Ich bin den Ereignissen weit vorausgeeilt. Noch stehe ich am ersten Tage meines Anstaltsaufenthaltes, habe meine Pellkartoffeln noch ganz vornehm ohne Schalen in mich hineingegessen und bin nun todmüde nach der durchwachten Nacht. Ich wende mich an den Oberpfleger und bitte ihn, mich eine Stunde auf mein Bett legen zu dürfen, ich hätte die ganze Nacht nicht schlafen können.
»Das ist verboten!«, sagt der Oberpfleger streng. Dann aber milder: »Also legen Sie sich hin. Aber ziehen Sie sich aus und legen sich richtig ins Bett.«
Ich tue es, und kaum liege ich, habe die Augen geschlossen, so erklingt schon die verhasste gellende Stimme. »Willst du Schwein wohl machen, dass du sofort aus dem Bett kommst! Das möchtest du Speckjäger, nichts tun, wenn wir für dich arbeiten müssen. Marsch, raus aus der Falle!«
Er hatte mich aufgestöbert, der immer wache Spürhund. Aber ich bin jetzt auch wütend, mein Hass gibt mir die Kraft zum Protest. »Hältst du sofort das Maul!«, schreie ich wütend. »Du bist wohl mehr als der Oberpfleger? Der hat’s mir erlaubt, und du Schwein …«
»Hat er’s dir erlaubt, hat er’s dir wirklich erlaubt?« geifert er grinsend und entblößt seine verfärbten Hauer. »Na, du musst ja was mächtig Feines sein, dass der Oberpfleger solche Ausnahmen für dich macht! Nimm’s nicht übel, Kumpel, ich bin hier, damit Ordnung ist auf der Station, sonst scheißt mich der Oberpfleger an!« Damit verschwindet er, und ich lege mich zurück, ganz zufrieden, dass ich endlich ihn einmal hereingelegt habe.
Ich bin wirklich eingeschlafen, aber nur für wenige Minuten, dann weckte mich etwas. Es war wohl kein Geräusch, das mich weckte, sondern eher ein Instinkt, der mich Gefahr wittern ließ: Ich bildete in diesem Haus den Instinkt eines gejagten Wildes aus.
Ich liege auf der Seite und sehe gerade auf den Schemel vor meinem Bett, auf den ich meine Kleider gelegt habe. Ich blinzele und sehe etwas Weißes, das sich mit diesen Kleidern zu schaffen macht. Es ist schon wieder der Lexer, ganz behutsam, unendlich leise nimmt er ein Kleidungsstück von mir nach dem anderen zur Hand, fährt in die Taschen, fühlt die Nähte ab …
Mein erster Impuls ist, aufzuspringen und mich auf diesen Teufel zu stürzen, diesen nimmer ruhenden Quälgeist. Aber ich besinne mich, ich bleibe ruhig liegen, ich beobachte sein Tun. Lass ihn suchen! Ich grinse. Ich habe nicht das Allergeringste in den Taschen, was seine Begehrlichkeit reizen könnte. Nicht das Allergeringste? Mir stockt das Herz, und wieder möchte ich aufspringen und ihm die Rasierklinge entreißen, die er nun doch gefunden hat, so gut ich sie auch in eine alte Zeitung eingewickelt habe. Er wirft einen Blick auf mich. Ich drücke die Augen zu, ich schlafe. Dann, als ich wieder blinzele, sehe ich, dass er die Klinge wieder in die Zeitung wickelt und in meine Tasche zurücksteckt. Dann ist er fort.
Ich aber habe die Gefahr begriffen, springe mit einem Satz aus dem Bett, suche die Klinge hervor und eile mit ihr auf das Klo. Ein Zug an der Spülung, und die Klinge ist unauffindbar verschwunden, diese kostbare Klinge, die mir den Weg in die Freiheit öffnen sollte, wenn alles andere versagte. Eine Minute später liege ich wieder im Bett. Nicht viel zu früh, gar nicht viel zu früh! Denn da steht schon der Oberpfleger an meinem Bett und legt die Hand auf meine Schulter. »Wachen Sie auf, Sommer!«
Ich erwache, ich hoffe, gerade richtig, nicht zu leicht, nicht zu schwer.
»Stehen Sie auf, Sommer!«
Ich tue es und stehe nun im Hemd vor ihm.
