»Was soll ich mit dem feinen Krimskrams?!«, zetert die Wirtin. »Sieben Haut- und Nagelscheren allein! Das kann ich nicht brauchen. Ich will mein Geld haben! Und diese gemeinen Schlafanzüge!« Aber ihrer Stimme ist anzuhören, dass dies nur ein Rückzugsgefecht ist, ihre Gier ist erwacht.
»Ich habe um hundert Mark herum dafür bezahlt«, sage ich. »Und draußen stehen auch noch zwei Flaschen Schwarzwälder und eine Flasche Korn – die sollen Sie auch noch haben. Sind Sie nun zufrieden?«
Sie zetert noch ein wenig, aber dann gibt sie sich zufrieden.
»Aber die Flasche Parfüm möchte ich Ihrem Mädchen als Trinkgeld schenken«, sage ich und nehme sie.
»Meinethalben«, sagt die Wirtin. »Mit solchem Nuttenzeug mag ich mich nicht einstinken.« Und sie probiert, ob die Hose des bunten Pyjamas auch lang genug für sie ist.
»Elinor!«, rufe ich durch das Lokal, denn ich kann wegen der Kette nicht fort von dem Wachtmeister. »Hier habe ich noch eine Flasche echt französisches Parfüm für dich … Komm, Mädchen!«
»Ach, lassen Sie mich zufrieden!«, ruft sie mürrisch zurück. »Ich habe jetzt wirklich genug von Ihnen. Bringen Sie den Kerl doch weg, Wachtmeister, ich möchte ins Bett!«
Die brutale Rücksichtslosigkeit, mit der sie mich im Stich ließ, sobald sie ihren Zweck erreicht hatte, raubte mir fast den Atem. Dann rief ich: »Verlässt du dich nicht ein bisschen sehr auf meine Anständigkeit, Elinor?« scharf durchs ganze Lokal.
»Bringen Sie den besoffenen Trottel weg, Wachtmeister!«, schrie sie jetzt. »Ich will nicht mehr von ihm angequatscht werden. Er war mir immer eklig, hoffentlich behaltet ihr ihn ewig im Kittchen!«
Ich begriff, in einem Augenblick begriff ich. Jetzt war ihr mein Geld sicher, ich hatte selbst seinen Besitz geleugnet. Und sie trug es bestimmt nicht mehr bei sich, sie hatte es schon irgendwo hinter der Theke versteckt. Nun ließ sie die Maske fallen – ich war ein ekelhafter Trottel. Wahrhaftig, ich war es wirklich. Wie gut, dass ich noch eine Flasche Schnaps zum Trost in der Tasche hatte! Aber wie, wenn mich nun auch der Schnaps verließ?
»Also kommen Sie endlich!«, sagte der Wachtmeister und zog am Kettchen.
Ich folgte ihm wortlos. Der Gendarm setzte sich auf sein Rad und radelte, für einen Radler langsam, für einen Fußgänger reichlich schnell, los. Ich trabte nebenher. Im Gefängnis des großen Nachbardorfes, in demselben Ort, an dem ich mit der Bahn am Abend vorher eingetroffen war, lieferte er mich ein.
Ich habe mein Bett unter das kleine Fenster gerückt und mich dann an den eisernen Gitterstäben hochgezogen. Ich sehe in ein friedlich besonntes Land mit Wiesen, Äckern, weidendem Vieh und Waldstreifen am Horizont. Direkt unter mir liegt ein mit Latten eingefriedeter Gemüsegarten, ein alter Mann geht einen Weg entlang und pflückt Grünes für Ziegen und Karnickel in einen Sack. Er kann gehen, wohin er will – und ich, ich bin jetzt gefangen! Gestern gehörte mir das noch alles, ich konnte aus meinem Leben machen, was ich wollte, heute halten andere mein Leben in ihrer Hand, und ich muss warten, wie sie über mich beschließen.
