»Herr Kammergerichtsrat!«, sagt Baldur Persicke flehend. »Ich bitte Sie, nehmen Sie diese Sache in die Hand! Sie sind Richter gewesen, Sie wissen, was zu geschehen hat …«
»Nein, nein«, sagt der Rat entschieden ablehnend. »Ich bin alt und krank.« Er sieht aber gar nicht so aus. Im Gegenteil: blühend sieht er aus. »Und dann lebe ich ganz zurückgezogen, ich habe kaum noch Verbindung mit der Welt. Aber Sie, Herr Persicke, Sie und Ihre Familie, Sie sind es doch, die die beiden Einbrecher überrascht haben. Sie übergeben sie der Polizei, Sie stellen das Gut hier in der Wohnung sicher. Ich habe mir bei meinem raschen Rundgang eben einen kleinen Überblick verschafft. Ich habe zum Beispiel siebzehn Koffer und einundzwanzig Kisten gezählt. Und anderes mehr. Und anderes mehr …«
Er hat immer langsamer geredet. Immer langsamer. Nun sagt er leicht: »Ich könnte mir denken, dass die Ergreifung der beiden Einbrecher Ihnen und Ihrer Familie noch Ruhm und Ehre eintragen wird.«
Der Kammergerichtsrat schweigt. Baldur steht sehr nachdenklich da. So kann man es auch machen – was für ein alter Fuchs der Fromm da ist! Er durchschaut bestimmt alles, sicher hat der Vater gequatscht, aber er will seine Ruhe haben, er will nichts von dieser Sache wissen. Von ihm droht keine Gefahr. Und Quangel, der alte Werkmeister? Der hat sich nie um jemanden im Haus gekümmert, der hat nie jemanden gegrüßt, nie mit einem ein Wort gesprochen. Der Quangel ist so ein richtiger alter Arbeiter, ausgemergelt, ausgepumpt, der hat keinen eigenen Gedanken mehr im Kopf. Der macht sich bestimmt nicht unnötig Scherereien. Der ist erst recht gefahrlos.
Bleiben die beiden blöden Besoffenen, die da liegen. Natürlich kann man sie der Polizei übergeben und alles ableugnen, was der Barkhausen etwa über Anstiftung erzählt. Dem werden sie bestimmt keinen Glauben schenken, wenn er gegen Angehörige der Partei, der SS und der HJ aussagt. Und dann den ganzen Fall der Gestapo melden. Da bekommt man vielleicht ganz legal einen Teil dieser Sachen, die man sonst nur illegal und unter Gefahr an sich bringen könnte. Und hätte außerdem Anerkennung dazu.
Ein verlockender Weg. Aber vielleicht ist der andere doch noch besser, erst einmal alles auf sich beruhen zu lassen. Den Barkhausen und diesen Enno verpflastern und mit ein paar Mark losschicken. Die reden bestimmt nicht. Die Wohnung abschließen, wie sie ist, ob die Rosenthal nun zurückkommt oder nicht. Vielleicht ist später was zu machen – er hat das ziemlich sichere Gefühl, der Kurs gegen die Juden wird noch schärfer. Abwarten und Tee trinken. In einem halben Jahr kann man vielleicht schon Sachen machen, die heute noch nicht gehen. Jetzt haben sie, die Persickes, sich ein bisschen viel Blößen gegeben. Man wird nicht grade gegen sie vorgehen, aber man wird in der Partei über sie klatschen. Sie werden nicht mehr als ganz zuverlässig gelten.
Baldur Persicke sagt: »Ich möchte beinahe die beiden Kerle laufenlassen. Sie tun mir leid, Herr Kammergerichtsrat, es sind doch bloß kleine Kläffer.«
Er sieht sich um, er ist allein. Sowohl der Kammergerichtsrat wie der Werkmeister sind gegangen. Wie er es sich gedacht hat: sie wollen nichts mit der Sache zu tun haben. Das Schlaueste, was man tun kann. Er, Baldur, wird es nicht anders machen, und wenn die Brüder noch so sehr schimpfen.
Mit einem tiefen Seufzer, der all den schönen Sachen gilt, die er aufgeben muss, schickt sich Baldur an, in die Küche zu gehen, den Vater zur Besinnung und die Brüder zum Verzicht auf schon Erreichtes zu bringen.