»Sommer, haben Sie noch etwas Verbotenes in Ihren Taschen?«
»Nein, Herr Oberpfleger!«
»Sie wissen doch, dass alles Schneidende in diesem Hause streng verboten ist, zum Beispiel Taschenmesser, Rasierklingen, auch Nagelfeilen! Das wissen Sie doch?«
»Jawohl, Herr Oberpfleger, das hat mir einer gesagt.«
»Und Sie haben nichts Verbotenes in den Taschen?«
»Nein, Herr Oberpfleger.«
Eine kurze Pause. Dann: »Sommer, ich warne Sie noch im Guten! Gestehen Sie, und ich will ein Auge zudrücken. Sonst stecke ich Sie nach diesem ersten Tag für vier Wochen in Arrest!«
»Ich habe nichts zu gestehen, Herr Oberpfleger!«
»Schön. Dann drehen Sie mal Ihre Taschen um.«
Ich tue es, fange mit der Jacke an, die bewusste Hosentasche spare ich mir bis zuletzt auf.
»Machen Sie die Zeitung auseinander, Sommer!«
Ich tue es. Nichts, wirklich nichts.
Der Oberpfleger steht einen Augenblick nachdenkend, dann nimmt er meine Kleidungsstücke, eines nach dem anderen, selbst unter Kontrolle, aber wieder nichts. »Ziehen Sie sich an, Sommer.«
Ich tue es.
»So, und nun schicken Sie mir den Lexer her, Sie selbst bleiben bis zur Freistunde im Tagesraum.«
»Jawohl, Herr Oberpfleger!«
Ich habe ihnen eine bildschöne Arbeit gemacht; unter der Aufsicht des Oberpflegers haben sämtliche Kalfaktoren die ganze Zelle Stück für Stück umgedreht und durchsucht. Mancherlei fanden sie, aber keine Rasierklinge. Zum Schluss beschimpften sie den Lexer, sie vermuteten irgendeinen idiotischen, sinnlosen Schelmenstreich von ihm. Aber Lexer zumindest hat’s gewusst, dass ich tatsächlich eine Rasierklinge gehabt hatte. Ich hatte ihn reingelegt. Und seltsam, obgleich ihn alle, vom Oberpfleger an, beschimpften, hatte er jetzt keine Wut auf mich. Ich hatte ihn reingelegt, das imponierte ihm. Von da an band er nie wieder direkt mit mir an, wenn er auch das Stänkern nie ganz lassen konnte.
Der Nachmittag war endlos. Die einzige kleine Abwechslung war, dass wir zur »Freistunde« nach draußen geführt wurden, für zwei Stunden, von zwei Uhr bis vier Uhr nachmittags. »Draußen« war ein kleiner Grasgarten innerhalb der hohen Gefängnismauern, vielleicht vierhundert Quadratmeter groß, wo ein einziger schmaler Weg, gerade für zwei Menschen breit genug, um einen Grasfleck lief. Die Sonne schien, es war ein schöner Sommertag. Aber was die Sonne beschien, war nicht schön.
Ich rede jetzt nicht von der Umgebung, rote, nackte oder mit totem, grauem Zement bekleidete, stachelbewehrte, hohe Mauern, die Gitter an den Fenstern, die blinden Scheiben – all das kann schon allein für sich den schönsten Sommersonnentag seines Glanzes berauben. Der blaue Himmel ist nicht für dich, Gefangener, so blau; die Sonne, Gefangener, die doch deine Haut wärmt, scheint nicht für dich. Dir fehlt die Weite der Landschaft, nur zu Gaste bist du bei Himmel, frischer Luft und Sonne, deine Minuten sind gezählt, Gefangener. Deine Welt ist das trübe, düster hallende, tote Haus, in dem nie ein befreites Lachen klingt, fremd wurdest du der Sonne, Gefangener.
Aber das alles meine ich hier nicht. Ich meine die Kameraden, die Leidensgefährten, die nun, der Dämmernis entrissen, in ihren entfärbten Lumpen an der Wand lehnen, auf einer Bank hocken, und in Holzpantoffeln oder barfuß den Sandweg entlangschurren. Wie das unbarmherzige Sonnenlicht diese Gesichter entschleiert, die nur noch wie ferne, versunkene Erinnerungen anmuten, Wehe und Trauer, Tier und irre Verzweiflung!
Ich schließe die Augen, und ich sehe sie da wieder stehen, hocken, schlurren, wie ich sie hundertmal gesehen habe und vielleicht noch tausendmal sehen werde.
