Wirklich, der Arzt wartete schon für mich – kaum war eine Stunde vergangen, und reichlich siebzig Patienten waren bereits behandelt. Medizinalrat Dr. Stiebing, im weißen Ärztemantel, lächelte mir freundlich entgegen, er forderte mich auf, Platz zu nehmen, und reichte mir sogar die Hand. Wartend, mit wachsamen Augen, stand der Oberpfleger im Hintergrund, keine Bewegung, kein Wort ließ er sich entgehen. Ich fand es gut, dass er sah, mit welcher Auszeichnung mich der Medizinalrat behandelte, jetzt dieser freundliche Empfang, vorher die Verlegung auf eine bessere Zelle – er würde sich schon in acht nehmen, mich zu hart zu behandeln.
»Also«, sagte der Medizinalrat lächelnd, »nun sind Sie also doch bei mir gelandet, Herr Sommer. Vor vierzehn Tagen hätten wir Sie noch in eine etwas komfortablere Umgebung gebracht, der Kollege Mansfeld und ich. Nun, nun, Sie werden es auch hier aushalten. Es ist ein ordentliches Haus, es wird Ihnen hier schon Ihr Recht werden. Ein bisschen Disziplin ist jedem Menschen gut, nicht wahr?«
Er war wirklich die Freundlichkeit selbst. Gerührt dankte ich ihm für den mir zugewiesenen besseren Schlafplatz.
»Schon gut, schon gut«, wehrte der Medizinalrat ab. »Was wir tun können, Ihnen den Aufenthalt hier zu erleichtern, das werden wir schon tun. Natürlich gibt es gewisse unumstößliche eiserne Hausgesetze …« Er sah mich mit einem freundlichen Bedauern an. Dann: »Und auch Sie werden alles tun, um uns unsere Aufgabe zu erleichtern, nicht wahr, Herr Sommer?«
Ich versicherte es, ich fragte, ob der Medizinalrat ein Gutachten über mich zu erstatten habe?
»Nein, noch nicht«, sagte er rasch. »Ich nehme an, man wird eines von mir anfordern, aber vorläufig sind Sie mir nur zur Unterbringung hier zugewiesen, Herr Sommer.«
»Aber dann dauert das alles doch so lange!«, rief ich klagend. »Warum denn nicht sofort dieses Gutachten erstatten? Der Fall liegt doch ganz klar. Es liegt doch nur eine kleine Bedrohung vor, und ich bin überzeugt, dass Magda, dass meine Frau aussagen wird, dass sie sich gar nicht von mir bedroht gefühlt hat. Wegen einer solchen kleinen Sache kann man mich doch nicht wochenlang hier festhalten!« Ich hatte immer ernster und immer überzeugender gesprochen, von vornherein wollte ich klarstellen, ein wie großer Abstand zwischen meinem Fehltritt und der Unterbringung hier bestand.
»Aber, aber!«, rief der Arzt und legte mir beruhigend die Hand auf den Arm. »Warum denn so eilig? Erst einmal müssen Sie sich gründlich ausruhen und wieder ganz gesund werden …«
»Aber ich bin ganz gesund!«, versicherte ich.
»Kein Schwindel?«, fragte der Arzt. »Keine Schweißausbrüche? Kein Appetitmangel und dann plötzlicher Heißhunger? Keine Sehnsucht nach Alkohol?«
»Ich denke überhaupt nicht an Alkohol!«, rief ich, entsetzt über einen solchen gefährlichen Verdacht. »Ich fühle mich ganz gesund!«
»Also wirklich gar keine Abstinenzerscheinungen?«, fragte der Arzt zweifelnd. »Nun, wie steht es damit, Oberpfleger, haben Sie etwas beobachtet?«
Erwartungsvoll sah ich in das harte dunkle Gesicht des Oberpflegers. Er konnte nicht das Geringste beobachtet haben, dessen war ich sicher.
