Das waren die drei Schlafkameraden, mit denen ich in jener ersten Nacht die Zelle teilte, auf deren Schlafatem ich lauschte, während Scham, Reue und Zorn mein Herz zerrissen. Vor den Fenstern stand die Nacht, manchmal hob ich den Kopf und sah ein paar Sterne blinken; ich hatte mal ein Gedicht von ihnen gelesen, dass sie seit Jahrtausenden mit dem gleichen kühlen Glitzern auf menschliches Leid und menschliche Freude herabblicken. Damals hatte mich das nicht berührt, jetzt rührte es mich an, und ich fragte mich, ob diese Sterne wohl wirklich je ein so verzweifeltes, ein so unsinnig eingetretenes Leid gesehen hatten wie das über mich gekommene. Beinahe schien es mir unmöglich.
Und wie die nächtlichen Stunden langsam mit Glockenschlag um Glockenschlag vorrückten, eine nach der anderen dem neuen Morgen zu, dachte ich milder an Magda und den listigen Medizinalrat und schwor es mir wieder einmal zu, das nächste Mal klüger zu sein und wahrhaftiger. Ich überzeugte mich, dass noch nichts verloren war, und ich erdichtete lange Gespräche mit dem Arzt, in denen ich eine seltene Schlagfertigkeit und einen bezaubernden Freimut bewies. Schließlich – anderthalb Stunden vor Aufschluss – schlief ich wirklich noch ein.
Ich war im Traum in meiner Vaterstadt, ich ging durch ihre Straßen und Gassen, ich sah viele Freunde und Bekannte, aber sie sahen mich nicht und gingen ohne Gruß an mir vorbei. Schließlich sah ich Magda auf jener Bank unserer ersten Schülerbekanntschaft sitzen, ich ging auf sie zu und setzte mich sachte neben sie. Aber sie bemerkte mich nicht. Ich wollte ihr Kleid berühren, ich erhob die Hand, aber ich konnte das Kleid nicht fassen. Ich wollte zu Magda sprechen, und ich sprach auch, aber meine Stimme hatte keinen Klang, ich hörte sie nicht, und Magda hörte sie auch nicht. Da begriff ich mit heißem Erschrecken, dass ich nur als ein Schatten zwischen den Lebenden wandelte, dass ich gestorben und tot war. Ich erschrak aber so, dass ich erwachte – da klirrte der Schlüssel des Oberpflegers im Schloss, und seine Stimme rief: »Aufstehen!«
Ja, ein neuer Morgen war da, und nun war ich nicht mehr Gast im Totenhaus, sondern ich war eingereiht in die Schar der anderen, wie alle schleppte ich meine dürren Stunden dahin. Sie machten kein Aufhebens mehr von mir, sie sprachen mit mir, und dann fingen sie Streit mit mir an, sie schubsten mich im Waschraum von den Becken weg und verhöhnten mich, wenn ich versuchte, mit einem zugeschnittenen Hölzchen meine Fingernägel sauber zu halten. »Seht den! Wozu er das wohl macht? Er steckt doch genau so tief wie wir in der Scheiße!«
Und ich machte meine kleinen Geschäfte wie sie, ich sparte meinem brüllenden Hunger eine Scheibe Brot ab und verhandelte sie gegen ein paar Krumen Tabak, und das erste Mal wurde ich dabei betrogen: Der Tabak war wenig, aber trockene Rosenblätter waren viel in ihn gemischt.
Ich habe auch – ich will auch das gestehen – unserem Kalfaktor Herbst einmal zwei dick mit Margarine bestrichene Scheiben Brot gestohlen, die der unter seinem Kopfkeil versteckt hatte. Ich war aber so aufgeregt, dass sie mir weder geschmeckt haben noch bekommen sind. Das war aber auch das einzige Mal, dass ich etwas direkt gestohlen habe. Ich bin ein schwacher Mensch, das weiß ich nun, aber ich bin kein Dieb. Meine Angst ist immer größer als meine Gier, also auch darin schwach.
