Ich wurde vom Oberpfleger eingekleidet, ich bekam eine braune Jacke und eine gestreifte Hose aus Tuch, dazu Lederpantoffeln. Die Sachen, die ich bekam, waren neu, ich wurde vom Oberpfleger mit Auszeichnung behandelt. Aber vielleicht wäre es besser gewesen, er hätte mir alte Lumpen wie den anderen gegeben; sie sahen es ja, dass ich neues Zeug trug, das bestärkte sie in ihrer Abneigung gegen mich. »Der will was Besseres sein, der Speckjäger!«, sagten sie und warfen böse Blicke auf mich.
Übrigens tat ich etwas Seltsames bei diesem Einkleiden. Ich durfte aus meinem Koffer Seife und Zahnbürste nehmen, und dabei gelang es mir, in einem unbewachten Augenblick eine Rasierklinge zu stehlen. Ich hatte das schon einmal getan, aber damals war ich noch schlapp und feige gewesen, ich hatte noch nicht geahnt, welch Unheil mir alles noch bevorstand. Jetzt würde ich anders handeln, ohne Angst vor Schmerzen würde ich zuschneiden. Nein, noch nicht jetzt, meine Tat, diese heimliche Fortnahme einer Rasierklinge, war mir selbst überraschend gekommen. Noch nicht jetzt – erst würde ich noch kämpfen. Sollte aber mein Kampf erfolglos ausgehen … Nun gut, wenn ich meinen Termin gehabt habe und meine dauernde Überführung in diese Heilanstalt angeordnet wird, dann, ja, dann … In dieser Hölle werde ich mein Leben nicht verbringen, soviel ist gewiss.
Ich habe zum ersten Mal mein Frühstück mit meinen Leidensgefährten genommen, morgens um halb sieben, im Licht der Frühsonne sahen diese Gesichter völlig trostlos aus. Rohe Gesichter, tierische Gesichter, stumpfe Gesichter. Überentwickelte Kinne, oder sie fehlten ganz. Schielende Menschen, bucklige Menschen, verkümmerte Menschen. So fahl und düster wie ihre verschlissene Tracht. Der Oberpfleger hat mir einen Platz am letzten Tisch, ganz hinten an der Wand, angewiesen. Das ist gut, ich kann alle sehen und beobachten und sitze ganz ungestört.
Vom Kalfaktor habe ich mir einen Becher mit heißer Zichorienbrühe geholt, und der Oberpfleger hat mir drei dicke Scheiben Brot gegeben, zwei sind mit Margarine beschmiert, eine mit Marmelade. Ich esse sie langsam und mit großem Appetit, ich kaue sie gründlich, wer weiß, was es heute zum Mittagessen gibt. Das Kohlwasser hat mich sehr erschreckt. Manche bekommen mehr Brot, sie bekommen auch »Belag« drauf; der Belag besteht aus Schnittlauch oder Zwiebeln oder Quark. Das sind, wie ich erfahre, die Außenarbeiter, sie müssen den ganzen Tag schwer arbeiten, darum bekommen sie auch so wertvolle Zulage!
Kurz nach dem Frühstück ertönt der Ruf: »Antreten!«, und alle, die arbeiten, treten an, werden von einem Wachtmeister durch die Gittertür hinausgelassen, und zurück bleiben nur die Hausarbeiter, Kalfaktoren genannt, die Kranken und ich. Es gibt viele Kranke …
Ich stehe dann am Fenster und sehe zu, wie die Leute aus allen Häusern auf dem Hof antreten. Es sind viele, viele Leute, links steht auch eine Kolonne Weiber. Viele Uniformen, die diese Kranken bewachen, bei der Arbeit beaufsichtigen, antreiben, jede Flucht vereiteln werden. Und dann wird der Hof leer. Ein weißberockter, dicker Mann, der Herr Oberinspektor, teilte sie zur Arbeit ein, manche rückten mit Sensen ab, andere mit Hacken, viele gingen in die Fabrik.