»Gestern Abend«, berichtete der, »hat Sommer dringenden Hunger vorgegeben und Abendessen verlangt, dann hat er aber nur vier oder fünf Löffel davon gegessen. Lexer behauptete heute bestimmt, Sommer habe eine Rasierklinge in der Tasche gehabt; wir haben sie nicht finden können, aber immerhin – im Allgemeinen waren solche Angaben Lexers bisher zuverlässig. Sommer ist auch die Ruhelosigkeit selbst, er kann nicht fünf Minuten auf einem Fleck sitzen, sich mit nichts beschäftigen, hat keine Zeitung angefasst …«
»Aber«, rief ich, empört und entsetzt über eine solche entstellende Meldung, »das hat doch alles ganz andere Gründe. Das hat doch mit dem Alkohol und Abstinenzerscheinungen überhaupt nichts zu tun. Wirklich, Herr Medizinalrat, ich denke überhaupt nicht an Schnaps …«
Der Medizinalrat und auch der Oberpfleger, beide lächelten dünn.
»Aber wirklich!«, rief ich noch überzeugender. »Ich habe einen solchen Schock durch meine Verhaftung und all die Folgen jetzt erlitten: Nie in meinem Leben wieder werde ich einen Tropfen Alkohol anrühren!«
»Das klingt schon besser«, sagte Dr. Stiebing freundlich und nickte.
»Und wenn ich gestern die Kohlsuppe nur angegessen habe, so doch nur darum, weil mir solches Essen ganz ungewohnt ist. Sicher«, setzte ich eilig hinzu, »war die Kohlsuppe sehr gut, aber zu Hause esse ich eben andere Dinge …«
Beide sahen mich so aufmerksam an.
»Und wenn ich ein bisschen viel hin- und hergelaufen bin und keine Ruhe gehabt habe, so ist das in meiner Lage doch nur erklärlich. Wenn man eben über sein ganzes Schicksal im ungewissen ist, wird man unruhig. Überhaupt laufen alle Menschen, die lange warten müssen, auf und ab, das sieht man doch in jedem Wartezimmer beim Zahnarzt, auf den Gängen im Gericht …«
»Schon gut, schon gut«, unterbrach mich der Arzt, ich hatte aber das Gefühl, dass ich ihn nicht überzeugt hatte, und dass er lange nicht alles »schon gut« fand. »Und was ist mit der Rasierklinge? Die haben Sie ja ganz übergangen!«
Ich wollte nicht rot werden – und doch … Nein, vielleicht bin ich gar nicht rot geworden, bilde es mir nur ein. Jedenfalls sagte ich mit großer Festigkeit: »Die Rasierklinge habe ich nicht übergangen, an die habe ich einfach nicht mehr gedacht. Ich habe hier nie eine Rasierklinge gehabt, wozu auch, wenn ich doch keinen Apparat habe …« Vielleicht stellte ich mich zu simpel, vielleicht dachte auch der Arzt, dass der Beschuldigte meist gegen eine ganz falsche Behauptung am schärfsten protestiert. Ich fand jedenfalls, dass schon diese einleitende Besprechung, bei der doch noch gar nicht von meiner Sache die Rede war, voller Fallen und Hinterlisten steckte.