Und an diesem ersten Tage, als der Ruf zum »Antreten« erscholl, trat auch ich mit an, wie gesagt, auch ich war eingereiht, ich hatte vor niemandem etwas voraus. Ein Wachtmeister kam und führte mich in eine Einzelzelle, in der kein Bett war, sondern ein Tisch und ein Schemel und vielerlei Arbeitsmaterial, das ich mit ängstlich staunenden Augen ansah, gewiss, dass ich ungeschickter Mensch solch nie getane Arbeit im Leben nicht lernen würde. Da sah ich die fertig zugeschnittenen Bürsten- und Besenhölzer und Haarborsten und solche aus Reisstroh und solche aus Piassava1 und sogar solche aus Strandhafer für die verschiedenen Arten von Bürsten und Besen, wie ich alles noch lernen sollte. Ich sah Rollen mit dickerem und dünnerem Draht und ein Schneidemesser, nein, das würde ich nie lernen!
Es kam keiner, ich war eingeschlossen in meiner Zelle – sollte ich, da ich den Arzt so dringend um die Befreiung von Lexer gebeten hatte, jetzt die Bürsten ganz ohne Lehrmeister machen? Ich versuchte es, ich fasste ein paar Borsten und versuchte, sie in eins der vorgebohrten Löcher zu stecken. Es waren aber zu wenig gewesen, und sie fielen gleich wieder durch. Das andere Mal nahm ich mehr, aber nun waren es zu viel, und als ich sie in das Loch zwingen wollte, brachen die einen, und die anderen fielen zur Erde.
Ich bückte mich, um rasch die Unordnung zu beseitigen, da klirrte wieder das Schloss, der kleine Lexer mit den schwärzlich-bräunlichen Hauerzähnen sprang herein, fasste mich vor der Brust und schrie gellend: »Wo hast du die Rasierklinge gelassen? Mich scheißt du nicht an, Sommer!«
Ich riss mich zornig von ihm los und rief: »Fass mich nicht noch einmal an, du, das rate ich dir! Was gehen mich deine Lügengeschichten an!«
Der kleine Kerl sah mich einen Augenblick verblüfft und stumm an, dann lachte er wieder hässlich und sagte: »Na schön, wie du willst! Aber eines Tages scheiße ich dich doch wieder an!« (Er hat mich aber von nun an ziemlich in Ruhe gelassen, wie ich schon berichtet habe.) Und in ganz plötzlichem Übergang: »Hast du nicht ’nen Priem für mich, ’nen ganz kleinen, Sommer?«
Ich hatte keinen und sagte es ihm, und er meinte ärgerlich: »Mit dir ist auch gar nichts anzufangen! Wozu sie so einen wie dich überhaupt in den Bau geschickt haben? Häng da mal den Draht auf den Ständer. Nein, nicht den dicken, du Ochse, du sollst zuerst Handbürsten machen mit guten Borsten, das ist das leichteste, nimm also den feinen. Zweihundert Löcher am Tage ist in der ersten Woche dein Pensum, lässt dir der Arbeitsinspektor sagen, und wenn du die nicht schaffst, fliegst du ins Loch bei hartem Lager und noch mehr Kohldampf! Ich mache tausend Löcher am Tage, und wenn ich will, kann ich auch zweitausend machen, aber ich will nicht. Wozu auch? Damit die Speckjäger noch mehr an uns verdienen? Hungern müssen wir darum doch!
Sieh, so ziehst du zuerst den Draht durchs Loch, dass er eine Schlinge bildet, und nun steckst du die Borsten hinein, gerade so viel, wie du mit zwei Fingern fassen kannst, dann stimmt’s gerade. Und nun ziehst du die Schlinge fest, und da sitzen die Borsten schon! Das ist der ganze Zauber, ein Kind lernt’s in fünf Minuten, und nun mach du’s und zeig’, ob du so viel kannst wie ein Kind!«
Und während Lexer dies alles atemlos mit seiner gellen Stimme hervorstieß, dass ihm die Spucke auf den Lippen stand, hatte ich mit Staunen auf diese schmutzigen Finger mit den abgebissenen Nägeln gesehen, die unglaubhaft geschickt die feine Drahtschlinge durch das Loch gezogen, die auf eine Borste genau so viele gegriffen hatten, dass sie gerade durch das Loch gingen und es ausfüllten, ohne Luft dazwischen, nicht zu viele und nicht zu wenige, und die schließlich sachte und schnell die Schlinge festgezogen hatten.
