einen Ruck, zieht den Hut und fragt, ob er nicht der Herr sei, der eben im Café nach einer gewissen Tutti gefragt hat.
»Vielleicht«, antwortet Enno Kluge vorsichtig. Warum er denn frage?
»Ach, nur so. Ich kann Ihnen eventuell sagen, wo sie wohnt. Ich kann Sie auch bis an ihre Wohnung bringen, nur müssten Sie mir auch einen kleinen Gefallen tun!«
»Was denn für einen Gefallen?«, fragt Enno noch vorsichtiger. »Ich weiß nicht, was für einen Gefallen ich Ihnen tun kann. Ich kenn Sie ja gar nicht.«
»Ach, gehen wir doch schon ein Ende!«, ruft der ältliche Herr. »Nein, es ist kein Umweg, wenn wir hier lang gehen. Die Sache ist nämlich die und der Umstand der, dass die Tutti noch einen Koffer mit Sachen von mir hat. Vielleicht können Sie mir den Koffer morgen früh schnell mal rausreichen, wenn die Tutti schläft oder auf Besorgungen aus ist?«
(Der ältliche Mann scheint für sicher anzunehmen, dass Enno bei der Tutti über Nacht bleiben wird.)
»Nein«, sagt Enno. »Das tu ich nicht. Auf solche Sachen lasse ich mich nicht ein. Tut mir leid.«
»Aber ich kann Ihnen genau sagen, was in dem Koffer ist. Es ist wirklich mein Koffer!«
»Warum fragen Sie dann die Tutti nicht selbst darum?«
»Na, wenn Sie so reden«, sagt der ältliche Herr gekränkt, »dann kennen Sie die Tutti nicht. Das ist doch ein Weib, das müssten Sie doch wissen! Die hat Haare auf den Zähnen, i wo, keine Haare, Igelborsten hat sie drauf! Die beißt und spuckt wie ein Pavian – und darum wird sie ja auch so genannt!«
Und während der ältliche Herr diese liebenswürdige Schilderung von Tutti entwirft, fällt dem Enno Kluge mit Schrecken ein, dass die Tutti wirklich so ist und dass er das letzte Mal mit ihrem Portemonnaie und mit ihren Lebensmittelkarten verschwunden ist. Die beißt und spuckt wirklich wie ein Pavian, wenn sie in Wut ist, und wahrscheinlich wird sie diese Wut sofort an Enno auslassen, wenn er jetzt ankommt. Alles, was er sich von einem Nachtquartier bei ihr eingebildet hat, ist eben nur Einbildung …
Und plötzlich beschließt Enno Kluge ganz aus dem Handgelenk heraus, von dieser Minute an anders zu leben, keine Weibergeschichten mehr, keine kleinen Stibitzereien mehr, auch keine Rennwetten mehr. Er hat sechsundvierzig Mark in der Tasche, davon kann er bis zum nächsten Lohntag leben. Morgen gönnt er sich noch einen Schontag, so zerschlagen wie er ist, und übermorgen fängt er richtig wieder mit der Arbeit an. Die werden schon merken, was sie an ihm haben, die werden ihn nicht wieder an die Front schicken. Er kann wirklich nicht nach alledem, was er in den letzten vierundzwanzig Stunden erlebt hat, solch einen Paviansempfang bei der Tutti riskieren.
»Ja«, sagt Enno Kluge nachdenklich zu dem ältlichen Herrn. »Das stimmt: so ist die Tutti. Und weil sie so ist, habe ich mich eben entschlossen, nicht zu der Tutti zu gehen. Ich werde drüben in dem kleinen Hotel da übernachten. Gute Nacht, Herr … Tut mir leid, aber …«
Und damit geht er vorsichtig mit seinen zerschundenen Knochen und erbettelt sich doch wirklich trotz seines zerschundenen Aussehens und seines völligen Mangels an Gepäck von dem abgerissenen Hausdiener ein Bett zu drei Mark. Er kriecht in dem engen, übelriechenden Loch in das Bett, dessen Wäsche schon vielen vor ihm gedient hat; er streckt sich aus, er sagt zu sich: Von jetzt an will ich ganz anders leben. Ich bin ein gemeines Aas gewesen, besonders zu Eva, aber von dieser Minute an werde ich anders. Ich habe die Dresche zu Recht bezogen, aber von nun an will ich auch anders sein …
Er liegt ganz still in dem schmalen Bett, die Hände gewissermaßen an der Hosennaht, und starrt gegen die Decke. Er zittert vor Kälte, vor Erschöpfung, vor Schmerzen. Aber er spürt das gar nicht. Er denkt daran, was für ein geachteter und beliebter Arbeiter er früher mal war, und jetzt ist er nur ein schäbiger kleiner Kerl, vor dem alle ausspucken. Nein, bei ihm haben die Schläge geholfen, nun wird alles anders. Und während er sich dieses Anderssein ausmalt, schläft er ein.
