Es war am dritten Tage meiner Haft, und ich arbeitete noch nicht auf dem Holzhof, als Oberwachtmeister Splittstößer nachmittags um vier Uhr auf der Zelle erschien und zu mir sagte: »Kommen Sie mit, Sommer. Ziehen Sie Ihr Jackett an und kommen Sie mit.«
Ich ging hinter dem »Ober« her und war damals noch so unerfahren in Gefängnisdingen, dass ich ihn höflich fragte: »Wohin bringen Sie mich denn, Herr Oberwachtmeister?«
Ich wusste damals noch nicht, dass ein Gefangener nie fragen soll, dass er auf Fragen nie Antwort bekommt, dass er nur zu warten hat, was das Schicksal, das ein Wachtmeister, das aber auch ein Staatsanwalt sein kann, über ihn beschließt.
Ich bekam denn auch die recht grobe Antwort: »Was geht das Sie an? Das werden Sie ja alles erleben!«
Drüben auf dem Landgericht herrschte eine richtige Sommernachmittagsstimmung: Viele Zimmertüren standen offen, und ich sah auf unbesetzte, aufgeräumte Schreibtische. Es stellte sich heraus, dass der Justizwachtmeister des Landgerichts zur Post gegangen, also auch nicht imstande war, mich aus den Händen meines Gefängnisbeamten zu übernehmen; mein Beamter aber hatte es eilig, wieder in seinen Bau zurückzukommen, und es erhob sich ein kleiner Streit zwischen einer dicken, ältlichen Büroangestellten und meinem Wachtmeister.
»Ich bin nicht dazu da, auf eure Gefangenen aufzupassen«, sagte die Angestellte ärgerlich. »Immer versucht ihr solche Sachen. Wenn einer fortläuft, bin ich nachher schuld.«
»Ja, aber euer Justizwachtmeister braucht auch nicht gerade immer fortzulaufen, er weiß doch, dass der Gefangene um vier zur Vernehmung bestellt ist.«
So ging der Streit eine Weile hin und her, keiner wollte mich haben, bis schließlich das ältliche Fräulein ganz überraschend sagte: »Na ja, heute will ich’s noch mal tun, Herr Sommer wird mir schon nicht weglaufen.« Und damit sah sie mit einem freundlichen Lächeln auf mich, sie kannte mich also.
Ich wurde auf einen Stuhl gesetzt, Splittstößer zog ab, und zum ersten Mal seit Tagen sah ich wieder durch unvergitterte Fenster auf eine Straße meiner Vaterstadt, sah die Kinder spielen, und jetzt rollte gar ein Wagen des Bierverlags Trappe vorüber. Der mir sehr gut bekannte, fast befreundete Trappe saß selbst auf dem Bock.
Nun ging ein junges Mädchen, wohl auch eine Angestellte, durch das Zimmer, in das ich gesetzt war, es sah mich an, lächelte freundlich und sagte: »Guten Tag, Herr Sommer.«
Sie kannte mich also, sie war freundlich zu mir, obgleich ich unter der Beschuldigung des Mordversuchs an meiner eigenen Frau in Haft saß.
Die ältliche Angestellte eben war auch freundlich gewesen, sie hatte gesagt: »Herr Sommer läuft nicht weg« – alle waren freundlich zu mir, der beste Beweis, dass meine Sache gutstand. Wahrscheinlich erließ der Untersuchungsrichter keinen Haftbefehl gegen mich, vielleicht war ich schon in einer halben Stunde frei! Mein Herz klopfte stark und froh.
Nun kam ein älterer Mann ins Zimmer, ein langer, dürrer, grauhaariger Herr, der etwas zerstreut und etwas sorgenvoll blickte.
»Das ist Herr Sommer, Herr Direktor!«, sagte die ältliche Angestellte und deutete mit dem Kopf auf mich.
»So, so«, hüstelte der ältliche Herr, der der Amtsgerichtsdirektor war, wie ich später erfuhr. Er sah mich einen Augenblick mit seinen müden, etwas sorgenvollen Augen an und gab mir dann die Hand. »Dann kommen Sie mal mit, Herr Sommer.«
Wieder eitel Freundlichkeit, Händegeben, mit »Herr« anreden, ach, all dies Getue hat mich Unerfahrenen gewaltig getäuscht, ich vergaß vollkommen, dass dies alles meine Feinde waren, nur gesonnen, mich zu verurteilen, mich gefangen zu halten, mich zu überlisten. Ich vergaß den eben erst gelernten Satz: »Du kommst leicht hinein, aber schwer raus.« Ich meinte, das Herauskommen werde mir noch leichter als das Hineinkommen gemacht, ich öffnete dem Herrn Amtsgerichtsdirektor ganz mein Herz, sagte alles so, wie es wirklich gewesen war, und dann sollte ich es ja erfahren, was für Folgen meine Vertrauensseligkeit hatte!