Wie’s mir so vorgemacht wurde, erschien es auch mir kindlich einfach. Aber wie wurde mir, als ich das Leichte nun selbst versuchte?! Mein Draht wollte nicht ins Loch, und dann knickte er ein, statt eine Schlinge zu bilden, und ich fasste zu wenig oder zu viel Borsten und warf sie auf die Erde. Dabei aber beschimpfte mich der Lexer ununterbrochen und höhnte mich und stieß auch und knuffte mich und machte mich mit seinem Speichel nass, bis ich die Bürste hinwarf und wieder wütend rief: »Lass mich in Frieden, sage ich dir noch einmal!«
So arbeiteten wir den ganzen Vormittag, ich völlig verzweifelt über mein Ungeschick und überzeugt, ich würde es nie lernen, und er immer gellender, triumphierender, überlegener, sein ganzes erbärmliches, stinkendes Menschentum über mich setzend. Am Schluss dieses Vormittags hatten wir eine einzige Handbürste fertig, die achtzig Löcher hatte, und dass die nicht gut und richtig aussah, das merkte ich selbst.
»Steck die nur selbst in den Ausschuss, Sommer!«, gellte Lexer. »Spül sie im Kübelbecken weg, dass der Arbeitsinspektor sie gar nicht erst zu Gesicht bekommt, sonst fliegst du in Arrest wegen Materialverschwendung! Heute Nachmittag aber komme ich nicht wieder in dein stinkendes Loch. Du weißt Bescheid, wie es gemacht werden soll, und wenn du es doch nicht machst, so ist es deine Sache, die du zu verantworten hast. Ich will damit nichts zu tun haben!«
So wurde ich den ekelhaften Lehrmeister Lexer schon nach fünf Stunden los und hätte mir meinen so schlimm aufgenommenen Antipathieausbruch vor dem Arzt gut ersparen können. Aber über meinen Bürstenlöchern verzweifelte ich völlig an diesem Nachmittag, und am Abend hatte ich nicht mehr als siebenunddreißig Löcher geschafft, und die auch noch schlecht. In dieser Nacht grübelte ich einmal nicht über mich und mein widriges Geschick und Magda und den Medizinalrat nach, sondern allein über Bürstenmachen. Aber dieses Grübeln muss meinem Kopf viel bekömmlicher gewesen sein, denn ich schlief darüber ein und hatte zum ersten Mal wieder eine einigermaßen gute Nacht.
1 Blattfaser verschiedener Palmenarten <<<
Die Tage gingen, einer nach dem anderen, und an einem von ihnen, eher, als ich es gedacht, war ich ein ganz leidlicher Bürstenmacher. Ich hatte es gelernt, ich machte Nagelbürsten und Handbürsten und Haarbürsten und Molkereibürsten und Brauereibürsten und Fensterbrettbürsten. Ich konnte auch Besen machen, Piassavabesen und feine Haarbesen. Schließlich lernte ich es auch, Pinsel herzustellen, Rasierpinsel und Staubpinsel und alle Arten von Malerpinseln. Meine Finger waren nun genauso geschickt wie die Lexers, sie griffen genau so viele Borsten, wie nötig waren, keine mehr, keine weniger, und der Draht machte mir keine Beschwerden mehr.
Wenn ich mich jetzt mit Lexer in der Freistunde traf, und er schrie mich mit seiner gellen Stimme an: »Na, Sommer, wie viel hast du geschafft?«, so antwortete ich: »Achthundert Löcher«, oder auch: »Tausend«, oder gar: »Elfhundert«. Dann feixte Lexer wütend und gellte: »Willst dich wohl beliebt machen oben? Deswegen kriegst du auch keinen anderen Fraß als wir, du Arschkriecher!«
Ich arbeitete aber nicht so viel, um mich oben beliebt zu machen, ich arbeitete so um meinetwillen. Die Arbeit vertrieb mir die Zeit. Ehe ich es dachte, klirrte der Schlüssel, und die Stimme des Wachtmeisters rief: »Mittag!« Die Tage, so lang ein jeder einzelner manchmal auch sein mochte, vergingen schnell genug; eine Woche, ein Monat war vorübergegangen, ich sagte zu mir: ›Nun bin ich schon einen Monat hier, nun zwei, nun bald drei …‹
Jetzt, da meine Hände die Arbeit von selbst taten, da ich nicht ununterbrochen über sie nachdenken und mich hetzen musste, war der Kopf wieder frei für Nachdenken und Grübeln über das eigene Schicksal. Aber die Arbeit gab selbst diesem Grübeln eine andere Note. Manchmal stellte ich mich eine Weile ans Fenster und sah hinaus in das Land, in dem sie nun schon das Korn mähten, dann einfuhren, dann die Stoppeln pflügten, dann zur Grummetmahd1 übergingen. Ich hatte eine gute, helle Arbeitszelle, die auch im Winter gut warm sein sollte, wie man mir gesagt hatte. Ich sah hinaus, und wenn mein Herz mich wieder mit zorniger Ungeduld plagte und drängte, endlich wieder in der Freiheit schlagen zu dürfen, so machte es wohl die Arbeit, dass ich mir sagte: ›Nur Geduld, es wird alles schon kommen. Erst einmal wäre es wohl wirklich gut, wenn ich noch diesen Satz Abwaschbürsten fertigbekäme!‹
Ja, meine Arbeit machte mir Freude, es war eine niedrige Arbeit, die wirklich jedes Kind und fast jeder meiner schwachsinnigen Kameraden verrichten konnte, aber in einer gut ausgeführten Arbeit liegt immer ein Trost, sie mag so gering sein, wie sie will.