Ich lasse mich auf mein Bett fallen. Mir ist sehr schlecht, mein Kopf schmerzt – die Wirkung der paar Schlucke eben ist schon wieder vergangen. Ich habe Durst – aber wann werde ich diesen Durst wieder stillen können? ›Heute schon‹, sage ich mir beruhigend, ›bestimmt heute schon! Heute noch lassen sie dich wieder frei. Sie haben dir bloß einen Schreck einjagen wollen, sowas macht man, man steckt Betrunkene für eine Nacht in eine Zelle, damit sie ihren Rausch ausschlafen und sich ernüchtern, dann lässt man sie wieder frei. So machen sie’s nun auch mit dir.‹
Ich will nicht mit ihnen grollen, schließlich handeln sie ganz richtig. Ich habe mich wirklich zu sehr gehenlassen in dem Landgasthof, dieser Denkzettel, dieser Schreckschuss ist mir ganz gut. Aber gleich wird der Schlüssel im Schloss klirren, der nette Wachtmeister aus der Nacht kommt herein und fragt lachend: »Na, gut geschlafen, Herr Sommer? Dann machen Sie, dass Sie hier wegkommen – und sündigen Sie hinfort nicht mehr!«
Und ich gehe in die Freiheit, in jenen frischen, grünen, sonnigen Morgen hinaus, an dem ein alter Mann an allen Straßenrändern, wo er nur mag, Grünfutter in einen Sack sammelt. Ich bin wieder frei. Wäre es wirklich ein ernster Fall gewesen, hätte mir dann der Wachtmeister den Schnaps mit in die Zelle gegeben?
So beruhige ich mich, und wenn sich ein Gedanke an jene nächtliche Szene mit Magda bei mir einschleichen will, so weise ich ihn energisch zurück. Magda ist meine Frau, trotz aller Differenzen in letzter Zeit, wir haben so lange zusammengehalten, sie wird mir verzeihen, sie hat mir schon verziehen. Sie versteht, dass ich krank war. Aber dieser Schreckschuss hier hat mich ernüchtert, nie wieder werde ich trinken, keinen Tropfen mehr.
Ich springe auf und gehe in der Zelle hin und her. Nein, ich will jetzt ehrlich sein, ich will mir nicht wieder etwas vorlügen: Ich kann, wenn ich nachher entlassen werde, nicht gleich auf einen Schlag mit Trinken aufhören; schon jetzt quält mich der Durst schändlich. Es ist wie ein reißendes Verlangen in meinem Körper, eine Gier, die einen töten zu wollen scheint, wenn sie nicht befriedigt wird. Meine Glieder zittern, ein Schweißausbruch folgt auf den anderen, der Magen ist in Aufruhr.
Plötzlich fällt mir ein, dass ich bei meinem Aufbruch aus dem Landgasthof wohl eine ganze Flasche Kirsch bezahlt habe, dass sie aber, nur zur Hälfte leer getrunken, auf dem Tisch stehen blieb. Ich hätte den Wachtmeister bitten sollen, sie noch leer trinken zu dürfen. Er hätte es mir erlaubt, dann hätte ich mehr Alkohol im Leibe gehabt, dann hätte ich jetzt nicht diese schrecklichen Beschwerden!
Also, ich will von jetzt an ehrlich sein: Ich kann dem Alkohol nicht sofort ganz abschwören, aber ich werde von nun an sehr mäßig trinken, vielleicht nur eine halbe Flasche pro Tag oder gar nur ein Drittel. Mit einem Drittel würde ich schon auskommen. Jetzt würde mich schon ein einziger kleiner Schnaps glücklich machen, ein winziges Stängchen, kaum ein Mundvoll Schnaps, in diesem Zustand, in dem ich jetzt bin.
Wenn ich jetzt gleich entlassen werde, werde ich mir hier im Ort so ein Stängchen leisten, ein einziges nur, und dann werde ich zu Fuß nach Hause gehen und nichts mehr trinken. Ich habe kein Geld mehr bei mir, aber ich habe meinen bläulichen Frühjahrsmantel an, den werde ich dem Wirt zum Pfand dalassen. Er wird mir darauf eine Flasche Korn geben, vielleicht sogar zwei, dann bin ich wieder für drei, vier Tage ausgerüstet. Für drei Tage jedenfalls bestimmt! Und in drei Tagen habe ich Magda rum, ich werde sehr liebevoll und freundlich mit ihr sein, dann bekomme ich wieder Geld von ihr …
Einen Augenblick schließe ich die Augen: Ich habe eben an die fünftausend Mark gedacht, die ich gestern um diese Zeit von der Bank abhob. Es muss ein schwerer Schlag für das Geschäft gewesen sein, es wird vielleicht doch nicht ganz einfach sein, Magda zu versöhnen … Aber, beruhige ich mich rasch, ich werde eine Hypothek auf unsere Villa eintragen lassen, sie ist bisher schuldenfrei; fünftausend Mark bekomme ich auf die Villa bestimmt. Dann ist Magda versöhnt. Und natürlich werde ich Polakowski nicht ungestraft seinen Raub genießen lassen. Ich werde heute noch zu ihm hingehen, meine Sachen und das Silber und meine Goldsachen muss er mindestens wieder herausrücken, dann will ich ihm zweitausend Mark von dem Geld lassen. Und geht er darauf nicht ein, werde ich ihn anzeigen, dann wandert der gute, sanfte, heuchlerische Polakowski statt meiner ins Gefängnis.