Dem Arzt aber war nicht anzusehen, was er von meinen Worten dachte. Ganz freundlich sagte er: »Jedenfalls haben Sie, wie ich gehört habe, vor noch gar nicht langer Zeit mit Trinken angefangen, da werden die Abstinenzerscheinungen ja gar nicht so heftig gewesen sein. Sie waren ja vorher auch noch in der Untersuchungshaft …«
»Ja«, sagte ich, »und jeden Tag habe ich dort auf dem Holzhof gearbeitet – ich habe mich freiwillig zu dieser Arbeit gemeldet –, und fragen Sie jeden Wachtmeister, ob ich nicht genauso viel wie jeder andere gearbeitet habe, und ich bin doch solche Arbeit eigentlich gar nicht gewöhnt.«
»Sie haben dann aber ziemlich kräftig getrunken?«, fragte mich der Arzt und schien nicht gesonnen, nach der Güte meiner Holzarbeit Erkundigungen einzuziehen. »Man kann wohl sagen: sehr kräftig?«
»Eigentlich nie mehr, als ich vertragen konnte!«, versicherte ich. »Ich habe nie getaumelt, Herr Medizinalrat, und bin nie hingefallen.«
Einen Augenblick musste ich an jene Szene denken, wie ich mich immer wieder unter Elinors Fenster am Dachrand hatte hochziehen wollen und immer wieder rücklings in die Büsche gestürzt war. Und gleich erschien eine zweite Szene vor meinem inneren Auge, die sogar der Medizinalrat selbst beobachtet hatte, wie ich wirklich ziemlich sternhagelvoll mit einigen ebenso betrunkenen Dorfbewohnern randalierend am Schenkentisch gesessen, wie ich beim Hinausgehen fast gefallen war, wie mich Dr. Mansfeld zum Auto hatte führen müssen … ›Das hätte ich nicht behaupten dürfen‹, dachte ich verzweifelt. ›Das war falsch. Das entwertet meine anderen, wirklich absolut wahren Aussagen!‹ Aber ich verbot mir, daran zu denken, ich wollte auch den Medizinalrat hindern, darüber lange nachzudenken, deshalb fuhr ich rasch fort: »Jedenfalls bin ich bei jener Szene mit meiner Frau, die mir zuerst als Mordversuch ausgelegt worden ist, bei klarem Bewusstsein gewesen. Ich wusste genau, was ich tat, und ich tat kein bisschen mehr, als ich tun wollte. Und ich hatte vorher wirklich verhältnismäßig wenig getrunken.«
»Ja, mein Lieber«, sagte der Arzt, plötzlich fast spöttisch lächelnd, »unser beider Ansichten von Wenigtrinken scheinen ein wenig weit voneinander entfernt. Zählen Sie mir doch mal auf, was Sie so im Durchschnitt täglich getrunken haben, soweit Sie sich daran erinnern natürlich.«
Ich dachte an Mordhorst, und wie er meine törichte Wahrheitsliebe getadelt hatte, dass ich vor dem Richter so eingehende Angaben über meinen Schnapsverbrauch gemacht hatte. Ich überlegte, ob der Arzt wohl schon diese Akten zur Einsicht erhalten hatte, und entschied, dass das wohl kaum der Fall war, da noch kein Gutachten von ihm angefordert war. Dennoch beschloss ich, sehr vorsichtig zu sein, nicht zu viel zu schwindeln, doch aber einen möglichst guten Eindruck zu erzielen. Bisher hatte ich keinen großen Erfolg mit meinen Angaben gehabt, das war klar. Alles aber kam darauf an, von Anfang an einen guten Eindruck auf den Arzt zu machen: Hat man bei einem Menschen erst einmal gewonnen, so haben es nachfolgende, selbst ganz ungünstige Nachrichten schwer, diesen ersten guten Eindruck zu erschüttern. So überlegte ich, und so richtete ich auch meine Aussage ein. Fast nie hätte ich mehr als eine Flasche am Tage getrunken, aber meistens weniger … Was ich in der Schenke verzehrt, wüsste ich nicht mehr so genau, weil ich dort aus kleinen Gläsern und auch mancherlei durcheinandergetrunken, für andere mit bezahlt hätte, gab ich an.
Der Arzt hörte meinen etwas weitschweifigen Bericht, das Gesicht in die Hand gestützt, fast schweigend an, nur selten eine kurze Frage einwerfend. Schließlich, als ich nichts mehr zu sagen wusste, sagte er: »Wie gesagt, es ist noch kein Gutachten von mir eingefordert, wir haben uns erst einmal nur ein bisschen unterhalten, um einander kennenzulernen. Machen Sie sich aber von dem Gedanken frei, Sommer« (Sommer! Nicht mehr »Herr« Sommer), »dass Ihre Berichte über das Gewesene Ihr Schicksal in diesem Hause entscheidend beeinflussen können. Über Ihre Zukunft entscheidet allein Ihr Wille, stark zu sein und Versuchungen wie den früheren zu widerstehen …« Er sah mich ernst an.