Ich hatte jetzt auch keine Angst vor dem Arrest und dem Arbeitsinspektor; er kam manchmal in meine Zelle und nahm die fertige Arbeit ab, und er sagte mir nie ein böses Wort, sondern oft: »Gut, gut, Sommer.« Oder auch: »Sie müssen nicht über das Pensum arbeiten, Sommer, das ist nicht nötig.« Und einmal schenkte er mir auch einen mit Marmelade bestrichenen Kanten.
Als aber der erste Monat meines Arbeitens vorüber war, trat ich mit den anderen Arbeitern am Glaskasten an und empfing das an Rauchwaren, was man für meine »Arbeitsbelohnung« gekauft hatte (vier Pfennig am Tag, eine Mark im Monat), nämlich ein Paket Feinschnitt und ein Paket Krüllschnitt. Für die Hälfte des Krüllschnittes handelte ich mir eine kleine Tabakspfeife ein, denn ich mochte nicht wie manche anderen Zigaretten mit Zeitungspapier drehen, das immer entweder lichterloh brannte oder kohlte und abscheulich schmeckte. Der Kopf meiner Pfeife war ganz klein, er fasste nicht mehr Tabak als für zehn oder zwölf Züge; das war gut, so konnte ich am Tage fünfmal rauchen und reichte doch den ganzen Monat. Freilich im ersten Monat nicht, weil ich noch dumm war und mir allerlei abschwatzen und abborgen ließ, was ich nie wieder zu sehen bekam.
Auch lernte ich die Furcht aller Besitzenden vor Dieben kennen; nichts, was in den Zellen war, blieb vor ihnen sicher, man mochte es noch so geschickt verstecken. Immerfort wurde wieder im Bau die wütende Klage laut: »Mir haben sie Tabak geklaut!«
So war man denn gezwungen, all seinen Besitz vom Löffel an, der unser einziges Essgerät war, in den Taschen herumzutragen, was wieder dem Oberpfleger missfiel, der die Ausbeulungen in unseren Kleidern tadelte. Ich beschaffte mir also einen kleinen Karton, in den ich all meine Habseligkeiten tat, ein bisschen Salz, ein etwa gespartes Stück Brot, die Pfeife und den Tabak. Diesen Karton hatte ich immer bei mir, beim Essen und auf dem Klo, im Bett und sogar bei meinen Arztbesuchen. Später machte mir der wohlgesinnte Qual, der ja in der Tischlerei arbeitete, ein kleines Holzkästchen mit Schiebedeckel und einen Bindfadengriff und nahm nicht einmal was dafür.
Ja, ich war nun wirklich eingereiht und gehörte dazu, und wenn ich die Wahrheit gestehen soll, fühlte ich mich nach den ersten Wochen der Eingewöhnung nicht einmal so schlecht. Ich hatte mich an Hungern und ständigen Streit, an schlechte Luft und Schweinsbeulen gewöhnt, viele meiner Kameraden, die ganz unausgiebig und stumpf waren, sah ich gar nicht mehr. Ich gehörte dazu, und doch gehörte ich nicht ganz dazu, ich war nur »vorläufig untergebracht«, und später war ich sogar nur »zur Begutachtung« untergebracht. Eines Tages würde es Termin für mich geben, ich würde meine Strafe für die Bedrohung erhalten, und dann würde ich – hoffentlich, hoffentlich! – wieder in die Freiheit zurückkehren können. Was ich dort anfangen würde, das wusste ich noch nicht. Ziemlich sicher aber schien mir, dass ich nicht wieder in mein Haus und zu Magda zurückkehren würde, auch in meinem alten Geschäft wollte ich nicht wieder arbeiten.