Da ist ein langer, schlottriger Mann, sein kurz geschorener, eisengrauer Kopf ist dicht mit blutigroten oder eiternden Schweinsbeulen, wie man in diesem Hause die Furunkel nennt, bedeckt, sein stoppliges Gesicht ist hart und kantig, und seine dunklen, tief liegenden Augen sind völlig ohne Licht.
Ununterbrochen murmelt dieser Rheinländer, der wohl einst ein Straßenhändler war, vor sich hin: »Zwei Zentner Kanalstraße 20, einen Zentner Meier, Triftstraße 10, Gewerbepolizei, Gewerbepolizei …« Er hebt die Stimme, er sieht zu den blinden Gitterfenstern empor, auf Bestellungen wartend: »Pflanzkartoffeln, Pflanzkartoffeln, kauft Pflanzkartoffeln!« Keine Bestellungen kommen, er schüttelt verzweifelt den hässlichen Kopf und beginnt von Neuem: »Zwei Zentner Kanalstraße 20, einen Zentner …«
Fragt man ihn aber, wie viel wohl die Uhr ist, so sieht er nach dem Sonnenstand und gibt dir ganz vernünftig und annähernd richtig Auskunft, beginnt aber mit dem letzten Wort der Auskunft seine ewige Litanei von vorne. »Pflanzkartoffeln, Pflanzkartoffeln, kauft Pflanzkartoffeln!« Wie mir das noch in den Ohren klingt!
Und da ist jener andere, den ich schon kurz erwähnt habe, der Stimmen hörende Schizophrene, dessen armen, traurigen Kopf der Bluthund Lexer so unbarmherzig gegen das Eisengitter schlug – er schlurft auf Pantoffeln, deren ganzes hinteres Ende fehlt, rundum, rundum. Plötzlich aber bleibt er stehen, er hebt den Arm, er droht gegen Himmel, Mauern und Gitter, aber er sieht Himmel, Mauern und Gitter nicht, er sieht einen unsichtbaren Feind, den er nun in der unflätigsten Weise beschimpft.
Er ist der einzige Sachse unter uns, und seine Schimpfereien erfolgen in einem so unverfälschten Sächsisch, dass die paar, die noch ein Fünkchen Verstand haben, lächeln. Aber es ist eigentlich gar nichts zu lächeln, wenn dieser verlorene Sohn aus gutem Hause den unsichtbaren Feind beschimpft, dass er ihn hindert, den Eltern selbst alles zu erklären. Warum schiebt er sich immer dazwischen, was soll diese »ewje Menkenke«? Kann der Sohn den Eltern nicht selbst alles am besten erklären?
Ich habe es doch gesagt, oder man hat es doch verstanden, falls ich es nicht gesagt haben sollte, dass in diesem dunklen Haus nur Kranke untergebracht sind, die sich einmal kriminell vergangen haben? Hier gibt es Mörder, Diebe, Sittlichkeitsverbrecher, Urkundenfälscher, religiös Wahnsinnige. Die meisten von ihnen verbüßten erst eine längere oder kürzere Strafe, ehe sie hierherkamen. Sie glaubten, nach der Strafe in die Freiheit zurückkehren zu können, und man brachte sie in dieses Krankenhaus mit Strafanstaltscharakter, wie unser Oberpfleger so schön sagt. Ihre Zurechnungsfähigkeit war vermindert, es fehlten ihnen die notwendigen Hemmungen, sie waren eine Gefahr für die Gemeinschaft: Die Pforten der »Heil«-Anstalt schlossen sich hinter ihnen für immer.
Der Arzt hat es mir später einmal selbst gesagt, dass von den sechsundfünfzig Männern auf meiner Station noch keine sechs die Aussicht hatten, je wieder in das Leben da draußen zurückzukehren. Und wir hatten zwanzig-, wir hatten siebzehn- und sechzehnjährige Jungen unter uns – für ein ganzes Leben!
Auch dieser schizophrene Sachse aus gutem Hause hatte wohl einmal eine Straftat begangen, die ihn von seinen Eltern trennte. Vielleicht war er nur unbesonnen gewesen, jedenfalls war er weich – er hatte zu den Eltern eilen, ihnen alles erklären wollen. Da war er schon verhaftet. Und die Jahre vergingen, eines nach dem anderen, viele, und immer noch waren die Eisengitter zwischen ihm und den Eltern, zwischen seiner Schuld und der herzbefreienden Aussprache. Er warf sich gegen sie, er achtete es für nichts, dass ein gemeiner Hund sein Gesicht blutig schlug, er kämpfte Tag für Tag mit dem uns unsichtbaren Feind, immer vergebens, und Tag für Tag nahm er von Neuem den Kampf auf.