Um diese Zeit schlafen auch alle Persickes, es schlafen Frau Gesch und Frau Kluge, es schläft das Ehepaar Barkhausen – er hat der Otti wortlos erlaubt, zu ihm ins Bett zu kriechen.
Es schläft geängstigt, schwer atmend, Frau Rosenthal. Auch die kleine Trudel Baumann schläft. Sie hat am Nachmittag einem ihrer Verschworenen zuflüstern können, dass sie unbedingt etwas mitteilen müsse und dass sie sich alle am nächsten Abend im Elysium treffen müssen, möglichst unauffällig. Sie hat ein wenig Angst, weil sie nun ihre Schwatzhaftigkeit gestehen muss, aber jetzt ist sie doch eingeschlafen.
Frau Anna Quangel liegt im Dunkeln im Bett, während ihr Mann wie immer um diese Nachtzeit in seiner Werkstatt steht und aufmerksam jeden Arbeitsgang verfolgt. Sie haben ihn nicht zur technischen Leitung wegen Verbesserung der Fabrikation gerufen, auch dort halten sie ihn für einen vollendeten Trottel. Umso besser!
Anna Quangel, die im Bett liegt, aber noch nicht schlafen kann, hält noch immer ihren Mann für völlig kalt und herzlos. Wie er die Nachricht von Ottochens Tode aufnahm, wie er die arme Trudel und die Frau Rosenthal aus der Wohnung gesetzt hat: kalt, herzlos, immer nur an sich denkend. Sie wird ihm nie wieder so gut sein können wie früher, als sie dachte, er hätte wenigstens für sie was über. Das hat sie nun gesehen. Nur beleidigt über das vorschnell herausgefahrene Wort ›Du und dein Führer‹, nur gekränkt. Nun wird sie ihn nicht so leicht noch einmal so kränken, nicht so leicht wird sie wieder mit ihm zu reden anfangen. Heute haben sie nicht ein Wort miteinander gewechselt, nicht einmal guten Tag haben sie sich gesagt.
Der Kammergerichtsrat a.D. Fromm wacht noch, wie immer ist er in der Nacht wach. Er schreibt mit seiner kleinen gestochenen Schrift einen Brief, in dem die Anrede lautet: »Hochverehrter Herr Reichsanwalt …«
Unter der Leselampe erwartet ihn aufgeschlagen sein Plutarch.
Der Tanzsaal im Elysium, dem großen Tanzlokal im Norden Berlins, bot an diesem Freitagabend ein Bild, das die Augen jedes Normaldeutschen erfreuen musste: Uniformen über Uniformen. Es war nicht so sehr die Wehrmacht, deren Grau oder Grün den kräftigen Untergrund zu diesem farbenfrohen Bilde abgab, es waren in viel stärkerem Maße die Uniformen der Partei und ihrer Gliederungen, die mit Braun, Hellbraun, Goldbraun, Dunkelbraun und mit Schwarz das Bild so bunt machten. Da sah man neben den Braunhemden der SA1 die viel helleren Hemden der HJ, die Organisation Todt2 war ebenso vertreten wie der Reichsarbeitsdienst,3 man sah die mehr gelben Uniformen der Sonderführer, die Goldfasanen genannt wurden, man sah Politische Leiter neben Luftschutzwarten. Und nicht etwa nur die Männer waren so herzerfreuend kostümiert, auch viele junge Mädchen trugen Uniform; der BDM,4 der Arbeitsdienst, die Organisation Todt, sie alle schienen ihre Führerinnen, Unterführerinnen und Geführten hierhergesandt zu haben.
Die wenigen Zivilisten verloren sich vollständig in diesem Gewimmel, sie waren bedeutungslos, langweilig unter diesen Uniformen, wie ja auch das zivile Volk draußen auf den Straßen und in den Fabriken nie eine Bedeutung der Partei gegenüber erlangt hatte. Die Partei war alles und das Volk nichts.
So wurde auch ein Tisch am Rande des Saales fast gar nicht beachtet, an dem ein Mädchen und drei junge Männer saßen. Keine von den vier Personen trug eine Uniform, nicht einmal ein Parteiabzeichen war zu sehen.