Nun gehe ich mit Hielscher den Gang auf und ab, auf und ab. Hielscher ist ein kleiner Buckliger, der mit einer sanften, sehr deutlichen Stimme ein gepflegtes Deutsch spricht. Hielscher nennt mich »Herr Sommer« und »Sie«; das tut mir gut. Er erzählt mir vieles in seiner sanften, deutlichen Sprache von diesem Hause und seinen Insassen. Sonst schält er Kartoffeln, seit sechs Jahren schält er Kartoffeln, seit elf Jahren ist er in diesem Haus.
»Ich bin Sittlichkeitsverbrecher«, sagt er sanft und gewählt zu mir. »Der Medizinalrat hat mir ein Gutachten abgenommen. Ich habe angeborenen Schwachsinn bekommen und dann mangelnde Hemmungen und stark verminderte Zurechnungsfähigkeit. Und dann habe ich einen Buckel, das sieht man natürlich, und hinken tue ich auch. Ist das schlimm, Herr Sommer?«
Ich bin ganz überrascht von dieser Frage. »Schlimm?«, frage ich verwirrt. »Wieso meinen Sie schlimm?«
»Nun, ob es eine schlimme Krankheit ist, oder ist es leicht, Herr Sommer?« Und er sieht mich mit seinen lebhaften und doch traurigen Augen an.
»Nein, das ist wohl nicht so schlimm.«
»Das denke ich auch«, sagt Hielscher. »Sicher lassen sie mich bald frei. Haben Sie wohl ein bisschen Tabak für mich, Herr Sommer?«
Ich sagte dem Hielscher, dass ich selbst Sehnsucht nach Tabak hätte, ihm also leider keinen geben könne. Darauf erlosch Hielschers Interesse an mir rapide, er verließ mich, und ich wanderte den Gang allein auf und ab.
Dieser Vormittag war endlos. Ich marschierte und marschierte, aber der Zeiger der Uhr rückte nicht voran. Manchmal sah ich in einen der beiden Tagesräume, aber die dort tatenlos sitzenden, vor sich hindösenden Gestalten, diese Wracks, stießen mich ab.
Geschäftig mit Besen und Eimern waren nur die Kalfaktoren, wie in allen Gefängnissen ja, jene einigermaßen gut und sauber aussehenden Menschen, geschickt und bedenkenlos, vor den Beamten kriechend, jede Kleinigkeit von ihren Mitgefangenen hinterbringend, bestechlich und roh gegen ihre Kameraden. Ich sah sie von Zelle zu Zelle gehen, vorgeblich aufräumend, in der Hauptsache aber die Betten nach einer versteckten Scheibe Brot oder einer Pfeife Tabak durchsuchend.
Es bestärkte mir meine Antipathie, als ich sah, dass der so verhasste Lexer auch eine Art Kalfaktor war, ein Hilfskalfaktor, der wohl die längste Zeit des Tages drüben in einer der Arbeitszellen des Anbaus beim Bürstenmachen steckte, der sich aber immer wieder ein Gewerbe auf der Station zu machen wusste.
Das Treppenhaus reinigte ein Mann in mittleren Jahren mit einem einst klugen, jetzt verwirrten und hoffnungslos traurigen Gesicht; von Zeit zu Zeit unterbrach er seine Fegerei, riss ein Fenster auf und schrie durch die Gitterstäbe unflätige Schimpfereien gegen imaginäre Personen hinaus.
Ich beobachtete den Lexer, wie er sich an den Scheltenden heranschlich, ihn von hinten ansprang und mit dem Kopf immer wieder gegen die Eisentraljen schlug. Gellend schrie er dabei: »Sollst du nicht arbeiten, du Lump? Musst du immer schreien? Fressen willst du, aber deine Arbeit tust du nicht! Warte nur, du!« Und er schlug von Neuem.
Ich wäre dem Verwirrten gerne zu Hilfe gekommen, aber das Eisengitter zum Treppenhaus war verschlossen, und ich hatte mir zudem in der letzten Nacht fest vorgenommen, mich in keine der Streitigkeiten hier zu mischen und vollkommen neutral zu bleiben. Je unauffälliger ich lebte, um so günstiger musste mich der Arzt beurteilen. Außerdem hatte ich vor diesem Lexer Angst. Ich hatte auch alle Ursache dazu.