Der Aufenthalt in der Zelle hatte mich ein wenig menschenscheu gemacht, dieses ständige Isoliertsein, ich war gerne im engen Raum bei meinen Bürsten und dachte mit Abneigung an die lärm- und menschenerfüllten Straßen meiner Vaterstadt. Mir schwebte so etwas vor, auf ein stilles Dorf zu ziehen und dort als ein unbekannter, rasch alternder Mann meinen Lebensabend zu verbringen, in einer stillen Stube, in der ich immer weiter Bürsten machen würde …
So etwas schwebte mir vor. Ja, es war ein wenig Freude in mich eingekehrt, eine fast behagliche Selbstgenügsamkeit erfüllte mich – am besten ist diese Zeit mit jener zu vergleichen, die ich auf dem Holzhof des Untersuchungsgefängnisses verbrachte. Freilich fehlte hier der Mordhorst, aber eigentlich fehlte er mir nicht. Mordhorst hatte immer getrieben, getadelt und gehetzt – und ich liebte jetzt den Frieden. Der Bau mit seinem Schmutz und Geiz und Neid war entsetzlich, aber er war nun einmal so – was hatte es für einen Zweck, sich dagegen aufzulehnen? Wir Gefangene, wir Kranke galten doch gar nichts!
Am Schluss des zweiten Monats vertauschte ich mein ganzes Paket Feinschnitttabak gegen ein ungefasstes Brennglas und konnte mir nun, auch in meiner Arbeitszelle, die Pfeife immer anbrennen, wenn die Sonne schien. Da kam ich mir reicher und glücklicher als je in meinem Leben vor, wenn ich so an meinem Fenster lehnte und mit tiefer Freude meine zehn oder zwölf Züge Tabakrauch in mich hineinsog. Es war mir, als habe ich in meinem Leben noch nie so tief genossen und mich gefreut wie hier in der warmen Zelle. Vielleicht hatte da die Genügsamkeit meines Schlafkameraden Holz, seine Gabe, sich auch an den kleinsten Dingen zu freuen, schon auf mich abgefärbt.
1 der zweite Grasschnitt <<<
Unruhe trugen in den stillen Frieden dieser Tage nur meine Unterhaltungen mit dem Arzt, meist dauerte es ein paar Tage, bis ich mich nach ihnen wieder völlig beruhigt hatte und zu meinem stillen Behagen zurückgekehrt war. Im Ganzen verliefen sie nicht günstig für mich, wenn auch keine so schlimm wurde wie jene Erste. Es war mir leider ganz unmöglich, mich ihm gegenüber so zu geben, wie ich wirklich war. Nie gewann ich im Verkehr mit ihm jene Freiheit und Selbstsicherheit, die mir doch draußen selbstverständlich gewesen waren. Immer bedrückte mich ein dunkles Schuldgefühl, als müsste ich vor ihm um jeden Preis etwas verbergen und verheimlichen. Nie wurde ich ganz meine Furcht vor seinen geheimen Listen und Kniffen los; bei der harmlosesten Frage plagte mich der Gedanke: ›Wie will er dich jetzt wieder reinlegen?‹ Nie sah ich den helfenden Arzt in ihm, sondern immer den Gehilfen des Staatsanwaltes, der mich in schwerer, verworrener Stunde des Mordversuchs an meiner Frau beschuldigt hatte und der alles aufbieten würde, mich in diesen Mauern zu halten.