Ich bin nicht sehr schlagfertig, ja ich bin wohl ein etwas langsamer Denker, so nickte ich eifrig bejahend und meinen Besserungswillen beteuernd. Erst zehn Minuten später, in meinem Bett, wurde mir klar, dass der Arzt mit diesem Satz meine Aussagen eigentlich als Lügen gebrandmarkt hatte – ach nein, nicht nur eigentlich. Natürlich hatte er die Akten schon in der Hand gehabt und dort gelesen, wie ich fast für jeden Tag genaue Angaben über meinen Schnapsverbrauch gemacht hatte, sehr wesentlich höhere Angaben als heute. Aber da war es für den »guten ersten Eindruck« endgültig zu spät.
Jetzt reichte mir der Medizinalrat jedenfalls freundlich die Hand und sagte: »Also, wir sprechen uns wieder. Ich lasse Sie holen. Gute Nacht, Herr Sommer!«
Ich wollte schon gehen, da fragte der Oberpfleger: »Sommer soll doch arbeiten, Herr Medizinalrat?«
»Aber natürlich wird er arbeiten!«, rief der Medizinalrat. »Dann wird ihm die Zeit nicht lang, und das Grübeln vergeht ihm. Sie haben doch selbst den Wunsch, zu arbeiten, Sie eifriger Holzhofsäger!« (Also auch meine Arbeit auf dem Holzhof kannte er bereits, ich musste hundertmal vorsichtiger mit meinen Angaben werden!) Ich versicherte, dass ich keinen sehnlicheren Wunsch hätte. Ich hätte da einen schönen großen Garten vor der Mauer gesehen, vielleicht könnte ich in der Gärtnerei beschäftigt werden? Ich hätte immer so viel Lust zur Gärtnerei gehabt!
Der Medizinalrat und seine rechte Hand sahen einander an und dann mich. Sie lächelten etwas dünn. »Nein, in dieser allerersten Zeit möchten wir Sie besser doch noch nicht ›draußen‹ arbeiten lassen«, sagte der Medizinalrat sanft. »Dazu müssen wir einander erst ein bisschen besser kennenlernen …«
»Ach, Sie denken, ich laufe fort?«, rief ich entrüstet. »Aber, Herr Medizinalrat, wohin sollte ich denn laufen, in dieser Tracht, ohne Geld? Ich käme keine zehn Kilometer weit …«
»Auch zehn Kilometer wären schon zu viel«, unterbrach mich der Arzt. »Nun, Oberpfleger?«
»Ich denke, ich stecke ihn zum Bürstenmachen, da fehlt uns gerade ein Mann. Lexer kann ihn anlernen …«
»Lexer?«, unterbrach ich den Oberpfleger entsetzt. »Ich bitte Sie: bloß nicht Lexer! Wenn mir ein Mensch verhasst ist, so ist es dieses kleine, widerliche, gellende Biest! Alles in mir dreht sich vor Ekel um, wenn ich diese Stimme nur höre … Alles, was Sie wollen, bitte, nur nicht Lexer!«
»Haben Sie auch draußen schon an so heftigen Antipathien gelitten, Sommer?«, fragte der Medizinalrat sanft. »Sie sind kaum vierundzwanzig Stunden in diesem Haus und haben schon einen solchen Hass auf einen ganz harmlosen schwachsinnigen Bengel gefasst.«
Ich war verwirrt, verlegen – schon wieder hatte ich einen Fehler begangen. »Es gibt doch so plötzliche Antipathien, Herr Medizinalrat«, sagte ich. »Man sieht einen Menschen, hört nur seine Stimme, und schon …«
»Ja, ja«, unterbrach er mich und sah plötzlich müde und traurig aus. »Wir reden von alledem noch später. Jetzt gute Nacht, Sommer!«
Es war eine Niederlage, eine schmähliche Niederlage, mit nichts war die Größe dieser Niederlage vor mir zu beschönigen. Ich war als ein Lügner entlarvt, ich hatte Abstinenzerscheinungen und litt an krankhaften plötzlichen Antipathien. Ich dachte vielleicht auch an Flucht. In ohnmächtiger Verzweiflung lag ich in meinem Bett, ich hätte weinen können vor Reue und Scham. So viel vorausbedacht und vorausgesorgt und in jede Falle hineingetappt wie der erste dumme, gehirnlose Junge!