Auf der Treppe sagt unterdes der Kammergerichtsrat zu dem Werkmeister Quangel, der ihm wortlos aus der Stube gefolgt ist: »Und wenn Sie Schwierigkeiten wegen der Rosenthal bekommen, Herr Quangel, wenden Sie sich an mich. Gute Nacht.«
»Was geht mich die Rosenthal an? Ich kenn sie gar nicht!«, protestiert Quangel.
»Also gute Nacht, Herr Quangel!«, und der Kammergerichtsrat Fromm verschwindet schon treppabwärts.
Otto Quangel schließt die Tür zu seiner dunklen Wohnung auf.
Quangel hat kaum die Tür zum Schlafzimmer aufgemacht, da ruft seine Frau Anna erschrocken: »Mach kein Licht, Vater! Die Trudel schläft hier in deinem Bett. Ich habe dir dein Bett auf dem Sofa in der Stube zurechtgemacht.«
»Ist gut, Anna«, antwortet Quangel und wundert sich über diese Neuerung, dass die Trudel durchaus in seinem Bett schlafen muss. Sonst hat sie auf dem Sofa gelegen.
Aber er sagt erst wieder was, als er sich ausgezogen hat und unter der Decke auf dem Sofa liegt. Er fragt: »Willst du schon schlafen, Anna, oder magst du noch ein Wort reden?«
Sie zögert einen Augenblick, dann antwortet sie durch die offene Tür von der Schlafstube her. »Ich bin so müde und kaputt, Otto!«
Also ist sie noch böse mit mir – warum eigentlich?, denkt Otto Quangel, sagt aber unverändert: »Also dann schlaf, Anna. Gute Nacht!«
Und von ihrem Bett hallt es zurück: »Gute Nacht, Otto!« Und auch die Trudel flüstert leise: »Gute Nacht, Vater!«
»Gute Nacht, Trudel!«, antwortet er und legt sich auf die Seite, nur von dem Wunsche erfüllt, möglichst bald einzuschlafen, denn er ist sehr müde. Aber er ist wohl übermüdet, wie man auch überhungert sein kann. Der Schlaf will nicht zu ihm kommen. Ein langer Tag mit endlos viel Ereignissen, ein Tag, wie es ihn eigentlich noch nie in Ottos Leben gegeben hat, liegt hinter ihm.
Aber kein Tag, wie er ihn sich wünscht. Ganz abgesehen davon, dass eigentlich alle Geschehnisse unangenehm waren, bis auf die Ablösung von seinem Posten in der Arbeitsfront, er hasst diese Unruhe, dieses Redenmüssen mit allen möglichen Menschen, die er allesamt nicht ausstehen kann. Und er denkt an den Feldpostbrief mit der Nachricht vom Tode Ottochens, den ihm die Frau Kluge gegeben, er denkt an den Spitzel Barkhausen, der ihn so täppisch hat reinlegen wollen, an den Gang in der Uniformfabrik mit den im Zuge flatternden Plakaten, gegen die Trudel ihren Kopf lehnte. Er denkt an den verkappten Tischler Dollfuß, diesen ewigen Zigarettenraucher, die Medaillen und Orden klingeln wieder auf der Brust des braunen Redners, nun fasst ihn aus dem Dunkel die feste, kleine Hand des Kammergerichtsrats a.D. Fromm an und schiebt ihn der Treppe zu. Da steht der junge Persicke mit seinen spiegelnden Stiefeln auf der Wäsche und wird immer käsiger, und in der Ecke röcheln und stöhnen die beiden blutigen Besoffenen.