So gehen meine Gedanken, im Ganzen sind sie – trotz gelegentlicher beklommener Erwägungen – optimistisch. Ich werde schon durchkommen, schließlich bin ich ein angesehener Bürger; man wird sich hüten, mich hart anzufassen!
Dazwischen starre ich halb gedankenlos die Inschriften in der Zelle an. Manche sind mit Bleistift an die Wände geschrieben, andere mit einem Nagel in den Kalk gekratzt. Meist steht obenan ein Name, und darunter dann zwei Daten, das der Einlieferung und das der Entlassung. Es beruhigt mich sehr, dass all diese Daten so dicht beieinanderliegen, der Mann, der nach den Inschriften am längsten hier in der Zelle gesessen hat, war zehn Tage hier. Auch ein Beweis wieder, dass man nichts Schlimmes mit mir vorhat. Zehn Tage – nun, für mich kommen auch zehn Tage nicht infrage, ich hielte sie nie aus bei meinem wilden Alkoholhunger! Aber ich, ich werde ja auch in ein paar Minuten entlassen!
Und dann, wie ist es mit dem Frühstück? Auch Gefangene müssen ein Frühstück bekommen, vermutlich Wasser und trocken Brot, aber immerhin ein Frühstück. Es ist jetzt mindestens halb zehn Uhr, nach dem Sonnenstand zu urteilen, und mir hat man noch kein Frühstück gebracht! Das ist natürlich wieder ein Zeichen, dass man es nicht schlimm mit mir meint. Man will mich so schnell entlassen, dass man nicht einmal ein Frühstück an mich wendet. Der Wachtmeister spart es, ich kann mir ja draußen eins kaufen! Das ist so klar wie der Tag.
Für den Augenblick völlig beruhigt, werfe ich mich wieder auf den Strohsack und versuche zu schlafen. Ich denke an Elinor, ich versuche an die Süße des Augenblicks zu denken, als sie mir den Schnaps aus ihrem Munde zu trinken gab, aber seltsam, jetzt scheint mir das nicht mehr süß. Nein, ich will nicht mehr an den Landgasthof denken, es war zu widerlich dort, und wie fein sie mich ausgebeutelt hat, diese kleine Hure, wie den allerletzten dummen Jungen! Aber zu ihr werde ich nicht gehen wie zu Polakowski, soll sie mit ihrem Raub glücklich werden oder verrecken, ich will nie wieder etwas von ihr sehen! Ich lebe von nun an nur für Magda. Es ist nur gut, dass ich mit diesen Leuten im Gasthof so völlig durch bin; ich habe alles bezahlt, sie können mir gar nichts mehr wollen, ich werde sie nie wiedersehen. Ich wollte nur, ich wüsste über Magdas Stellung zu mir schon so gut Bescheid …
So gehen meine Gedanken. Dazwischen schlafe ich ein bisschen, drusele so halb ein und bin auch plötzlich ganz fort, wie in einer tiefen Ohnmacht. Und da bin ich wieder wach, fühle von Neuem die Qual in meinem Leib, stöhne: »Mein Gott! Mein Gott! Das halte ich nicht aus – komme ich denn noch nicht fort?« Ich renne hin und her, rüttele auch einmal an den Eisenstangen, lehne mich gegen die Tür, in der wahnsinnigen Hoffnung, dass sie vielleicht offengeblieben ist, und denke an Magda … Ehrlich gesagt: Ich habe Angst vor Magda … Sie kann so verflucht energisch sein … Aber ich bin ihr Mann, wir haben uns geliebt, sie wird mir verzeihen, sie muss es … So dreht sich die ewig gleiche Gedankenmühle …
Ich habe wieder einmal geschlafen. Das Klirren des Schlüssels hat mich geweckt. Ich springe von meinem Lager und sehe erwartungsvoll den vier Herren entgegen, die in meine Zelle eintreten. Zweien gönne ich nur einen kurzen Blick: Sie tragen die Uniform der Polizei. Der eine ist der Wachtmeister aus der Nacht, der mich hierher gebracht hat, der andere ist ein Polizeibeamter, den ich aus meiner Vaterstadt gut kenne. Manches Mal habe ich bei einem Glase Bier einen Skat mit ihm gespielt, ein guter, ordentlicher Mensch, natürlich nicht aus meiner Gesellschaftsklasse, aber ich war nie stolz. Von den beiden anderen Herren in Zivil kenne ich den einen nicht, es ist ein junger Herr mit scharf geschnittenem Gesicht und etwas starrenden, strengen Augen. Seine Unterlippe wölbt sich stark vor. Der andere Zivilist ist mir aber umso besser bekannt, es ist unser guter alter Hausarzt, der Dr. Mansfeld.