Und es ist ja doch alles gar nicht wahr, was sie von mir denken, rief ich verzweifelt bei mir aus. Ich denke wirklich nicht an Flucht, und ich habe wirklich keine Abstinenzerscheinungen gehabt, oder nur an den allerersten zwei oder drei Tagen, und auch da nur ganz gering.
Und wenn ich den Arzt ein wenig über meinen Alkoholverbrauch angeschwindelt habe, so doch nie in der Absicht, ihn zu täuschen. Er kam mit einer vorgefassten schlechten Meinung von mir hierher, einer Meinung, die den Tatsachen nicht entsprach, es war eine Pflicht der Selbsterhaltung von mir, mit jedem Mittel diese vorgefasste Meinung zu zerstreuen!
Aber ich mochte mir was immer erzählen, die Tatsache blieb, dass ich eine schwere Niederlage erlitten hatte, dass ich in den Augen von Arzt und Oberpfleger wie ein kleiner windiger Spitzbube dastand, der sich mit allen Kniffen und Pfiffen von seiner Schuld freischwindeln will.
›Schuld?!‹, dachte ich. ›Was habe ich denn groß für eine Schuld?! Dies bisschen Bedrohung – Mordhorst hat gesagt, für eine Bedrohung kriegt man höchstens ein Vierteljahr! Das ist gar nichts, das kann man überhaupt nicht rechnen! Sie aber machen einen Riesensumms daraus, sie schleppen mich in Gefängnis und Heilanstalt, sie nehmen mir das »Herr« vor meinem Namen Sommer. Kohlwasser geben sie mir als Fraß, und sie veranstalten Verhöre mit mir, als sei ich ein Muttermörder und der letzte der Menschen! Ich bin gewiss, wenn sie mich nur fünf Minuten mit Magda reden ließen, ich hätte sie überzeugt; gemeinsam träten wir vor diesen lächerlichen Staatsanwalt mit der vorgeschobenen Unterlippe und den starrenden Augen, und dieser Kerl müsste sofort das Verfahren gegen mich einstellen!‹
›Aber‹, dachte ich rasch und qualvoll weiter, ›aber es liegt auch an Magda! Wenn sie ein bisschen von der Liebe und Treue hätte, die Ehegatten doch füreinander haben sollen, sie hätte sich längst zum Besuch bei mir vorgemeldet, sie setzte Himmel und Hölle in Bewegung, um mich aus diesem Totenhaus herauszubekommen! Nichts von alledem! Nicht einmal einen Brief hat sie mir geschrieben. Aber ich weiß, wie es ist: Sie steckt mit den Ärzten unter einer Decke. Die erzählen ihr, ich bin hier gut aufgehoben und habe nichts auszustehen, und das genügt ihr, da macht sie sich keinen einzigen Gedanken mehr über mich. Sie hat ihren Zweck erreicht, walten und schalten kann sie in meinem Eigentum, wie sie will – das ist ihr das Wichtigste!
Aber warte, eines Tages werde ich trotz aller Kniffe und Pfiffe wieder aus diesem Haus herauskommen, und dann sollst du sehen, was ich alles tun werde …‹
Und mit wilder Wut stürzte ich mich in Rachefantasien. Ich verkaufte das Geschäft hinter ihrem Rücken, und wollüstig malte ich mir aus, wie sie eines Morgens auf das Kontor kommen würde, aber auf ihrem – meinem – Platz hinter dem Chefschreibtisch würde der junge Unternehmer von der Konkurrenz sitzen und ihr spöttisch entgegenlächeln: »Nun, Frau Sommer, auch einen kleinen Einkauf in meiner Firma tätigen? Zehn Kilo gelbe Viktoria-Erbsen gefällig? Ein Kilo blauen Mohn für den Sonntagskuchen?« Sie aber würde vor Scham und Zorn und Verzweiflung dunkelrot werden, und ich sah das alles, im großen Registraturschrank versteckt, mit frohlockendem Herzen an.