Er fährt wieder hoch, beinahe wäre er eben wirklich eingeschlafen. Aber da ist noch etwas, das ihn an diesem Tage stört, etwas, das er genau gehört und wieder vergessen hat. Er setzt sich auf seinem Sofa hoch und lauscht lange und sorgfältig. Es ist richtig, er hat sich nicht verhört. Befehlend ruft er: »Anna!«
Sie antwortet klagend, wie es gar nicht ihre Art ist: »Was störst du mich schon wieder, Otto? Soll ich denn gar nicht zur Ruhe kommen? Ich habe dir doch gesagt, ich will nicht mehr reden!«
Er fährt fort: »Warum soll ich denn auf dem Sofa schlafen, wenn die Trudel bei dir im Bette liegt? Dann ist mein Bett doch frei?«
Einen Augenblick herrscht drüben tiefe Stille, dann sagt die Frau fast flehend: »Aber Vater, die Trudel schläft wirklich in deinem Bett! Ich liege allein, ich habe auch solche Gliederschmerzen …«
Er unterbricht sie: »Du sollst mich nicht belügen, Anna. Drüben bei euch atmen drei, ich hab’s gut gehört. Wer schläft in meinem Bett?«
Stille, lange Stille. Dann sagt die Frau fest: »Frag nicht so viel. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Schweig lieber stille, Otto!«
Und er unbeugsam: »In dieser Wohnung bin ich der Herr. In dieser Wohnung gibt’s keine Geheimnisse vor mir. Weil ich alles zu verantworten habe, darum. Wer schläft in meinem Bett?«
Lange Stille, lange. Dann sagt eine alte, tiefe Frauenstimme: »Ich, Herr Quangel, die Frau Rosenthal. Und Ihre Frau und Sie sollen keine Schwierigkeiten durch mich haben, ich ziehe mich an. Gleich gehe ich wieder rauf!«
»Sie können jetzt nicht in Ihre Wohnung, Frau Rosenthal. Die Persickes sind oben und noch ein paar Kerls. Bleiben Sie jetzt liegen in meinem Bett. Und morgen früh, ganz zeitig, um sechs oder sieben, gehen Sie runter zum alten Rat Fromm und klingeln an seiner Tür im Hochparterre. Der wird Ihnen helfen, er hat’s mir gesagt.«
»Ich danke Ihnen auch schön, Herr Quangel.«
»Sie können dem Rat danken, mir nicht. Ich setz Sie bloß aus meiner Wohnung. So, und nun kommst du dran, Trudel …«
»Ich soll wohl auch raus, Vater?«
»Ja, du musst. Das war dein letzter Besuch bei uns, und du weißt auch, warum. Vielleicht, dass Anna dich manchmal besucht, aber ich glaub’s nicht. Wenn sie erst zur Vernunft gekommen ist und ich richtig mit ihr geredet habe …«
Fast schreiend sagt die Frau: »Das lass ich mir nicht gefallen, dann geh ich auch. Dann kannst du allein bleiben in deiner Wohnung! Du denkst nur an deine Ruhe …«
»Richtig!«, unterbricht er sie scharf. »Ich will nichts Unsicheres haben, und vor allem will ich nicht in die unsicheren Geschichten von anderen reingezogen werden. Wenn ich den Kopf hinhalten muss, will ich ihn nicht wegen irgendwelcher Dusseleien von anderen hinhalten, sondern weil ich was getan habe, was ich tun wollte. Ich sage nicht, dass ich was tu. Aber wenn ich was tu, so tu ich’s nur mit dir allein, mit keinem anderen Menschen noch, und wenn es noch so ein nettes Mädel wie die Trudel ist oder ’ne alte, schutzlose Frau wie Sie, Frau Rosenthal. Ich sag nicht, es ist richtig, wie ich’s mache. Aber anders kann ich’s nicht machen. So bin ich, und ich will auch gar nicht anders sein. So, und jetzt will ich schlafen!«
Damit legt sich Otto Quangel wieder hin. Drüben tuscheln sie noch leise, aber das stört ihn nicht. Er weiß: sein Wille geschieht doch. Morgen früh ist seine Wohnung wieder sauber, und die Anna wird sich auch fügen. Keine wilden Geschichten mehr. Und er allein. Er allein. Nur er!
Er schläft ein, und wer ihn jetzt schlafen sehen könnte, der würde ihn lächeln sehen, ein grimmiges Lächeln auf diesem harten, trockenen Vogelgesicht, ein grimmiges, kämpferisches Lächeln, doch kein böses.