Der Herr Amtsgerichtsdirektor ging mir voran in ein ganz behaglich eingerichtetes Arbeitszimmer mit vielen, vielen Büchern an den Wänden, ich wurde auf einen Stuhl vor den Schreibtisch gesetzt, der Direktor setzte sich hinter ihn, eine Dame mittleren Alters erschien und spannte einen großen Bogen in die Schreibmaschine, der Direktor fuhr sich mit der Hand durch die Haare, rückte an seiner Brille hin und her, sah mich an und sagte: »Sie machen uns viele Sorgen, Herr Sommer«, hüstelte und gab dem Fräulein auf: »Nun nehmen Sie mal die Personalien von Herrn Sommer auf.«
Dieses Gefrage war leicht genug beantwortet, nur den Geburtstag Magdas habe ich vielleicht falsch angegeben (ich genierte mich, zu gestehen, dass ich ihn nicht genau wusste), und als ich gefragt wurde, ob Vermögens- und Einkommensverhältnisse geordnet seien, antwortete ich schlankweg mit »Ja«, worüber ich nachträglich schwere Bedenken bekam. Denn es schien mir jetzt doch zweifelhaft, wie Magda nach meiner Entnahme von fünftausend Mark mit dem Geschäft zurechtkommen würde. Ich kam aber nicht mehr dazu, das richtigzustellen, denn nun fing der Herr Direktor an zu fragen, oder vielmehr, er nahm einen großen Bogen, der eng mit Schreibmaschine betippt war, zur Hand, fuhr sich wieder durch die Haare, rückte wieder an seiner Brille, hüstelte und sagte: »Sie sind also unter dem Verdacht, einen Mordversuch an Ihrer Frau begangen zu haben, festgenommen, Herr Sommer. Was haben Sie dazu zu sagen?«
Zu diesem Zeitpunkt hatte ich schon ein solches Zutrauen zu allen Leuten hier gewonnen, dass ich ganz harmlos rief: »Um Gottes willen, wird denn das noch immer aufrechterhalten, dass ich meine Frau habe ermorden wollen? Nie im Leben habe ich daran gedacht. Ich liebe doch meine Frau, und wenn ich auch …«
»Nein, nein, Herr Sommer«, sagte der Amtsgerichtsdirektor beruhigend, »ein Mordversuch kommt natürlich nicht infrage. Es war ein versuchter Totschlag, nicht wahr? Sie haben im Affekt gehandelt, Sie waren betrunken, nicht wahr?«
»Aber, Herr Direktor, ich habe meine Frau doch auch nicht totschlagen wollen, das war doch nur so betrunkenes Gerede, weil ich gern den Koffer haben wollte und weil meine Frau doch stärker als ich ist.«
»Nun, nun«, meinte der Direktor und lächelte dünn. »Ein bisschen mehr als eine harmlose betrunkene Katzbalgerei war es wohl doch. Sie haben in der letzten Zeit ein bisschen viel getrunken, nicht wahr, Herr Sommer? Nun erzählen Sie mir mal, was Sie so alles getrunken hatten, ehe Sie den nächtlichen Besuch bei Ihrer Frau machten.«
So kamen wir langsam in die Vernehmung hinein, ich erzählte alles, wie es gewesen war, ich zergrübelte meinen Kopf, um auch nicht eine einzige Flasche Korn zu vergessen, ich sagte die ungeschminkte Wahrheit, und ich Narr glaubte, ich könne es mit solcher Wahrheitsliebe schaffen. Ich beharrte aber dabei, dass ich nie die Absicht gehabt habe, meiner Frau ernstlich etwas zu tun, ich wollte nur die Sachen haben, so sagte ich.