Ein Paar, das junge Mädchen und ein junger Mann, war zuerst gekommen; später hatte ein anderer junger Mann um die Erlaubnis gebeten, sich heransetzen zu dürfen, und schließlich hatte noch ein vierter Zivilist um die gleiche Erlaubnis nachgesucht. Das junge Paar hatte auch einmal den Versuch gemacht, in dem Gewühl zu tanzen. In dieser Zeit waren die beiden anderen Männer in ein Gespräch miteinander gekommen, in ein Gespräch, an dem sich das zerdrückt und erhitzt zurückkommende Paar auch gelegentlich beteiligte.
Einer der Männer, anfangs der Dreißiger, mit hoher Stirn und schon zurückweichendem Haarwuchs, hatte sich weit mit seinem Stuhl zurückgelehnt und eine Weile schweigend das Gewühl auf der Tanzfläche und die Nebentische gemustert. Nun sagte er, wobei er die anderen kaum ansah: »Ein schlecht gewählter Versammlungsort. Wir sind fast der einzige nur mit Zivil besetzte Tisch hier im Saal. Wir fallen auf.«
Der Kavalier des jungen Mädchens sagte lächelnd zu diesem, seine Worte waren aber für den Mann mit der hohen Stirn bestimmt: »Im Gegenteil, Grigoleit, wir werden überhaupt nicht beachtet, höchstens verachtet. Die Herrschaften denken nur daran, dass ihnen dieser sogenannte Sieg über Frankreich für ein paar Wochen Tanzerlaubnis gebracht hat.«
»Keine Namen! Unter keinen Umständen!«, sagte der Mann mit der hohen Stirne scharf.
Einen Augenblick schwiegen alle. Das Mädchen malte mit dem Zeigefinger etwas auf den Tisch, es sah nicht auf, obwohl es fühlte, dass alle es ansahen.
»Jedenfalls, Trudel«, sagte der dritte Mann mit dem Unschuldsgesicht eines großgewordenen Säuglings, »ist jetzt der richtige Augenblick für deine Mitteilung. Was gibt’s? Die Nebentische sind fast unbesetzt, alles tanzt. Los!«
Das Schweigen der beiden anderen Männer konnte nur Zustimmung bedeuten. Trudel Baumann sagte stockend, ohne hochzusehen: »Ich habe, glaube ich, einen Fehler begangen. Jedenfalls habe ich mein Wort nicht gehalten. In meinen Augen ist es freilich kein Fehler …«
»Oh, höre auf!«, rief der Mann mit der hohen Stirne verächtlich. »Willst du jetzt auch in die Gewohnheiten der Gänse verfallen? Schnattere nicht, sage geradeheraus, was ist!«
Das Mädchen sah hoch. Es sah langsam einen nach dem anderen die drei Männer an, die sie, wie es ihr schien, mit grausamer Kälte anblickten. In ihren Augen standen zwei Tränen. Sie wollte sprechen, sie konnte es nicht. Sie suchte nach ihrem Taschentuch …
Der mit der hohen Stirn lehnte sich zurück. Er ließ einen leisen, gedehnten Pfiff ertönen. »Sie soll nicht schnattern? Sie hat ja schon geschnattert! Seht sie bloß an!«
Der Kavalier an Trudels Seite widersprach rasch: »Unmöglich! Die Trudel ist goldecht. Sage ihnen, dass du nicht geschwatzt hast, Trudel!« Und er drückte ihr aufmunternd die Hand.
Der Säugling richtete seine runden, sehr blauen Augen abwartend, fast ausdruckslos auf das Mädchen. Der Lange mit der hohen Stirn lächelte verächtlich. Er drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus und sagte höhnisch: »Nun, mein Fräulein?«
Trudel hatte sich gefasst, sie flüsterte mutig: »Doch, er hat recht. Ich habe geschwatzt. Mein Schwiegervater brachte mir die Nachricht vom Tode meines Otto. Das hat mich irgendwie umgeworfen. Ich habe ihm gesagt, dass ich in einer kommunistischen Zelle arbeite.«
»Namen genannt?« Niemand hätte geahnt, dass der harmlose Säugling so scharf fragen könnte.