All die zuvor berichteten Ereignisse hatten sich an einem Dienstag zugetragen. Am Morgen des folgenden Mittwochs, sehr früh, zwischen fünf und sechs Uhr, verließ Frau Rosenthal, von der Trudel Baumann begleitet, die Quangel’sche Wohnung. Otto Quangel schlief noch fest. Die Trudel hatte die unbehilfliche, völlig verängstigte Frau Rosenthal mit dem gelben Stern auf der Brust bis fast an die Fromm’sche Wohnungstür gebracht. Dann zog sie sich eine halbe Treppe höher zurück, fest entschlossen, die Frau, und sei es mit dem eigenen Leben und der eigenen Ehre, gegen einen etwa herabkommenden Persicke zu verteidigen.
Trudel beobachtete, wie Frau Rosenthal auf den Klingelknopf drückte. Fast sofort wurde die Tür geöffnet, als habe jemand schon wartend dahinter gestanden. Einige Worte wurden leise gewechselt, dann trat Frau Rosenthal ein, die Tür schloss sich, und Trudel Baumann ging an ihr vorbei auf die Straße. Das Haus war schon offen.
Die beiden Frauen hatten Glück gehabt. So früh es auch war und sosehr Frühaufstehen auch den Gewohnheiten der Persickes widersprach, so hatten doch die beiden SS-Männer keine fünf Minuten früher das Treppenhaus passiert. Um fünf Minuten war eine Begegnung vermieden, die bei der sturen Dummheit und der Brutalität der beiden Burschen nicht anders als verhängnisvoll, zum mindesten für Frau Rosenthal, ausgefallen wäre.
Auch die beiden SS-Männer waren nicht allein gegangen. Sie hatten von ihrem Bruder Baldur den Befehl erhalten, den Barkhausen und den Enno Kluge (Baldur hatte unterdes seine Papiere durchgesehen) aus dem Hause und zu ihren Frauen zu schaffen. Die beiden Amateureinbrecher waren immer noch fast völlig benebelt von dem Übermaß genossenen Alkohols und von dem Schlag, den sie abbekommen hatten. Doch war es Baldur Persicke gelungen, ihnen begreiflich zu machen, dass sie sich wie die Schweine benommen hätten, dass es nur der großen Menschenliebe der Persickes zu verdanken sei, wenn sie nicht sofort der Polizei übergeben wurden, dass aber jedes Gequatsche sie unweigerlich dorthin bringen würde. Außerdem hatten sie sich nie wieder bei Persickes sehen zu lassen und keinen Persicke je zu kennen. Wenn sie sich aber erfrechen würden, je wieder in die Rosenthal’sche Wohnung zu kommen, würden sie unweigerlich der Gestapo übergeben.
All dies hatte ihnen Baldur so oft und mit so vielen Drohungen und Beschimpfungen wiederholt, bis es in ihren verblödeten Hirnen völlig festzusitzen schien. Sie hatten sich da am Tisch der Persicke’schen Wohnung gegenübergesessen, in einem halben Zwielicht, zwischen sich den unaufhörlich schwatzenden, drohenden, blitzenden Baldur. Auf dem Sofa hatten sich die beiden SS-Männer herumgelümmelt, drohende, finstere Gestalten, trotz ihres ewigen Zigarettenrauchens. Sie hatten das unsichere Gefühl, als ständen sie vor einem Gerichtshof zur Aburteilung, der Tod schien ihnen zu drohen. Sie schwankten auf ihren Stühlen hin und her und versuchten zu verstehen, was sie verstehen sollten. Dazwischen dösten sie ein und wurden sofort wieder durch einen schmerzhaften Faustschlag Baldurs geweckt. Alles, was sie geplant, getan, erlitten hatten, schien ihnen wie ein unwirklicher Traum, sie sehnten sich nur nach Schlaf und Vergessen.
Schließlich schickte sie Baldur mit seinen Brüdern fort. In den Taschen trugen Barkhausen wie Kluge, ohne es zu wissen, etwa fünfzig Mark in kleinen Scheinen. Baldur hatte sich zu diesem neuen, schmerzlichen Opfer entschlossen, durch das die Unternehmung Rosenthal für die Persickes vorläufig zu einem reinen Verlustgeschäft wurde. Aber er sagte sich, wenn die Männer ohne alles Geld, zerschlagen und arbeitsunfähig zu ihren Frauen zurückkehrten, würde es bei den Weibern viel mehr Geschrei und Nachfrage geben, als wenn ihnen die betrunkenen Kerle einiges Geld zutrugen. Und er rechnete damit, dass bei dem Zustand der Männer die Frauen das Geld finden würden.