Der Amtsgerichtsdirektor hüstelte stärker, er las in dem maschinengeschriebenen Bogen, er sagte: »Ich will Ihnen da doch einmal vorhalten, was Ihre Frau ausgesagt hat. Hier: ›Er würgte mich am Halse und versuchte, mir mit den Füßen in den Leib zu treten!‹ Und hier: ›Er flüsterte mir ins Ohr: Morgen Nacht besuche ich dich und bringe dich um!‹ Das klingt doch aber alles gewaltig nach etwas mehr als bloßen Drohungen, nicht wahr, Herr Sommer?«
Ich war sprachlos über Magdas Gemeinheit, das alles so darzustellen; zum Mindesten hätte sie doch hinzusetzen müssen, dass sie dies nur für bloßes betrunkenes Gerede gehalten habe. Ich versuchte, es dem Direktor so zu erklären, ich wies ihn auch darauf hin, dass auch Magda erregt gewesen sei und vieles vielleicht in ihrer Erregung schwerer genommen habe, als es gemeint gewesen sei.
Der Direktor nickte und seufzte, wischte an seiner Brille, ob ich ihn überzeugt habe, weiß ich nicht. Schließlich sagte er: »Nun gut, ich will Sie heute auch gar nicht länger vernehmen. Das wird erst einmal genügen.«
»Sie erlassen also keinen Haftbefehl gegen mich?!«, fragte ich in überströmender Freude.
Der Direktor hüstelte schon wieder. »Nein, keinen eigentlichen Haftbefehl, sozusagen. Sozusagen. Sehen Sie, Herr Sommer, Sie waren nach Ihren eigenen Aussagen übermäßig betrunken …«
»Nicht übermäßig betrunken, Herr Direktor. Ich vertrage sehr viel.«
»Sie hatten«, fuhr der Direktor, sich verbessernd, fort, »übermäßig viel getrunken, und da besteht nun einmal der Verdacht, dass Sie bei Begehung Ihrer Tat nicht im Vollbesitz Ihrer Geisteskräfte waren. Was wollen Sie jetzt zu Haus? Sie würden wieder mit Ihrer Frau Streit anfangen, Sie würden wieder zu trinken anfangen. Nein, Herr Sommer, erst müssen Sie wieder richtig gesund werden. Ich werde Sie erst einmal in eine Heil- und Pflegeanstalt einweisen, da werden Sie unter ärztlicher Betreuung stehen und richtig gesund werden …«
»Ich danke Ihnen, ich danke Ihnen, Herr Direktor«, rief ich Trottel und wäre am liebsten dem alten Herrn um den Hals gefallen. Für seine große Güte, jawohl, für seine große Güte.
Von Mordhorst hörte ich es dann, zwei oder drei Tage später (sie ließen sich Zeit mit meiner Überweisung in eine Heil- und Pflegeanstalt; auf dem Gericht haben überhaupt alle Zeit, bloß die Gefangenen nicht, denen doch die Zeit so langsam vergeht) – also, von Mordhorst hörte ich es, dass ich mich wie ein vollkommener Idiot benommen hatte.
»Mensch«, sagte er, »wie konntest du nur so dämlich sein? Der alte Fuchs hat sich ins Fäustchen über dich gelacht, als du eine Flasche Korn nach der anderen auspacktest. Der hat dich fein mit seiner verstellten Freundlichkeit gefangen! Sagen hättest du müssen, schwören hättest du müssen: Ich bin gar nicht besoffen gewesen, keine Spur war ich angetrunken! Ich hab’s bei vollem Bewusstsein, nach reiflicher Überlegung getan, was ich getan habe! Und warum musstest du so sagen? Weil du so am wenigsten riskiertest! Sieh mal, für einen versuchten Totschlag bekommst du ein halbes, höchstens ein Jahr Kittchen. Die reißt du ab und stehst wieder draußen als freier Mann, und keiner kann dir an den Wagen fahren.