Ich habe diesen Mann oder vielmehr Bengel – er war erst Mitte der Zwanziger und weit in der Entwicklung zurückgeblieben – lange mit den immer wachsamen Augen des Hasses beobachtet. Er war der geborene Bluthund. Sein Schönstes war es, die Mitgefangenen zu quälen, immer kniff er an ihnen herum, schubste sie umher, schlug sie, verklatschte sie beim Oberpfleger. Nichts war ihm zu gering. Brachte ein Gefangener von seinem Spaziergang ein heimlich ergattertes Zwiebelchen heim – entweder Lexer jagte es ihm ab oder zeigte den Kumpel beim Oberpfleger wegen Diebstahls an. Und da die Zwiebel wirklich gestohlen war, freilich nur aus dem Anstaltsgarten, so musste der Dieb für vierzehn Tage in Arrest. Schwächere lockte Lexer in stille Ecken und schlug sie so lange, bis sie ihren Tabak, oder was ihm sonst von ihren Besitztümern begehrenswert erschien, herausgaben. Bei Stärkeren versuchte er es mit List, täuschte sie mit großen Versprechungen von Brot und hielt nie etwas.
Bei den Beamten aber war Lexer gar nicht unbeliebt. Er spielte da eine Hausnarrenrolle, sein freches, gelles Mundwerk hatte immer einen schlagfertigen Witz bereit, meist auf Kosten eines Mitgefangenen, er verrichtete jeden Dienst für die Beamten rasch, geschickt und willig und ließ sich, bei irgendeiner Gemeinheit erwischt, mit komisch jammernder Miene durchprügeln. »Man kann dem Schweinehund nicht böse sein«, sagten die Wachtmeister und duldeten ihn und seine schamlose Tyrannei über die anderen Gefangenen weiter. Vor allem war er ihnen wohl nützlich, sie erfuhren durch ihn alles, was im Bau vorging.
Lexer war schon mit sechs Jahren in ein Waisenhaus gekommen, und von da an hatte er immer nur wenige Wochen oder Monate in der Freiheit zugebracht, immer wieder war er in die festen Häuser des Staates zurückgekehrt: in die Fürsorgeerziehung, ins Jugendgefängnis, ins Gefängnis. Schließlich hatte man ihn als unverbesserlich in dieser Heil- und Pflegeanstalt untergebracht, und zwar, wie er sehr wohl wusste, auf Lebenszeit. Aber das störte ihn gar nicht. Er fühlte sich in diesem Haus, das mir eine Hölle dünkte, sauwohl. Hier kam er sich so recht in seinem Element vor. Hier konnte er jeder Gemeinheit freien Lauf lassen. Er spielte den Hilfskalfaktor, den Hilfswachtmeister, den Oberteufel. Hier schlug er einen Geistesschwachen, einen Schizophrenen, mit dem Kopf gegen die Gitterstäbe und erwartete womöglich noch ein Lob, dass er die Leute so stramm zur Arbeit anhielt.
Auch ein endloser Vormittag nimmt sein Ende. Es kam das Mittagessen, und die Gefangenen lächelten: Sie hatten einen guten Tag, sie bekamen ein gutes Essen. Jeder Mann bekam in einem bindfadengeknüpften Netz anderthalb Pfund Pellkartoffeln und dazu in seine Aluminiumschüssel eine Kelle einer scharf gewürzten Sauce, in der einige Fleischfasern schwammen.
Ich schälte mühsam meine Kartoffeln mit dem Löffel; Gabel und Messer waren in diesem Haus der ständigen Schlägereien zu gefährlich. Wenn ich die mit mir Essenden betrachtete, so sah ich einige, die taten wie ich; sie legten ihre Kartoffeln in die Sauce und warteten mit dem Essen, bis sie fertig mit Schälen waren. Aber wir waren bei Weitem in der Minderzahl, viele Schäler waren so ausgehungert, dass sie nicht warten konnten: Die meisten Kartoffeln verschwanden eben geschält im Munde, nur wenige erreichten die Brühe.
Schälen taten, wie ich sah, alle die Kartoffeln, aber ich sah in meiner Nähe einen dicken, untersetzten Mann mit eisengrauem Kopf und dem rotbraun gebrannten Gesicht eines Landarbeiters, der während des Schälens auch die Schalen auffraß. Kaum hatte ich fertiggeschält, warf er einen fragenden Blick auf mich, und schon fuhr seine schwielige Hand über den Tisch, kratzte auf einmal all meinen Abfall zusammen und schob ihn in den Mund.