Der ältere Persicke, der Barkhausen nach Haus zu bringen hatte, war mit seiner Aufgabe in zehn Minuten fertig, in jenen zehn Minuten, in denen Frau Rosenthal die Fromm’sche Wohnung erreicht hatte und Trudel Baumann auf die Straße getreten war. Er hatte den fast gehunfähigen Barkhausen einfach beim Kragen gepackt, über den Hof geschleppt, vor der Barkhausen’schen Wohnung auf die Erde gesetzt und die Frau mit festen Faustschlägen gegen die Tür geweckt. Als sie erschrocken vor der finster drohenden Gestalt zurückgewichen war, hatte er sie angeschrien: »Da bring ich dir deinen Kerl, alte Sau! Schmeiß den Freier raus, den du im Bett hast, und pack deinen Kerl dafür rein! Hier bei uns im Treppenhaus besoffen rumliegen und alles vollkotzen …!«
Damit ging er und überließ alles andere Otti. Sie hatte noch ihre Mühe gehabt, den Emil aus den Kleidern und ins Bett zu bringen, dabei hatte der ältere bessere Herr, der noch bei ihr zu Gaste war, helfen müssen. Dann war er unbarmherzig fortgeschickt worden – trotz der frühen Stunde. Auch jedes Wiederkommen war ihm verboten, vielleicht konnte man sich mal in einem Café treffen, aber hier, nein, nie wieder.
Denn Ottichen war von einer panischen Angst ergriffen, seit sie den SS-Mann Persicke an ihrer Tür erblickt hatte. Sie wusste von mancher Kollegin, die von diesen schwarzen Herren zwar benutzt, statt einer Bezahlung aber als asozial und arbeitsscheu in ein KZ geschafft worden war. Sie hatte geglaubt, in ihrer düsteren Kellerwohnung ein völlig unbeobachtetes Dasein zu fristen, nun hatte sie erfahren, dass sie – wie alle zu dieser Zeit – ständig bespitzelt wurde. Hatte der Persicke ja sogar gewusst, dass sie einen fremden Herrn im Bett gehabt hatte! Nein, Ottichen wollte von fremden Herren vorläufig nichts mehr sehen. Zum hundertsten Mal in ihrem Leben gelobte sie sich Besserung.
Dieser Entschluss wurde ihr erleichtert, als sie achtundvierzig Mark in Emils Tasche fand. Sie steckte das Geld in ihren Strumpf und entschloss sich abzuwarten, was Emil von seinen Erlebnissen berichten würde, sie jedenfalls würde von dem Gelde nichts wissen!
Die Aufgabe des zweiten Persicke war wesentlich schwieriger, vor allem dadurch, dass der zurückzulegende Weg sehr viel weiter war, denn Kluges wohnten jenseits des Friedrichshains. Enno konnte ebenso wenig gehen wie Barkhausen, aber Persicke konnte ihn nicht auf der Straße am Kragen oder am Arm neben sich herschleifen. Es war ihm überhaupt peinlich, in der Gesellschaft dieses zerschlagenen, betrunkenen Mannes gesehen zu werden, denn je geringer er von seiner eigenen und seiner Mitmenschen Ehre dachte, umso höher stellte er die Ehre seiner Uniform.
Es war ebenso vergeblich, dem Kluge zu befehlen, kurz vor ihm oder einen Schritt hinter ihm zu gehen, immer hatte er die gleiche Neigung, sich auf die Erde zu setzen, zu stolpern, sich an Bäumen und Wänden festzuhalten oder gegen Passanten zu streifen. Umsonst war da jeder Faustschlag, jedes noch so scharfe Kommando, der Körper tat einfach nicht mit, und ihm die scharfe Abreibung zu erteilen, die ihn vielleicht doch nüchtern gemacht hätte, dafür waren die Straßen schon zu belebt. Persicke stand der Schweiß auf der Stirne, seine Kinnbackenmuskeln bewegten sich krampfhaft vor Wut, und er schwur es sich zu, dieser kleinen Giftkröte von Baldur einmal gründlich zu sagen, was er von solchen Aufträgen hielt.