Im Augenblick, da ich ihn erkenne, schießt es mir blitzschnell durch den Kopf, dass ich also doch nicht entlassen werde. Er wird mich in eine Trinkerheilstätte bringen. Aber auch das ist nicht schlimm, im Gegenteil, das ist vielleicht noch viel besser. In einem solchen Haus werden mir meine jetzigen Qualen abgenommen, sicher haben sie dort Mittel dagegen, und dann ersparen sie mir die sofortige Auseinandersetzung mit Magda. Über einen in solchem Haus untergebrachten Kranken wird Magda viel milder denken …
All das habe ich in Sekundenschnelle überlegt und bin dabei auf den Arzt zugeeilt. Ich schüttele ihm die Hand, ich sage erregt: »Ich danke Ihnen, dass Sie gekommen sind, Herr Dr. Mansfeld. Sehen Sie«, ich lache ein wenig verlegen, »wie man mich hier untergebracht hat!« Und ich werfe einen Blick auf die schmutzige Zelle.
Dr. Mansfeld drückt meine Hand kräftig. Ich merke, auch er ist erregt, sein Gesicht zittert. »Ja, mein lieber Herr Sommer«, sagt er, und seine Stimme zittert. »Ich habe es nicht gewollt, dass es so mit Ihnen enden muss …«
»Enden?«, sage ich und versuche, meiner Stimme einen leichten Klang zu geben. »Enden, Herr Dr. Mansfeld? Ich denke, dies ist ein neuer Anfang! Sie bringen mich in eine Heilstätte und machen mich wieder gesund!«
»Das wollte ich vor vierzehn Tagen, mein lieber Herr Sommer«, sagt Dr. Mansfeld kopfschüttelnd. »Aber Sie haben es ja leider unmöglich gemacht. Jetzt hat der Herr Staatsanwalt das Wort.«
Und damit sieht er zu dem jüngeren Herrn mit den starrenden Augen hinüber, der jetzt seine vorstehende Unterlippe noch weiter vorschiebt, mich streng anschaut und erst zögernd sagt: »Ja, ja, natürlich.« Dann rasch: »Ich muss Sie wegen Mordversuchs an Ihrer Frau verhaften, Herr Sommer. Sie sind verhaftet!«
Ich stehe wie vom Donner gerührt, ich kann im ersten Augenblick kein Wort über die Lippen bringen. ›Dies kann kein Ernst sein‹, denke ich fieberhaft. ›Sie wollen dich nur schrecken. Mordversuch an Magda …?‹ Endlich kann ich sprechen, ich sage mit zitternder Stimme: »Mordversuch an meiner Frau, das ist doch lächerlich! Ich habe Magda doch nie ermorden wollen!«
Der Herr Staatsanwalt sieht mich vernichtend an und stößt scharf hervor: »Wir werden Ihnen schon beibringen, wie lächerlich das ist, Sommer!« Und: »Kommen Sie, Herr Doktor!« Noch einmal zu dem städtischen Wachtmeister: »Sie wissen also Bescheid, Wachtmeister. Führen Sie den Mann ab!«
»Herr Dr. Mansfeld!«, rufe ich aufgeregt, maßlos verzweifelt hinter den Fortgehenden drein. »Herr Dr. Mansfeld, Sie wissen doch, wie sehr ich Magda geliebt …«
Die Tür schlägt hinter den beiden Zivilisten zu, ich bin mit den beiden Uniformierten allein. Fassungslos hocke ich mich auf meinen Strohsack und verberge das Gesicht in den Händen.