Auch mit ihm konnte man zwischendurch ein vernünftiges Wort über die primitiven Dinge des Lebens reden, wie die Suppe geschmeckt hatte, und wo der Handfeger lag. Er leistete sogar ein bisschen Arbeit; wie schon gesagt, fegte er das Treppenhaus. Übrigens war dieser Sachse Lachs derjenige, der die meisten Fresspakete von Haus empfing; nur merkte er leider nicht mehr, was er aß, ganz gleich, was der Oberpfleger ihm in die Hand gab.
Ein dritter, viel redender Mann war ein drahtiger Kranker mit scharf geschnittenem Gesicht und einer schmalrückigen Adlernase: Er sah aus wie ein weißhäutiger Araber. Er litt unter dem Wahn, eine damals sehr hochgestellte politische Persönlichkeit eines Nachbarvolkes zu sein, die wegen ihrer Unbedenklichkeit, ja geradezu wegen ihrer Mordlust einen schlechten Ruf genoss. Dieser Kranke ging immer allein im Kreis rundum, oder er lehnte auch gegen den Zaun, der unser kleines Grasviereck von dem großen Gefängnishof abschloss. Wenn er da so lehnte, machte er ganz den Eindruck, als habe er da von eh und je gestanden; seine gebleichten, entfärbten Kleider verschmolzen im Sonnenlicht, und sichtbar blieb nur dieser einst kühn gewesene Araberkopf, der immerzu lachte und redete, lachte und redete.
Das meiste, was er listig, mit einem sardonischen Kichern, vor sich hin schwätzte, ist nicht wiederzugeben; er erging sich in langen Ausmalungen, wie er seinen Feinden, weiblich oder männlich, die Geschlechtsteile abschnitt, auf die verschiedensten Arten (die genau ausgemalt wurden) zubereitete und aß. Manchmal aber erging er sich auch in Ausführungen wie diesen: »Es ist logisch, dass man zuerst in Landsberg an der Warthe die Prüfung bestanden haben muss, wenn man in England Feldmarschall werden will. Anders geht es natürlich nicht. Man trägt rechts einen roten, links einen blauen Lackstiefel …«
Er wandte sich um und kicherte mich, selbst höchst belustigt, an. Und fuhr fort, war sofort im Gange, schoss die Franzosen mit Maschinengewehren zusammen, und machte im selben Atem Anmerkungen über die maßlosen Schweinereien der Tungusen-Jungfrauen.1 Sein Hirn war ununterbrochen beschäftigt, das Unvereinbarste zu vereinen, gewissermaßen reihte er Ketten auf, bei denen eine alte Schuhwichsdose neben einem Straußenfederfächer hing. Mit diesem Mann war kein vernünftiges Wort zu reden, er hörte gar nicht darauf, wenn man ihn ansprach, sondern redete ruhig fort oder schwieg auch.
Ein Mitgefangener erzählte mir, dass dieser »Araber«, Schniemann mit Namen, früher viel vernünftiger und auch noch zu richtiger Arbeit fähig gewesen sei. Er war mit den anderen Außenarbeitern in die Stadt auf eine Fabrik arbeiten gegangen. Dort hatte er einen Fluchtversuch gemacht, war aber wieder eingefangen worden. Da er sich mit einer fast tierischen Verzweiflung gegen seine erneute Festnahme wehrte, war ein heftiges Getümmel um ihn entstanden; dabei hatte einer auf seinen Arm getreten, und der Arm brach. Als er aus dem Krankenhaus zurückkehrte, war er so verwirrt wie jetzt; den Arm, der schlecht geheilt war, benutzte er nicht mehr, ständig hielt er die Hand dieses Arms in der Tasche. Auch dies gab seiner traurigen Gestalt eine unvergessliche, charakteristische Note.