Er musste die Hauptstraßen meiden, Umwege durch stillere Nebenstraßen machen. Dann packte er den Kluge unter dem Arm und trug ihn oft zwei, drei Straßenecken weit, bis er nicht mehr konnte. Viel Beschwer machte ihm auch eine Zeit lang ein Schupo,1 dem dieser etwas gewaltsame Frühtransport wohl aufgefallen war und der ihm durch seinen ganzen Bezirk folgte, den Persicke dadurch zu einem sanften und besorgten Benehmen zwingend.
Aber er nahm, als sie endlich im Friedrichshain angekommen waren, seine Rache dafür. Er setzte den Kluge hinter einem Gebüsch auf die Bank und bearbeitete ihn dann so, dass der Mann zehn Minuten lang völlig ohnmächtig dalag. Dieser kleine Rennwetter, dem eigentlich alles auf der Welt außer Interesse war, ausgenommen die Rennpferde, die er freilich zeit seines Lebens nur in den Zeitungen zu Gesicht bekommen hatte, dieses Geschöpf, das weder Liebe noch Hass empfinden konnte, dieser Arbeitsscheue, der alle Windungen seines kümmerlichen Hirns damit beschäftigt hatte, wie wirklicher Anstrengung zu entgehen war, dieser Mann Enno Kluge, blass, genügsam, farblos, er behielt von diesem Zusammentreffen mit den Persickes eine panische Angst vor jeder Parteiuniform, eine Angst, die ihn fortan in Seele und Geist lähmen sollte, wenn er mit solchen Parteileuten in Berührung kam, wie sich später noch zeigen sollte.
Ein paar Tritte in die Rippen weckten ihn aus seiner Ohnmacht, ein paar Schläge auf seinen Rücken setzten ihn in Gang, und so trabte er denn, feige wie ein verprügelter Hund, vor seinem Peiniger her, bis die Wohnung der Frau erreicht war. Aber die Tür war verschlossen: die Briefträgerin Eva Kluge, die in der Nacht noch an ihrem Sohn und damit an ihrem Leben verzweifelt war, hatte sich wieder auf ihren gewohnten Trott gemacht, den Brief an ihren Sohn Max in der Tasche, aber mit sehr wenig Hoffnung und Glauben im Herzen. Sie bestellte Post, wie sie es seit Jahren getan hatte, es war immer noch besser, als tatenlos und von trüben Gedanken gequält zu Hause zu sitzen.
Persicke, nachdem er sich überzeugt hatte, die Frau war wirklich nicht zu Haus, klingelte an der Nachbartür, zufällig an der Tür jener Frau Gesch, die dem Enno am Abend zuvor mit einer Lüge in die Wohnung seiner Frau geholfen hatte. Persicke schob der Öffnenden das Jammergestell einfach in die Arme, sagte: »Da! Kümmern Sie sich um den Kerl, er gehört ja wohl hierher!« Und ging.
Frau Gesch war fest entschlossen gewesen, sich nie wieder in die Angelegenheiten der Kluges zu mischen. Aber so groß war die Gewalt eines SS-Mannes und so gewaltig die Angst jedes Volksgenossen vor ihm, dass sie den Kluge widerspruchslos in ihre Wohnung aufnahm, an den Küchentisch setzte und Kaffee und Brot vor ihn hinstellte. (Ihr Mann war schon zur Arbeit gegangen.) Frau Gesch sah wohl, wie erschöpft der kleine Kluge war, sie sah auch in seinem Gesicht, an dem zerrissenen Hemd, dem Schmutzfleck am Mantel die Spuren einer dauernden Misshandlung. Da ihr der Kluge aber von einem SS-Mann übergeben war, so hütete sie sich, eine einzige Frage zu stellen. Ja, sie hätte ihn eher vor ihre Wohnungstür gesetzt als eine Schilderung des ihm Widerfahrenen angehört. Sie wollte nichts wissen. Wenn sie nichts wusste, konnte sie auch nichts aussagen, nicht sich verplappern, nicht schwatzen, konnte sie sich also auch nicht in Gefahr bringen.
Der Kluge aß langsam kauend das Brot, trank den Kaffee. Dabei rannen dicke Tränen des Schmerzes und der Erschöpfung über sein Gesicht. Die Gesch warf schweigend von der Seite dann und wann einen beobachtenden Blick auf ihn. Dann, als er endlich fertig geworden war, fragte sie: »Und wo wollen Sie nu hin? Ihre Frau nimmt Sie nicht wieder auf, das wissen Se doch!«
Er antwortete nicht, er starrte nur vor sich hin.