Nachdem ich eine Weile bewegungslos so dagesessen hatte und immer wieder die gegen mich erhobene Anklage »Mordversuch an der eigenen Frau« qualvoll hin und her gewälzt hatte, legte der Wachtmeister aus meiner Vaterstadt, Herr Schulze, seine Hand auf meine Schulter und sagte, milde mahnend: »Wir müssen jetzt gehen, Sommer!«
»Sommer«, wie mich das anrührte, dieses einfache »Sommer« ohne »Herr«; so von einem ganz einfachen Mann mit einem Jahreseinkommen von kaum mehr als zweitausendvierhundert Mark angeredet zu werden, das machte mir die Veränderung meiner Lebensumstände aufs Deutlichste begreiflich. Seit ich aus der Lehre entlassen worden war, hatte mich noch kein Mensch ohne »Herr« angeredet, und nun … Ich nahm die Hände vom Gesicht und fragte, mit Tränen in den Augen: »Wohin bringen Sie mich, Herr Schulze?«
Ich betonte das »Herr«, aber er achtete nicht darauf, solch einfacher Mann hatte für so feine Schattierungen wohl kein Gefühl. »Nur zum Amtsgericht, Sommer«, sagte er. »Nur zum Amtsgericht.« Und er fuhr fort: »Sehen Sie, Sommer, Sie sind doch ein gebildeter Mann, Sie werden mir doch keine Schwierigkeiten machen? Ich müsste Sie wohl eigentlich an die Kette nehmen, aber wenn Sie mir versprechen, keine Schwierigkeiten zu machen …«
»Ich verspreche es Ihnen, Herr Schulze«, sagte ich eifrig und jetzt fast fröhlich. »Ich verspreche es Ihnen auf Ehre und Gewissen.«
»Schön«, antwortete er. »Ich will mich auf Sie verlassen. Ziehen Sie Ihren Mantel an, da liegt noch Ihr Hut, sonst haben Sie nichts? Also kommen Sie!«
Er ging mit mir aus der Zelle, wir stiegen eine Treppe hinunter und standen auf der Dorfstraße. Ich war erst ein paar Stunden in dem halbdunklen Gefängnis gewesen, und doch überwältigten mich schon Weite und Helle ringsum. Mein Herz klopfte schneller bei diesem Gruß der Freiheit.
›Wenn du jetzt‹, dachte ich schnell, ›über den Zaun dort springen und durch den buschigen Garten laufen würdest, über die Wiesen in den Wald hinein – ob Schulze sich wohl sehr viel Mühe geben würde, dich wieder einzufangen? Ob er gar hinter dir herschießen würde wie hinter einem richtigen Verbrecher? Ach nein‹, dachte ich mit einem schwachen Lächeln, ›das würde er nie tun. Wir haben doch öfter Skat miteinander gespielt, und er weiß, wer ich bin und was ich vorstelle. Aber ich will ihm ja gar nicht weglaufen‹, dachte ich schnell. ›Ich habe ihm versprochen, keine Schwierigkeiten zu machen, und ich bin ein Mann von Wort. Aber etwas anderes will ich von ihm …‹ Als Schulze vorhin davon gesprochen hatte, dass er mich zum Amtsgericht bringen müsste, war diese Möglichkeit hoffnungsvoll vor mir aufgetaucht. »Herr Schulze«, sagte ich sehr höflich, »ich habe eine Bitte an Sie …«
»Nun, was ist denn noch, Sommer?«, fragte er. »Gehe ich zu schnell? Wir können ruhig auch langsamer gehen, der Zug fährt erst in zwanzig Minuten.«
»Sehen Sie, Herr Schulze«, fing ich an. »Ich habe so furchtbare Zahnschmerzen, und da drüben sehe ich gerade einen Gasthof. Darf ich nicht schnell einmal hineingehen und einen Kognak oder Rum trinken? Das hilft mir sofort gegen die Zahnschmerzen. Sie können«, fuhr ich schnell fort, »ruhig neben mir an der Theke stehen, wenn Sie Angst haben, ich laufe Ihnen fort. Ich laufe Ihnen bestimmt nicht fort, es ist nur wegen meiner grässlichen Zahnschmerzen.«