1 Angehöriger eines sibirischen Volksstammes <<<
Diese drei Gestalten, deren man übrigens rasch müde wurde, da sie sich nie veränderten, nie etwas Neues bei ihrem Gerede hinzukam, waren aber auch die Einzigen, die in der Freistunde sprachen, alle anderen, an die zwanzig Mann, waren stumm, dösten vor sich hin oder gingen in einem finsteren Schweigen herum. Sie erschienen mir immer wie eine graue, farblose Masse, aus der sich nichts abzeichnete. Wohl waren sie nach Herkunft, Alter, Aussehen verschieden genug, ich kannte alle ihre so verschiedenen Gesichter, aber da sie nie eine Meinungsäußerung von sich gaben, da ich nie irgendetwas Persönliches von ihnen erfuhr, nicht ahnte, was sie freute und betrübte, da ich sie ständig in einem mürrischen und gleichgültigen Schweigen dahinvegetieren sah, da es keinerlei »Sonderzüge« an ihnen zu beobachten gab, tat ich sie in die Sparte des Gleichgültigen und Indifferenten, von dem ich auch nichts berichten kann.
Eine Ausnahme hiervon machte allein ein Epileptiker, ein älterer Mann, mit dem ich gleich in den ersten Tagen einen Zusammenstoß hatte, der immer mein Feind geblieben ist, denn er war im höchsten Grade reizbar und dann als hemmungsloser Schläger berüchtigt, dem es auch auf einen Mord nicht angekommen wäre.
Da ich nicht zu den Außenarbeitern eingeteilt worden war, brauchte ich nicht zehn Minuten vor sieben Uhr morgens auf dem Hof anzutreten, und ich benutzte die Zwischenzeit bis zum Beginn meiner Arbeit, um mich im Waschraum ein zweites Mal und etwas gründlicher zu waschen. Am frühen Morgen, wenn an fünf Waschbecken in noch nicht zwanzig Minuten sich sechsundfünfzig Gefangene reinigen sollten, war an irgendwelche gründliche Reinigung kein Gedanke. Man hielt den Kopf unter den laufenden Wasserhahn, spülte die Hände ab, und fertig war die Wäsche für den Tag!
Den meisten Mitgefangenen genügte diese flüchtige Reinigung auch vollkommen, Seife spielte dabei nur eine geringe Rolle, Zahnbürsten besaßen nur zwei oder drei. Einmal in acht Wochen wurde die ganze Station unter ein sehr primitives Brausebad geführt und warm abgeduscht, es gab aber viele, die sich mit List auch dieser seltenen gründlicheren Reinigung zu entziehen wussten. Was mich angeht, so konnte ich mich noch nicht sofort von den Gewohnheiten eines vierzigjährigen Lebens trennen (später wurde ich auch gleichgültiger).
Wie schon gesagt, hielt ich eine zweite, gründlichere Waschung nach dem Frühstück ab, wenn die Station durch den Auszug der Außenarbeiter ruhiger geworden war. Um diese Zeit fegte der epileptische ältere Mann unsere Zelle, und wenn ich vom Waschen zurückkam, fegte er sie noch immer, denn das ging nur langsam bei ihm, wenn auch nicht gründlich. Er sah es wohl schon mit scheelen Augen an, wenn ich mich an das Fenster stellte und meine Nägel in Ordnung brachte, ich achtete aber auf den stummen Besengeist damals noch gar nicht. War ich fertig zum Fortgehen zu meiner Arbeit, so war auch er schon meist aus der Zelle verschwunden.
Nun geschah es, dass ich beim etwas eiligen Verlassen der Zelle die nach außen gehende Tür etwas heftig aufstieß und sie dem draußen fegenden Alten gerade an den Kopf schlug. Ich entschuldigte mich lebhaft und mit aufrichtigem Bedauern; er murrte finster vor sich hin. Zwei oder drei Tage später drückte ich die Tür zwar, vorsichtiger geworden, nur sachte auf, aber sie traf doch wieder den Kopf des direkt vor ihr Fegenden! Eine Flut von Schimpfwörtern, unter denen »Idiot« noch das geringste war, ergoss sich über mich. Umsonst meine Entschuldigungen und Beteuerungen, vorsichtig gewesen zu sein – kaum entging ich Schlägen.
So kann sich auch der Friedfertigste Feinde machen, und dieser Epileptiker blieb wirklich dauernd mein Feind, obgleich ich meine Waschzeit, um allen weiteren Zusammenstößen zu entgehen, verlegte. Immer folgte er jedem Schritt von mir mit finsteren, argwöhnischen Blicken, und nur meiner äußersten Behutsamkeit ist es zu danken, dass ein neuer Zusammenstoß zwischen uns bisher ausgeblieben ist. An einer abgebissenen Nase habe ich schließlich genug!