»Und bei mir können Se auch nich bleiben. Erstens mal erlaubt’s der Justav nich, und denn mag ich ooch nich allens vor Ihnen abschließen. Wo wollen Se also hin?«
Er antwortete wieder nicht.
Die Gesch sagte hitzig: »Denn setz ich Sie vor die Tür auf die Treppe! Gleich auf der Stelle tu ich das! Oder?«
Er sagte mühsam: »Tutti – alte Freundin …« Und weinte schon wieder.
»Jottedoch, so ’n Schmachtlappen!«, sagte die Gesch verächtlich. »Wenn ich immer gleich schlappmachen wollte, wenn mir mal was schiefgeht! Also Tutti – wie heißt sie denn richtig und wo wohnt sie?«
Nach längerem Fragen und Drohen erfuhr sie, dass Enno Kluge Tuttis eigentlichen Namen nicht wusste, sich aber zutraute, ihre Wohnung zu finden.
»Na also!«, sagte die Gesch. »Aber allein können Se so nich gehen, jeder Schupo nimmt Sie fest. Ich bring Sie. Aber wenn die Wohnung nicht stimmt, lass ich Sie auf der Straße stehen. Ich hab keine Zeit für langes Rumsuchen, ich muss arbeiten!«
Er bettelte: »Erst ’nen Augenblick schlafen!«
Sie entschied nach kurzem Zögern: »Aber nich länger als ’ne Stunde! In einer Stunde nischt wie ab die Post! Da, legen Se sich aufs Kanapee, ich deck Sie zu!«
Sie war noch nicht mit der Decke bei ihm, da war er schon fest eingeschlafen. –
Der alte Kammergerichtsrat Fromm hatte Frau Rosenthal selbst geöffnet. Er hatte sie in sein Arbeitszimmer geführt, dessen Wände völlig mit Büchern bedeckt waren, und hatte sie dort in einem Sessel Platz nehmen lassen. Eine Leselampe brannte, ein Buch lag aufgeschlagen auf dem Tisch. Der alte Herr trug jetzt selbst ein Tablett mit einem Teekännchen und einer Tasse, mit Zucker und zwei dünnen Scheibchen Brot herzu und sagte zu der Verängsteten: »Erst frühstücken Sie bitte, Frau Rosenthal, dann reden wir!« Und als sie ihm wenigstens ein Wort des Dankes sagen wollte, meinte er freundlich: »Nein, bitte wirklich erst frühstücken. Tun Sie ganz so, als seien Sie hier zu Hause, ich tue es ja auch!«
Damit nahm er das Buch unter der Leselampe wieder auf und begann in ihm zu lesen, wobei seine freie linke Hand ganz mechanisch immer wieder von oben nach unten den eisgrauen Kinnbart strich. Er schien seine Besucherin vollkommen vergessen zu haben.
Allmählich kam wieder ein bisschen Zuversicht in die verängstigte alte Jüdin. Seit Monaten hatte sie nur noch in Angst und Unordnung gelebt, zwischen gepackten Sachen, stets gewärtig des brutalsten Überfalls. Seit Monaten kannte sie weder Heim noch Ruhe, noch Frieden, noch Behagen. Und nun saß sie hier bei dem alten Herrn, den sie kaum je zuvor auf der Treppe gesehen; von den Wänden sahen die hell- und dunkelbraunen Lederbände vieler Bücher, ein großer Mahagonischreibtisch am Fenster, Möbel, wie sie sie selbst in der ersten Zeit ihrer Ehe besessen, ein etwas vertretener Zwickauer Teppich auf dem Fußboden. Und dazu dieser lesende alte Herr, der ununterbrochen sein Zickenbärtlein streichelte, genau so ein Bärtlein, wie es auch viele Juden gerne trugen, und dazu kam noch dieser lange Schlafrock, der ein wenig an den Kaftan ihres Vaters erinnerte.
Es war, als sei wie nach einem Zauberspruch die ganze Welt aus Schmutz, Blut und Tränen versunken und sie lebe wieder in der Zeit, da sie noch angesehene, geachtete Menschen waren, nicht gehetztes Ungeziefer, das zu vertilgen Pflicht ist.