»Natürlich nicht. Ich habe überhaupt nichts weiter gesagt. Und mein Schwiegervater ist ein alter Arbeiter, der wird nie ein Wort sagen.«
»Dein Schwiegervater ist ein anderes Kapitel, du bist das erste! Du sagst, du hast keine Namen genannt …«
»Und du wirst mir das glauben, Grigoleit! Ich lüge nicht. Ich habe freiwillig gestanden.«
»Sie haben eben schon wieder einen Namen genannt, Fräulein Baumann!«
Der Säugling sagte: »Aber seht ihr denn nicht ein, dass es ganz egal ist, ob sie jetzt Namen genannt hat oder nicht? Sie hat gesagt, dass sie in einer Zelle arbeitet, sie hat einmal geschnattert, sie wird wieder schnattern. Legen die bewussten Herren ihre Hand auf sie, quälen sie ein bisschen, so wird sie reden, gleichgültig, wie viel sie bisher verraten hat.«
»Ich werde nie zu denen reden, und wenn ich sterben müsste!«, rief Trudel mit flammenden Wangen.
»Oh!«, sagte der Hochstirnige, »Sterben ist sehr einfach, Fräulein Baumann, aber manchmal kommen vor dem Sterben noch recht unangenehme Dinge!«
»Ihr seid unbarmherzig«, sagte das junge Mädchen. »Ich habe einen Fehler begangen, aber …«
»Ich finde auch«, ließ sich der auf dem Sofa neben ihr vernehmen. »Wir werden uns Ihren Schwiegervater ansehen, und wenn er verlässlich ist …«
»Unter den Händen von denen gibt’s keine Verlässlichkeit«, sagte Grigoleit.
»Trudel«, sagte der Säugling sanft lächelnd, »Trudel, du sagtest eben, du hättest noch keine Namen genannt?«
»Ich habe es auch nicht getan!«
»Und du hast behauptet, du wärest zum Sterben bereit, ehe du so was tätest?«
»Ja! Ja! Ja!«, rief sie leidenschaftlich.
»Nun«, sagte der Säugling und lächelte gewinnend, »nun, Trudel, wie wäre es, wenn du heute Abend noch stürbest, ehe du weitergeplappert hast? Das würde uns eine gewisse Sicherheit geben und eine Masse Arbeit ersparen …«
Eine Totenstille entstand zwischen den vieren. Das Gesicht des Mädchens war kalkig weiß. Ihr Kavalier sagte einmal »Nein« und legte seine Hand leicht auf die ihre. Aber er nahm sie gleich wieder fort.
Dann kamen die Tanzenden zurück an ihre Tische und machten für den Augenblick eine Fortsetzung dieser Unterhaltung unmöglich.
Der mit der hohen Stirn brannte sich wieder eine Zigarette an, der Säugling lächelte unmerklich, als er sah, wie dem anderen die Hand zitterte. Dann sagte er zu dem Dunklen neben dem schweigenden, bleichen Mädchen: »Sie sagen nein. Aber warum eigentlich? Es ist eine fast befriedigende Lösung der Aufgabe und eine Lösung, die, soviel ich verstanden habe, von Ihrer Nachbarin selbst vorgeschlagen wurde.«
»Die Lösung ist unbefriedigend«, sagte der Dunkle langsam. »Es wird schon zu viel gestorben. Wir sind nicht dafür da, dass die Zahl der Toten sich erhöht.«
»Ich hoffe«, sagte der Hochstirnige, »Sie denken an diesen Satz, wenn der Volksgerichtshof Sie und mich und diese da …«
»Still!«, sagte der Säugling. »Gehen Sie doch einen Augenblick tanzen. Das scheint ein sehr netter Tanz. Sie können sich unterdes besprechen, und wir beide besprechen uns hier …«
Widerstrebend war der junge Dunkle aufgestanden und hatte seiner Dame eine leichte Verbeugung gemacht. Widerstrebend hatte sie die Hand auf seinen Arm gelegt, bleich gingen sie beide im Strom der anderen zur Tanzfläche. Sie tanzten ernst, schweigend, ihm war es, als tanze er mit einer Toten. Ihn schauderte es. Die Uniformen um ihn, die Hakenkreuzbinden, die blutroten Fahnen an den Wänden mit dem verhassten Zeichen, das mit Grün geschmückte Führerbild, die rhythmischen Geräusche des Swings: »Du wirst es nicht tun, Trudel«, sagte er. »Er ist wahnsinnig, so etwas zu verlangen. Versprich mir …«
Sie bewegten sich fast auf der Stelle in dem immer dichter werdenden Gewühl. Vielleicht, weil sie in ständiger Berührung mit anderen Paaren waren, vielleicht sprach sie darum nicht.
»Trudel!«, bat er noch einmal. »Versprich es mir! Du kannst ja in einen anderen Betrieb gehen, dort arbeiten, damit du denen aus den Augen bist. Versprich mir …«
Er versuchte sie dazu zu bringen, dass sie ihn ansah, aber ihre Augen sahen hartnäckig über seine Schulter fort.