Und was geschieht dir nun? Erst kommst du auf sechs Wochen in die Anstalt zur Beobachtung auf deinen Geisteszustand. Denkst du, die Anstalt ist besser als ein Kittchen? Schlechter ist sie! Alles Drum und Dran ist genau wie hier, Fressen und Arbeit und Wachtmeister, aber du bist nicht mehr mit vernünftigen Menschen zusammen, sondern mit lauter Idioten! Und dann gibt der Arzt sein Gutachten ab, und du kriegst den § 51, und das Verfahren gegen dich wird eingestellt. Aber du wirst für geisteskrank und gemeingefährlich erklärt und deine dauernde Unterbringung in solcher Heilanstalt angeordnet, und da sitzt du, fünf Jahre, zehn Jahre, zwanzig Jahre, kein Hahn kräht nach dir, und langsam wirst du unter all den Idioten auch ein Idiot. Das ist es ja aber wohl auch, was sie von dir wollen. Wie du mir erzählt hast, hat deine Alte viel fürs Geschäft übrig; dann hat sie das Geschäft und alles, was dir gehörte. Du bist dann bloß noch ein armer entmündigter Trottel, und wenn sie dir zu Weihnachten ein Stück Kuchen und eine Rolle Priem schickt, so ist das schon viel …«
So redete Mordhorst, der Erfahrene, zu mir, und zu jedem seiner Worte sagte es in meinem Innern »Ja«. Wie ein Trottel hatte ich mich benommen, aufs Glatteis hatte ich mich locken lassen, und nun saß ich drin. Ich hatte es doch immer schon geahnt, was Magda plante, von allem Anfang an, aber dann hatte ich es vergessen; ich hatte nicht mehr dran denken wollen. Ich hatte mir etwas vorgelogen, dass sie meine Frau sei, dass sie mich doch einmal lieb gehabt habe und mich nicht verraten würde … Aber sie hatte mich verraten, schon lange hatte sie auf dieses Ziel hingearbeitet! Erst hatte sie mir die Ärzte nachgeschickt, und dann hatte sie diese verheerende Aussage über mich gemacht, in der sie all mein betrunkenes Geschwätz wie puren Ernst behandelt hatte!
Und wie hatte sie sich zu mir benommen, seit ich im Kittchen saß? Hatte sie da so gehandelt, wie es einer Ehefrau geziemt, deren Mann im Unglück sitzt? Hatte sie nur ein einziges Mal den Versuch gemacht, Sprecherlaubnis mit mir zu bekommen, mich zu besuchen und dabei Gelegenheit zu Aussprache und Versöhnung zu geben? Nichts von alledem! Ich hatte an Magda geschrieben. Ich hatte einen ernsten, freundlichen Brief an sie geschrieben, ich musste ja an sie schreiben. Ich brauchte frische Wäsche und Toilettenzeug, ich brauchte eine Decke auf meinem Strohsack, ein Leinentuch und ein Kopfkissen. Ich brauchte auch eine Zeitung und etwas zu essen. Jawohl, sie hatte mir die Sachen, die ich brauchte, geschickt, aber von Esswaren und Zeitung war nichts in dem Koffer! Und nicht mit einer Zeile hatte sie mir geantwortet!
Jetzt saß ich in Nummer Sicher, jetzt ließ sie die Maske fallen, jetzt fühlte sie sich schon als die Besitzerin meines Eigentums, jetzt glaubte sie mich schon für ewig aufgehoben in einer Irrenanstalt!
Aber sie sollte sich in mir geirrt haben, noch gab ich den Kampf nicht auf! Nein, ich fing ihn erst an! Ich war klarsehend geworden, ich war das Kind nicht mehr, das sich von Magdas Tüchtigkeit gängeln ließ, jetzt beriet mich Mordhorst, und den besten Rechtsanwalt der Stadt, den Herrn Dr. Husten, ließ ich mir auch kommen!
Der Herr Rechtsanwalt Dr. Husten, den ich bislang nur vom Ansehen kannte, war ein Mann Ende der Dreißiger, eine schon etwas behäbige Gestalt mit dem faltigen und fahlen Gesicht eines erfolgreichen Mimen. Er praktizierte noch nicht lange in meiner Vaterstadt und galt für gerissen, ein wenig unbedenklich und sehr teuer. In meinen geschäftlichen Angelegenheiten hätte ich ihn natürlich nie zum Berater gewählt, aber in einer solchen Strafsache schien er mir gerade der rechte Mann.
Ich wurde von meiner Holzarbeit hereingerufen und fand Herrn Dr. Husten im Büro des Inspektors meiner wartend; er war fast sofort meinem brieflichen Ruf gefolgt. Dr. Husten schüttelte mir fast emphatisch die Hand, versicherte mir mit einer tiefen Stimme, die das »R« rollte, er freue sich ungemein, meine Bekanntschaft zu machen, und wandte sich dann an den Inspektor mit der scherzhaft vorgetragenen Bitte, uns ein lauschiges Plätzchen zu vertraulicher Aussprache anzuweisen. Der Inspektor grinste und gab dem Wachtmeister den Auftrag, uns in meine Zelle zu führen.
Der empörte Düstermann wurde solange auf den Hof zum Spazierengehen gejagt. »Dass ihr mir nicht an meine Sachen rührt!« Mit diesen Worten ging er.