»Mann!«, rief ich. »Da war ja eine völlig verfaulte Kartoffel zwischen!«
»Macht nichts, Kumpel«, sagte er, eifrig kauend. »Ich muss den ganzen Tag mähen, ich werd’ nie satt. Vielleicht kann ich mir heute Abend Schweinekartoffeln klauen. Hoffentlich …«
Er war nicht ein einzelner Verfressener, alle hatten Hunger, immer, auch direkt nach dem Essen. Ich sah Kranke herumgehen und die kleinsten Kartoffelkrümelchen von dem Tisch fortstehlen, andere kratzten die schon ach so blanken Schüsseln nach; einen sah ich auf dem Flur den Saucenkessel mit dem immer wieder abgeleckten Finger blank polieren. All dies geschah unter den Augen der Wachtmeister, die es als selbstverständlich ansahen.
Mir schien es unsäglich jämmerlich und gemein, Kranke so hungern zu lassen, aber auch sich zu solcher Schüsselleckerei und Abfallfresserei zu entwürdigen. Nur wenige Tage sollten vergehen, da dachte ich wesentlich anders darüber und war selbst sehr großzügig beim Schälen von Kartoffeln, das heißt, glatte Stellen ließ ich grundsätzlich ungeschält. Es ist ein sehr einfacher Satz: »Hunger tut weh«, aber seine Einfachheit nimmt nichts von seiner Wahrheit. Wer Nacht für Nacht vor Hunger nicht in den Schlaf kommen kann, wer am Tage schwindlig wird vor Hunger, der hat nur noch wenig Bedenken hinsichtlich der Nahrungsmittel, mit denen er seinen Hunger stillen kann.
Ich greife hier vor, aber ich möchte dieses Kapitel vom Essen in einer »Heil«-Anstalt endgültig zu Ende bringen, obwohl ich es für mich bis heute noch nicht zu Ende gebracht habe. In der ganzen Anstalt herrschte ein einfach schmutziger Geiz. Nie bekamen wir frisches Fleisch zu essen, nur manchmal schwammen Fasern – niemals auch nur Bröckchen! – eines roten, alten Pökelfleisches im Essen oder in der Sauce, sehr rare Fasern übrigens! Nie gab es Butter, nie Wurst, nie Käse. Nie einen Apfel. Und alles, was es gab, war dann auch noch unzulänglich, endlos mit Wasser vermischt, schlecht zubereitet.
Warum das alles so war, ahne ich noch heute nicht. Die Gefangenen behaupteten, der Oberinspektor fräße alles selbst auf. Aber auch der gefräßigste Oberinspektor kann nicht das Essen von ein paar Hundert Menschen vertilgen. Vielleicht wollte man uns nicht zu üppig werden lassen, und ich muss zugeben, selbst bei dieser Hungerkost waren die Leidenschaften noch lebhaft genug im Gange.
Es gab aber doch immer Leute unter uns, die nicht solchen Hunger litten, ja, die in gewissen Grenzen aus dem Vollen lebten, nämlich die Kalfaktoren, sie hatten die Brote für uns zu schneiden, abzuwiegen, zu bestreichen. Offiziell stand ein Wachtmeister dabei und passte auf, aber klingelte das Telefon, so musste der Wachtmeister aus der Küche heraus in den Glaskasten, und schon waren ein paar Stullen dick geschmiert und verschwunden. Gefangene haben scharfe Augen, und der Hunger macht sie nur noch schärfer; es war unvermeidlich, dass sie von diesen Unterschlagungen erfuhren. Der hatte gesehen, wie ein Kalfaktor auf dem Klo eine Stulle kaute, jener, wie er einem »Freund« eine zusteckte oder sie für Tabak verhandelte.