Oder ich malte mir aus, wie ich nach meiner Entlassung aus diesem Totenhaus in die weite Welt hinauswandern würde, wie ich mich lange Jahre als Bettler und Stromer in fremden Landen herumtreiben und erst spät, für jeden unkenntlich, in meine Vaterstadt heimkehren würde. Da würde ich an der Tür meines eigenen Hauses um ein Stückchen Brot betteln, hart aber würde sie es mir verweigern. In der Nacht dann würde ich mich am Pflaumenbaum vor ihrem Fenster erhängen, einen Zettel in der Tasche, wer ich sei und dass ich ihr alles mir angetane Unrecht verziehe …
Tränen der Rührung über mein unseliges Schicksal traten mir jetzt in die Augen, und diese Fantasien, so kindisch sie auch waren, beruhigten mein Herz doch ein wenig.
Längst schliefen meine Gefährten, die noch bis zum Dunkelwerden miteinander geplaudert hatten, das heißt nur zwei von ihnen, der dritte, ein älterer Mann mit einem schönen traurigen Gesicht und einer wundervoll gewölbten hohen Stirn, hatte sofort die Decke über den Kopf gezogen. Ich beglückwünschte mich zu den ruhigen, anständigen Schlafgenossen; ich merkte es in dieser Nacht: Sie hatten auch einander dazu erzogen, den Kübel nur zum kleinen Geschäft zu benutzen und sich das andere, lästige für den Tag aufzusparen. Ein kleines Gefühl von Dankbarkeit regte sich wieder in mir für den arglistigen Medizinalrat, dass er mir diese so viel bessere Schlafgelegenheit besorgt hatte. Ich war überzeugt davon, dass ich mit den unbescholtensten und gesündesten Menschen im ganzen Bau zusammengelegt worden war.
Es dauerte freilich nur ein paar Tage, bis ich erfuhr, dass der ältere Mann mit der schönen Stirn und dem traurigen Gesicht, der den ungewöhnlichen Namen Qual führte, ein Mörder war, der seinen Vetter wegen Geldes in geradezu bestialischer Weise abgeschlachtet hatte. Jetzt war sein Geist durch all die Qualen, die er erst lange Jahre im Zuchthaus und nun hier in diesem Haus erlitten hatte, völlig verwirrt. Bei ihm war jedenfalls sein Name sein Schicksal, das verriet schon sein Gesicht.
Tagelang war er ganz stumm, und dann hatte er wieder Zeiten, in denen er mit heiterer, hoher Stimme (und doch immer fast tonlos, ganz ohne Resonanz) vieles erzählte: vom ausdörrenden Sonnengott, vom Glashaus auf dem Montblanc, in dem die nächste Eiszeit zu verbringen war, und von den Kastanien und Eicheln, die durch eine von ihm erdachte »Säfteumkehrung« essbar werden würden. Dadurch würde unsere Anstaltsverwaltung in die Lage versetzt werden, uns mit besserer Kost und doch ganz umsonst zu ernähren. (Wie bei uns allen, kreisten auch bei Qual die Gedanken wohl verwirrt, doch unablässig um das bisschen Fressen.)
Zu anderen Zeiten war Qual wieder stumm oder streitbar und reizsüchtig, dann gingen ihm alle weit aus dem Wege. Er stand in dem – vielleicht ganz unbegründeten – Ruf, ein »kalter Mörder« zu sein, um ein einziges Wort würde er jeden Menschen umbringen. Ich glaube, dass dieser Ruf ganz unbegründet war; ich habe jedenfalls kein einziges Mal erlebt, dass er die Hand gegen einen anderen erhoben hätte.