»Du bist die Beste von uns«, sagte er plötzlich. »Du bist die Menschlichkeit, er ist bloß das Dogma. Du musst weiterleben, gib ihm nicht nach!«
Sie schüttelte den Kopf, mochte es nun ein Ja oder ein Nein bedeuten. »Ich möchte zurück«, sagte sie. »Ich mag nicht mehr tanzen.«
»Trudel«, sagte Karl Hergesell hastig, als sie sich aus den Tanzenden gelöst hatten, »dein Otto ist erst gestern gestorben, erst gestern hast du die Nachricht bekommen. Es ist zu früh. Aber du weißt es ja auch so, ich habe dich immer geliebt. Ich habe nie etwas von dir erwartet, aber nun erwarte ich, dass du wenigstens lebst. Nicht für mich, nein, dass du lebst!«
Aber wieder bewegte sie nur den Kopf, wieder blieb es ungewiss, was sie zu seiner Liebe, was sie zu seinem Wunsche, sie am Leben zu sehen, meinte. Sie waren am Tisch der anderen angelangt. »Nun?«, fragte Grigoleit mit der hohen Stirne. »Wie tanzt es sich? Ein bisschen voll, wie?«
Das Mädchen hatte sich nicht wieder gesetzt. Es sagte: »Ich gehe dann jetzt. Macht’s gut. Ich hätte gerne mit euch gearbeitet …«
Sie wandte sich zum Gehen.
Jetzt aber war dieser dicke, harmlose Säugling der Erste hinter ihr, er fasste sie am Handgelenk, er sagte: »Einen Augenblick noch, bitte!« Er sagte es vollkommen höflich, aber sein Blick drohte.
Sie kehrten an den Tisch zurück. Sie setzten sich wieder. Der Säugling fragte: »Ich verstehe doch recht, Trudel, was dein Abschied eben bedeutete?«
»Du hast vollkommen recht verstanden«, sagte das Mädchen und sah ihn mit harten Augen an.
»So bitte ich dich, dass du mir erlaubst, dich für den Rest des Abends zu begleiten.«
Sie machte eine Bewegung entsetzter Abwehr.
Er sagte sehr höflich: »Ich will mich nicht aufdrängen, aber ich gebe zu bedenken, dass bei der Ausführung eines solchen Vorhabens wiederum Fehler begangen werden können.« Er flüsterte drohend: »Es liegt mir nichts daran, dass irgendein Idiot dich wieder aus dem Wasser fischt oder dass du morgen als gerettete Giftselbstmörderin in einem Krankenhaus liegst. Ich will dabei sein!«
»Richtig!«, sagte der Hochstirnige. »Ich stimme zu. Das gibt die einzige Gewähr …«
»Ich werde«, sagte nachdrücklich der Dunkle, »heute und morgen und jeden folgenden Tag an ihrer Seite sein. Ich werde alles tun, um die Ausführung dieses Vorhabens zu vereiteln. Ich werde Hilfe herbeiholen, wenn ihr mich zwingt, selbst von der Polizei!«
Der Hochstirnige pfiff wieder, lang, gedehnt, leise und böse.
Der Säugling sagte: »Aha, jetzt haben wir schon den zweiten Plapperer am Tisch. Verliebt, was? Ich dachte mir so was schon immer. Kommen Sie, Grigoleit, die Zelle ist aufgelöst. Es gibt keine Zelle mehr. Und das nennt ihr Disziplin, ihr Weiberherzen!«
»Nein, nein!«, rief das Mädchen. »Hören Sie nicht auf ihn! Es ist wahr, er liebt mich. Aber ich liebe ihn nicht. Ich will heute Abend mit euch gehen …«
»Nichts!«, sagte der Säugling jetzt wirklich zornig. »Seht ihr denn nicht, dass ihr gar nichts mehr tun könnt, da er …« Er machte eine Kopfbewegung zu dem Dunklen hin. »Ach was!«, sagte er dann kurz. »Es ist ausgespielt! Komm, Grigoleit!«
Der Hochstirnige stand schon. Gemeinsam wandten sie sich dem Ausgang zu. Plötzlich aber lag eine Hand auf dem Arm des Säuglings. Er sah in das glatte, ein wenig gedunsene Gesicht eines braun Uniformierten.
»Einen Augenblick, bitte! Was haben Sie da eben gesagt von der Auflösung der Zelle? Es würde mich doch sehr interessieren …«