Statt sich nun meiner Sache zu widmen, erkundigte sich Dr. Husten flüsternd, wer der imposante, grobe Herr eben gewesen sei, und nickte, als ich ihn kurz orientiert hatte, tiefsinnig mit dem Kopf: »Ach, der ist das! Ich habe von ihm gehört. Wer macht denn seine Verteidigung – der Kerl hat Geld wie Heu. Aus der Sache ist was zu machen.«
Mich interessierte mehr, was aus meiner Sache zu machen sei, und ich erlaubte mir, den Dr. Husten etwas gereizt daran zu erinnern.
»Ach, Ihre Sache?«, rief er erstaunt und volltönig aus. »Ihre Sache ist in bester Ordnung! Ich habe bereits die Akten eingesehen – Sie bekommen den § 51 und gehen straffrei aus, dafür lassen Sie mich nur sorgen, mein lieber Herr Sommer!«
Ich fragte noch gereizter: »Und was wird aus mir, wenn ich den § 51 bekommen habe?«
Erstaunt rief der Anwalt: »Was aus Ihnen wird? Strafrechtlich ist die Sache für Sie dann endgültig zu Ende. Und persönlich? Ich nehme an, dass Sie dann für ein Weilchen in eine Heil- und Pflegeanstalt gehen werden, und das ist Ihnen ja schon aus Gesundheitsgründen nur zu wünschen!«
»Und wie lange wird das ›Weilchen‹ in einer solchen Anstalt für mich dauern, Herr Dr. Husten?« fragte ich böse. »Fünf Jahre? Zehn Jahre? Lebenslänglich?«
Der Anwalt lachte. »Aha! Irgendein Mitgefangener hat Ihnen einen Floh ins Ohr gesetzt! Lebenslänglich! Wenn ich so etwas nur höre! Für Sie kommt das doch nie infrage. Sie sind doch ein vernünftiger Mensch, im Vollbesitz Ihrer Geisteskräfte …«
»Ganz meine Ansicht«, stimmte ich ihm bei, »und darum kommt eben der § 51 nicht für mich infrage. Nein, Herr Dr. Husten, ich trage die volle Verantwortung für alles, was ich getan habe, und bin bereit, alle Folgen zu tragen.«
»Aber, mein lieber Herr Sommer!«, rief er beschwörend. »Sie würden dann auf ein Jahr ins Gefängnis gehen müssen, mindestens auf ein Jahr! Sie kehrten als entehrter Mann zurück! Die Leute würden mit den Fingern auf Sie zeigen!«
»Trotzdem!« beharrte ich als getreuer Schüler Mordhorsts. »Trotzdem ziehe ich ein Jahr im Gefängnis einem unbegrenzten Aufenthalt in der Heilanstalt bei Weitem vor …«
»Unbegrenzt! Sie werden ein halbes Jahr, ein Jahr dort bleiben müssen, Herr Sommer …«
»Würden Sie mir das schriftlich geben, Herr Dr. Husten? Mit Ihrem Wort als Anwalt …?«
»Das kann ich natürlich nicht, mein lieber Freund«, sagte der Anwalt. Er schien jetzt auch reichlich verärgert und trommelte mit den Fingern nervös auf dem Tisch. »Ich bin kein Arzt. Nur ein Arzt kann beurteilen, wie weit der Alkoholismus bei Ihnen vorgeschritten ist, wie viel Zeit für eine völlige, rückfallsichere Heilung notwendig ist. – Aber, mein lieber Herr Sommer!« rief er und riss sich wieder zusammen, ließ den eingelernten sieghaften Optimismus wieder die Oberhand gewinnen, »geben Sie dieses finstere Misstrauen auf. Vertrauen Sie sich unbedenklich den heilenden Händen der Ärzte an. Bedenken Sie auch, dass Sie sowohl seelisch wie körperlich kaum den Anforderungen einer längeren Gefängnishaft gewachsen sein werden. Ich glaube auch kaum, dass ein solcher Aufenthalt, dass diese Wahl im Sinne Ihrer lieben Frau sein würde …«
Das war ein falsches Wort am falschen Ort!
»Herr Dr. Husten!«, rief ich, empört aufspringend. »Was vertreten Sie hier: meine Interessen oder die Interessen meiner Frau? Woher wissen Sie, was im Sinne meiner Frau ist? Haben Sie etwa vor unserer Rücksprache meine Frau aufgesucht?« Ich zitterte am ganzen Leibe vor Erregung.