Qual hatte einen wirklich großen Kummer: dass er seiner Ansicht nach nicht richtig Deutsch sprechen und schreiben konnte. Oft versicherte er mir, er würde all sein Essen von einer ganzen Woche für das Buch »Lies und schreib richtig Deutsch« hingeben. Dabei sprach er ein sehr viel besseres und gewählteres Deutsch als fast alle anderen Insassen im Bau, seine flüsternde und dabei doch heitere Sprechweise vermochte seinen Worten sogar eine Art von Charme zu verleihen.
Wenn ich, für den er eine gewisse Vorliebe gefasst hatte, ihm das zur Beruhigung seines Kummers versicherte, so sagte er lächelnd: »Nein, nein, ich weiß, was ich weiß. Und dabei hätte ich so gut Deutsch lernen können, ›uns’ Mudding‹ sprach ein so reines und schönes Deutsch, aber nie mit mir. Mit mir musste sie immer taltschen und albern, sie verdrehte jedes Wort auf die kindischste Weise. Das war sehr unrecht von ›uns’ Mudding‹; es hat mir im Leben viel geschadet, dass ich kein gutes Deutsch sprach. Sie hätten mich auch nie festnehmen können, wenn ich richtig Deutsch gesprochen hätte – wie konnten sie mich überhaupt festnehmen? Wer gab ihnen das Recht dazu?«
Die letzten Worte hatte er schon fast unhörbar zu sich selbst gesprochen, und nun hatte sich sein kranker Geist wieder in dem krausen Gespinst seiner wirren Gedanken verloren; von meiner Gegenwart wusste er nichts mehr.
Aber mit »uns’ Mudding« hatte es Qual oft, immer hatte er dann etwas an ihr auszusetzen: dass sie alles wegschenkte, dass sie sich nie Ruhe gönnte, dass sie überhaupt viel zu gut war. Aber alle diese Ausstellungen machte er mit einem so heiteren, leichten Ton, dass man gerade aus ihnen die Liebe des alternden Mannes zu der längst gestorbenen Mudding spürte; er sprach mit einer fröhlichen Überlegenheit von ihr und blieb dabei doch immer der gehorsame Sohn einer guten Mutter.
Qual war der Sohn eines Schlossermeisters in einer kleinen holsteinischen Stadt. Kurz vor dem Tode des Vaters hatte er, damals schon als Geselle in ihr arbeitend, die Schlosserei übernommen und als Meister weiter betrieben. Was ihn zu seiner bestialischen Tat getrieben, weiß ich nicht. Das alles lag schon zwei Jahrzehnte zurück, seitdem lebte Qual in festen Häusern. Auch bei uns arbeitete er in der Anstaltsschlosserei und genoss sogar eine gewisse Freiheit. Nie sagte ihm ein Beamter ein Wort, er verlangte allerdings auch nie etwas, war mit allem zufrieden.
Ich sehe ihn, da ich dies schreibe, wieder auf seinem Bett liegen, wie er es in jeder freien Minute tat – trotz des Verbots. Niemand sagte ihm deswegen auch etwas, vielleicht weil seine hinfällige Schwäche so sichtbar war. Neben dem Bett stehen seine Pantoffeln, er hat die Knie leicht angezogen und stützt den Kopf mit der schön gewölbten Stirn in die Hand. Manchmal sagte er dann langsam, in tiefe Gedanken verloren, vor sich hin: »Ich bekam ja keinen einzigen Auftrag mehr, und Not kennt kein Gebot …«
Vielleicht war wirklich Not der Schlüssel zu seiner Tat. Wie dem auch sei, ich habe den Mörder Qual gerne gemocht. Es hat mir wehgetan, als sie ihn eines Tages in den Anbau trugen, in die Sterbezelle, in der die meisten von uns ihr Leben beschließen werden. Er starb an der Tuberkulose, der Todesgeißel dieses Totenhauses.