Unwillkürlich strich sie sich übers Haar, ganz von selbst nahm ihr Gesicht einen anderen Ausdruck an. Es gab also doch noch Frieden auf der Welt, sogar hier in Berlin.
»Ich bin Ihnen sehr dankbar, Herr Kammergerichtsrat«, sagte sie. Selbst ihre Stimme klang anders, fester.
Er sah rasch hoch von seinem Buch. »Trinken Sie bitte Ihren Tee, solange er noch heiß ist, und essen Sie Ihr Brot. Wir haben viel Zeit, wir versäumen nichts.«
Und er las schon wieder. Gehorsam trank sie jetzt den Tee und aß auch das Brot, trotzdem sie viel lieber mit dem alten Herrn gesprochen hätte. Aber sie wollte ihm in allem gehorsam sein, sie wollte den Frieden seiner Wohnung nicht stören. Sie sah sich wieder um. Nein, all dies sollte so bleiben, wie es jetzt war. Sie brachte es nicht in Gefahr. (Drei Jahre später sollte eine Sprengmine dieses Heim in Atome zerreiben, und der gepflegte alte Herr sollte im Keller sterben, langsam und qualvoll …)
Sie sagte, indem sie die leere Tasse auf das Tablett zurückstellte: »Sie sind sehr gütig zu mir, Herr Kammergerichtsrat, und sehr mutig. Aber ich will Sie und Ihr Heim nicht nutzlos in Gefahr bringen. Es hilft doch alles nichts. Ich gehe in meine Wohnung zurück.«
Der alte Herr hatte sie aufmerksam angesehen, während sie sprach, nun führte er die schon Aufgestandene in ihren Sessel zurück. »Bitte, setzen Sie sich noch einen Augenblick, Frau Rosenthal!«
Sie tat es widerstrebend. »Wirklich, Herr Kammergerichtsrat, es ist mir ernst mit dem, was ich sage.«
»Hören Sie mich bitte erst an. Auch mir ist es ernst mit dem, was ich Ihnen sagen werde. Was zuerst die Gefahr anlangt, in die Sie mich bringen, so habe ich mein Lebtag, seit ich im Beruf stehe, in Gefahr geschwebt. Ich bin stets Kammerrichter gewesen, und man hat mich in gewissen Kreisen nur den blutigen Fromm oder den Scharfrichter Fromm genannt.« Er lächelte, als er ihr Zusammenschrecken sah. »Ich war stets ein stiller und wohl auch sanfter Mensch, aber das Schicksal hat es über mich verhängt, dass ich während meiner Laufbahn einundzwanzig Todesurteile verhängen oder bestätigen musste. Ich habe eine Herrin, der ich zu gehorchen habe, sie regiert mich, Sie, die Welt, selbst die Welt jetzt draußen, und diese Herrin ist die Gerechtigkeit. An sie habe ich immer geglaubt, glaube ich heute noch, die Gerechtigkeit habe ich allein zur Richtschnur meines Handelns gemacht …«
Während er so sprach, ging er leise auf und ab im Zimmer, die Hände auf dem Rücken, stets in Frau Rosenthals Gesichtsfeld bleibend. Die Worte kamen ruhig und leidenschaftslos von seinen Lippen, er sprach von sich wie von einem vergangenen, eigentlich nicht mehr existierenden Mann. Frau Rosenthal folgte gespannt jedem seiner Worte.
»Doch«, fuhr der Kammergerichtsrat fort, »ich spreche von mir, statt von Ihnen zu sprechen, eine üble Angewohnheit aller, die sehr einsam leben. Verzeihen Sie, sprechen wir noch ein Wort von der Gefahr. Ich bekam Drohbriefe, man hat mich überfallen, es ist auf mich geschossen worden, zehn Jahre, zwanzig Jahre, dreißig Jahre … Nun, Frau Rosenthal, hier sitze ich, ein alt gewordener Mann, und lese meinen Plutarch. Gefahr bedeutet nichts für mich, sie ängstigt mich nicht, sie beschäftigt nie mein Hirn oder Herz. Reden Sie nicht von Gefahren, Frau Rosenthal …«