»Aber, mein lieber Herr Sommer«, sagte er beruhigend und legte mir die Hand auf die Schulter. »Warum erregen Sie sich so? Natürlich habe ich Ihre Frau aufgesucht; das war für mich als Ihren Anwalt doch ganz selbstverständlich. Und ich kann Ihnen mitteilen, dass Ihre Frau wohl mit Trauer, aber doch ohne eigentlichen Groll an Sie denkt. Ich bin überzeugt, dass sie Ihr Schicksal auf das Lebhafteste bedauert …«
»Ja, und dieses grollfreie Bedauern spricht sich am deutlichsten in dem Protokoll aus, das von ihr bei den Akten ist!«, rief ich immer empörter. »Haben Sie denn das Protokoll nicht gelesen, Herr Dr. Husten? Nein, ich finde es einfach unverantwortlich, dass Sie als mein Verteidiger, ohne mich zu fragen, die Hauptbelastungszeugin aufgesucht haben.«
»Aber ich musste es doch, mein lieber Freund«, widersetzte der Anwalt, über meine Weltfremdheit milde lächelnd. »Ich musste mich doch auch über den Punkt orientieren, wer das Honorar für Sie bezahlt. Sie sind im Augenblick gewissermaßen mittellos …«
»Sie irren sich, Herr Dr. Husten«, sagte ich jetzt ganz kalt. »Alles da draußen: das Geschäft, das Bankguthaben, die ausstehenden Forderungen, das Haus, all das gehört mir, mir allein. Nicht meiner Frau. Noch bin ich in keiner Heilanstalt, noch bin ich nicht entmündigt …«
»Gewiss, gewiss«, sagte der Anwalt beruhigend. »Das ist natürlich vollkommen richtig. Ich habe mich leider falsch ausgedrückt, ich hätte nicht ›mittellos‹ sagen dürfen. Drücken wir es so aus, dass Sie in der Verfügung über Ihr Vermögen im Augenblick gewissermaßen ein wenig behindert sind, während Ihre Frau als Ihre getreue Sachwalterin …«
»Ich werde dafür sorgen, Herr Dr. Husten«, sagte ich und stand endgültig auf, »dass meine Frau nicht mehr lange diesen Posten als Sachwalterin ausüben kann. Dann vermindert sich wahrscheinlich auch ihr Interesse rapide, mich auf Lebenszeiten in ein Irrenhaus zu sperren. Ich werde meiner Frau mitteilen, dass Ihr Besuch mich völlig von der Notwendigkeit einer sofortigen Scheidung überzeugt hat.«
»Mein lieber Freund«, sagte der Anwalt volltönend und schüttelte das große Mimenhaupt. »Wie jung Sie doch sind mit Ihren vierzig Jahren! (Nicht wahr, Sie sind doch vierzig Jahre?) Immer mit dem Kopf durch die Wand! Immer das Kind mit dem Bade ausschütten! Nun, nun, Sie werden unter geeigneter ärztlicher Pflege auch noch ruhiger werden!« Sein widerlich freundliches Grinsen hatte jetzt etwas unaussprechlich Höhnisches. »Im Übrigen gehe ich wohl nicht fehl in der Annahme, dass ich mich nicht als der Anwalt Ihres Vertrauens betrachten darf?«
»Ganz richtig, Herr Dr. Husten.«
»Ich bedaure es aufrichtig, ich bedaure es nicht für mich (Ihr Fall ist nur ein kleiner Fall für mich, Herr Sommer, ein sehr kleiner Fall), ich bedaure es für Sie und für Ihre Frau! Sie rennen blindlings in Ihr Unglück, Herr Sommer, und wenn Ihnen die Augen aufgehen, wird es zu spät für Sie sein. Schade.« Er fasste schnell meine Hand und schüttelte sie. »Aber wir scheiden nicht als Feinde, Herr Sommer. Wir haben uns kennengelernt, wir haben uns begrüßt, wir trennen uns wieder. ›Schiffe, die sich nachts begegnen‹ – Sie kennen doch dieses vorzügliche Buch der Britin Beatrice Harraden?1 – Es möge Ihnen gut gehen, Herr Sommer!« Damit verließ Herr Dr. Husten erhobenen Hauptes meine Zelle.
Ich aber folgte ihm erst in einigem Abstand und begab mich wieder zu meiner Sägerei auf den Holzhof. Dort berichtete ich Mordhorst haarklein die stattgehabte Unterredung, wurde von ihm zum ersten Male belobt und in meiner Absicht bestärkt, eine eilige Scheidung von Magda zu betreiben und ihr die Verwaltung meines Eigentums zu entziehen.
1 Beatrice Harraden (1864–1936), britische Frauenrechtlerin und Autorin. <<<