Wenn ich mich wirklich einmal überwand und dem Medizinalrat erzählte, was mein Herz bewegte, fiel ich auch damit regelmäßig herein. Zum Beispiel erzählte ich ihm eines Tages ganz freimütig von meinen so veränderten Zukunftsplänen, mich auf ein stilles Dorf zurückzuziehen und ganz der Bürstenmacherei zu leben. Ich hatte geglaubt, für diese Pläne die Billigung des Arztes zu finden, ja sein Lob, und war überrascht und maßlos enttäuscht, als er energisch den Kopf schüttelte und sagte: »Das sind ja bloße Fantastereien, Sommer. Sie streuen sich ja selbst Sand in die Augen. So können Sie nicht leben, und so wollen Sie auch gar nicht leben. Sie brauchen Ihre Mitmenschen, und vor allem, Sommer, brauchen Sie eine führende, helfende Hand. Nein, das haben Sie sich wieder nur in Ihrer ganz unbegründeten Aversion gegen Ihre Frau ausgedacht. Machen Sie sich doch einmal von dem Gedanken frei, dass Ihre Frau Ihnen schaden will! Sie, Sie allein haben ihr viel Böses getan, und wenn Ihre Frau nicht ein so anständiger Mensch wäre, hätte sie alle Ursache, ein bisschen böse über Sie zu sein. Aber nicht ein abfälliges Wort über Sie hat sie zu Protokoll gegeben, immer sucht sie, Sie zu entschuldigen! Und da erzählen Sie mir, dass Sie nicht mehr mit ihr leben und arbeiten wollen! Was für ein Mensch sind Sie doch, Sommer! Können Sie denn nie eine Sache sehen, wie sie wirklich ist? Müssen Sie sich immer Flausen vormachen?«
Ich war natürlich verwirrt und empört über diesen ganz unmotivierten Angriff; da Magda mir keine Zeile geschrieben, nie einen Versuch gemacht hatte, mich zu sehen, musste ich wohl mit Recht annehmen, dass ich ihr lästig, dass ich für sie tot und begraben war. Und wie es eben Sitte ist, sprach sie über einen Toten nichts Schlechtes. Aber anständig war es von mir, ihr daraufhin still aus dem Wege zu gehen, ihr keine Schwierigkeiten zu machen, sie im freien Besitz meines Eigentums zu lassen.
Dass der Arzt diesen meinen Edelmut nicht sehen wollte, sondern mit harten, bösen Worten über mich herfiel, das bewies mir, wie voreingenommen er gegen mich war, und das verschloss für die Zukunft noch fester meinen Mund, machte mich noch befangener und unfreier. Eigentlich war er nichts anderes als mein Feind, ein erbarmungsloser Feind, der danach trachtete, mich mit allen Mitteln zu überlisten, und der das Übergewicht als Anstaltsleiter rücksichtslos mir gegenüber ausnutzte. Die anderen Gefangenen hatten ganz recht, mich immer wieder vor ihm zu warnen. »Trau nur dem Stiebing nicht! Ins Gesicht freundlich, und hinter deinem Rücken macht er ein Gutachten über dich, dass du dein Lebtag nicht wieder aus diesem Kasten herauskommst.« Recht hatten sie.
Allzu oft ließ der Arzt mich in diesen Wochen nicht zu sich rufen, und seine Anforderungen nach mir wurden auch nicht häufiger, nachdem er mir eröffnet hatte, er sei jetzt aufgefordert, ein Gutachten über mich zu erstatten. Eher das Gegenteil, auch ein Beweis dafür, dass er eine vorgefasste Meinung von mir hatte und gar nichts mehr zulernen wollte. Im Allgemeinen kam der Medizinalrat, wenn nichts besonders Dringendes vorlag, zweimal wöchentlich in die Heil- und Pflegeanstalt, jeden Dienstag- und Donnerstagabend. Ich wurde aber vom Oberpfleger viel seltener zu ihm gerufen, nicht einmal jede Woche einmal. An sich begrüßte ich das natürlich, denn jeder Besuch bei ihm war, wie ich schon gesagt habe, eine Marter für mich, nach der ich tagelang nicht wieder zur Ruhe kam. Aber dieses seltene Holen zeigte doch auch, wie leicht er über dieses Gutachten, das über mein Lebensschicksal entscheiden sollte, dachte.
An sich war mein Fall doch gerade für einen Psychiater besonders interessant, ich stand bildungsmäßig weit über dem Niveau der anderen Anstaltsinsassen, hatte in meinem Leben etwas vor mich gebracht, war ein angesehener Mann – und nun in diesem Totenhaus! Der Medizinalrat hätte doch eigentlich sehen müssen, dass es bei mir um viel mehr als bei den anderen ging, ich hatte mehr zu verlieren, ich war auch empfindlicher und leidensfähiger als diese meist recht stumpfen Gesellen! Aber nein, er behandelte mich völlig wie Hinz und Kunz, war oft geradezu grob mit mir, schalt mich einen unverbesserlichen Lügner und Flausenmacher! Ich hatte alles Recht, ihm zu misstrauen und vor ihm auf meiner Hut zu sein. Wenn er mir dann wieder meinen Mangel an Offenheit vorwarf, so war das einer seiner inkonsequenten Vorwürfe, zu denen ich völlig zu schweigen vorzog.