Aber anzeigen war sinnlos. Erst einmal war schwer etwas zu beweisen, ja, es war fast unmöglich, denn selbst wenn das Brot gefunden wird, was fast nie geschieht, weil nämlich gar nicht erst nach ihm gesucht wird, kann der Kalfaktor sagen: »Das habe ich mir vom Frühstück aufgespart.« Und zum anderen waren die Kalfaktoren das liebe Kind der Beamten, ihre Zuträger; die Beamten wollten nichts gegen ihre Kalfaktoren hören. So geschah praktisch nie etwas dagegen, aber der Neid und der Hass wurden dadurch ständig wachgehalten. Immerfort gab es Sticheleien, Anspielungen, auch Prügeleien. Bei denen zogen die Prügler immer den Kürzeren, sie wanderten in den Arrest; sie konnten ja nichts beweisen.
Auch ich war, ich muss es gestehen, oft fast krank vor Neid, wenn ich sah, wie unser immer fetter werdender Kalfaktor das Mittagessen nach ein paar Löffeln satt beiseiteschob, dieses selbe Mittagessen, bei dem ich mit jedem Bissen geizte; er aber schenkte es einem anderen oder verscheuerte es für einen Pfeifenkopf Tabak oder eine Zwiebel oder zwei Streichhölzer.
›Du Speckjäger!‹, sagte ich mir dann, genau wie die anderen, ›du hast dich an meinem Brot und meiner Margarine satt gefressen, und nun verschmähst du das kostbare Essen, das meinem Körper so notwendig wäre. Dass du verrecken mögest in deinem Fett!‹ – So fühlte ich und schämte mich dabei dieses erbärmlichen Futterneides um eine Scheibe Brot, die ich zu Hause für nichts geachtet hatte, und lernte die hassen, die mich dazu gebracht hatten, so zu fühlen, so niedrig und neidisch!
Eigentlich noch schlimmer als diese heimliche Art, sich Essensvorteile zu verschaffen, war eine ganz legale, die von der Verwaltung gebilligt, ja sogar gefördert wurde. Diejenigen der Insassen nämlich, die noch willige Verwandte draußen hatten, durften sich Pakete mit Lebensmitteln schicken lassen, so oft und so viel sie nur wollten.
Man sollte denken, dass fast jeder der Kranken einen solchen Angehörigen draußen hatte, der ihm wenigstens dann und wann ein Brot geschickt hätte – schon trocken Brot war eine heiß begehrte Ware im Hause. Dem war aber nicht so.
Ganz abgesehen davon, dass viele der Insassen weder schreiben noch lesen konnten (in diesem schrecklichen Hause lag wirklich nur der letzte Ausschuss der Menschheit) oder dass sie schon zu blöde und stumpf dafür waren, wollten die Angehörigen von den meisten nichts mehr wissen. Sie hatten ihnen, solange sie noch draußen waren, Kummer und Schande genug gemacht, nun waren sie schon fünf oder zehn oder gar zwanzig Jahre in diesem Hause, sie waren für die draußen erledigt und vergessen, sie waren für die draußen tot, gestorben und begraben.
Nein, es waren nur ganz wenige, die diese Pakete bekamen, von den sechsundfünfzig Männern, die auf meiner Station lagen, vielleicht nur fünf oder sechs. Die aber saßen stattlich und wohlgenährt bei unseren gemeinschaftlichen Mahlzeiten, neben den Schüsseln voll Wassersuppe lagen bei ihnen dick bestrichene Brote mit Wurst und Käse, die wir nie zu schmecken bekamen; ja, ich habe es sogar erlebt, dass ein dicker Bauer, den sie wegen ständigen Querulantentums mit uns eingesperrt hatten, gemütlich eine gebratene Ente in unserer Gegenwart verzehrte, Knochen für Knochen abnagte. Er triefte von Fett, wir aber saßen dabei, und unsere Augen wurden immer größer, das Wasser lief uns im Munde zusammen und schließlich aus ihm herunter, unsere Hände zitterten, und nur Gier und Neid erfüllten unsere Herzen.
Ich habe es nie verstanden, warum man so etwas zuließ. Wenn man wenigstens diese Bevorzugten ihr Sonderessen in aller Heimlichkeit hätte vertilgen lassen, aber nein, vor unseren Augen musste es geschehen! Freilich, es gab ja keinerlei Heimlichkeit auf dieser Station, in diesem Hause, alle lagen zu sechs, acht Mann in ihren Zellen, nichts, wohin man sich zurückziehen konnte, nicht einmal die Klos hatten Riegel, immer riss einer die Tür auf, man saß eben erst auf der Brille.
Aus alldem aber, aus dem ständigen Hungergefühl und dem Hass gegen die diebischen Kalfaktoren und aus dem Neid gegen die Prasser entstanden jene nie endenden Gereiztheiten, Streitereien, Schlägereien, Bestrafungen. Nie war auch nur einen einzigen Tag Ruhe im Bau, immer war irgendetwas los. Man hörte schon gar nicht mehr hin, wenn zwei sich in der unflätigsten Weise beschimpften. Man ging fort, wenn sie sich die Augen blau und die Nasen blutig schlugen. Man war froh, wenn man nicht selbst noch hineingezogen wurde. Man musste auf jedes Wort achten, was man sagte, es wurde sofort weitergetragen, sofort kehrte es sich gegen seinen Sprecher.
Ich für meine Person muss gestehen, dass ich anfänglich nicht nur mit Neid auf die Paketfresser sah. Ich hatte es ja so einfach: Ich brauchte nur einen Brief an Magda zu schreiben, und ich gehörte auch zu diesen Besitzenden. So würde Magda doch nicht sein, dass sie ihren eigenen angetrauten Mann hungern ließ! Eine Woche lang kämpfte ich mit mir, dann siegte der Hunger, und ich entschloss mich zu dem Brief.
Ich hatte weder Schreibpapier noch einen Umschlag, und geliefert wurde einem von der Anstalt gar nichts; aber ich sparte mir eine Scheibe Brot ab und bekam dafür, was mir nottat. Ich schrieb den Brief, und von da an wartete ich. Ich malte mir abends im Bett aus, was alles in dem Paket sein würde; wenn ich an eine dick mit fetter Leberwurst bestrichene Scheibe Brot dachte, wurde mir beinahe übel vor Hunger und Wollust.
Ich hatte mir den frühesten Tag ausgerechnet, an dem das Paket hier sein konnte; aber der Tag verstrich und mancher Tag nach ihm, und das Paket kam nicht. Dann erfuhr ich, dass der Brief erst durch die Zensur des Medizinalrates gehen musste, dann auf das Büro der Verwaltung zum Frankieren ging und dass man die Briefe dort nicht etwa sofort, sondern nur gelegentlich, wenn man mehrere zusammenhatte, abschickte.
»Die haben die Ruhe weg«, sagten die Gefangenen. »Glaubst du, die laufen, wenn du was möchtest? Die setzen sich dann gerade erst recht fest auf ihren Arsch!«
So wartete ich weiter und hoffte weiter.
Dann sagte der Oberpfleger eines Tages beiläufig zu mir: »Auf dem Büro liegt ein Brief von Ihnen, Sommer. Die lassen Ihnen sagen, der kann nicht abgehen, Sie haben kein Geld gut für Porto.«
»Wie?«, rief ich. »Wegen zwölf Pfennig Porto kann mein Brief nicht abgehen? Und ich habe aus dem Untersuchungsgefängnis viertausend Mark an meine Frau zurückgeschickt!«
»Da hätten Sie sich eben ein paar Mark zurückbehalten sollen«, sagte der Oberpfleger und wollte weitergehen.
»Aber, Herr Oberpfleger!«, rief ich. »Das geht doch nicht. Wegen zwölf Pfennigen! Die können doch anrufen bei meiner Frau, und die wird bestätigen …«
»Ein Telefongespräch kostet auch zehn Pfennig, die Sie nicht haben, Sommer!«, sagte der Oberpfleger kühl. »Beruhigen Sie sich nur, der Brief wird schon abgehen, nächsten Monat, wenn Ihnen Ihre erste Arbeitsbelohnung gutgeschrieben ist!«
Ich habe keine Ahnung, ob der Brief an Magda schließlich wirklich abgegangen ist oder ob er in der Zwischenzeit verloren ging. Ein Fresspaket habe ich jedenfalls nie bekommen, ich blieb immer unter den hungrigen, gierigen Neidern. Denn als ich wirklich eine Arbeitsbelohnung guthatte, war ich längst viel zu mutlos geworden, noch einmal an Magda zu schreiben. Ich war daran verzweifelt, dass irgendein Mensch es noch gut mit mir meinte.