»Das schlagen Sie sich nur ruhig aus dem Kopf!«, sagte der Wachtmeister bestimmt. »Da müsste ich ja wohl meinen Rock ausziehen, wenn bekannt würde, ich habe mit einem Gefangenen Schnaps an der Theke getrunken. Daraus wird nichts, Sommer.«
»Aber es kennt mich hier doch kein Mensch, Herr Schulze«, rief ich bittend. »Es kommt bestimmt nie heraus!«
»Da!«, rief der Wachtmeister und legte grüßend die Hand an den Tschako. Das Auto des Arztes, in dem neben Dr. Mansfeld der Staatsanwalt saß, war an uns vorübergefahren. »Wenn die beiden uns hätten in den Gasthof reingehen sehen, ich wäre schon ›drin‹ gewesen! Also, kommen Sie jetzt weiter, Sommer.«
»Herr Schulze«, sagte ich flehend und ging keinen Schritt von diesem Platz am Gasthof, meiner letzten Chance. »Nun ist aber wirklich kein Einziger mehr hier, der mich kennt. Tun Sie mir doch den Gefallen! Nur ein einziger Schnaps! Ich will meiner Frau auch sagen, sie soll Ihnen hundert Mark …«
»Nun wird es mir aber doch zu bunt!«, schrie der Wachtmeister und war rot vor Zorn. »Sind Sie denn ganz verrückt geworden, Sommer? Das ist ja eine Beamtenbestechung, die Sie da versucht haben! Das müsste ich ja eigentlich auf der Stelle anzeigen! Sofort kommen Sie jetzt mit, oder ich nehme Sie an die Kette!«
Völlig verschüchtert, gänzlich niedergeschmettert, der letzten Hoffnung beraubt, folgte ich dem aufgebrachten Herrn Schulze. Eine Weile gingen wir schweigend nebeneinanderher, er ärgerlich vor sich hin murmelnd, ich mit gesenktem Kopf und schleppenden Gliedern.
Dann sagte der Wachtmeister ruhiger: »Ich verstehe Sie nicht, Sommer. Sie waren sonst doch ein ganz ordentlicher, solider Mann, und nun machen Sie solche Zicken! Haben Sie denn noch immer nicht genug von der ollen Sauferei? Hat Sie die nicht schon weit genug ins Unglück gestürzt? Jedenfalls will ich Ihre Lage nicht noch schlimmer machen, als sie schon ist. Ich habe nichts gehört. Aber nun seien Sie auch ein Kerl, Sommer, und reißen Sie sich zusammen. In ein paar Tagen sind Sie aus dem Keller raus und haben wieder einen klaren Kopf, und dass Sie den gewaltig brauchen werden, das müssten Sie nach den Worten des Herrn Staatsanwaltes doch eigentlich wissen!«
Ich hörte mir das alles schweigend und ohne zu antworten an. Es demütigte und kränkte mich tief, dass ein so einfacher Mann wie der Wachtmeister Schulze es sich herausnehmen durfte, so mit mir zu reden. Freilich wusste ich damals noch nicht, dass ich erst am Anfang eines langen Leidensweges stand und dass noch ganz andere und sehr viel tiefer stehende Menschen noch viel, viel deutlicher mit mir reden würden.
Wir waren auf dem Bahnhof angekommen, und Wachtmeister Schulze kaufte hier zwei Fahrkarten dritter Klasse für uns. »So«, sagte er dann und trat mit mir auf den Bahnsteig unter die dort wartenden Leute hinaus. »Und nun lassen Sie den Kopf nicht hängen, Sommer, sondern unterhalten Sie sich ruhig mit mir, dann merkt keiner was, sondern jeder denkt, wir sind gute Bekannte und haben uns ganz zufällig getroffen. Wir sind ja wohl auch schon daheim nach dem Skat miteinander die Breite Straße ein Stück lang gemeinsam gegangen, und Sie und keiner ist auf den Gedanken gekommen, dass wir etwas anderes als Bekannte wären …«
Damit hatte er recht. Und da ich nun den Schreck über den abgeschlagenen Schnaps einigermaßen überwunden hatte, kam wirklich eine ganz vernünftige Unterhaltung zustande, erst über die eben einsetzende Heuernte, dann über die allgemeinen Ernteaussichten. Schulze und ich, wir waren beide der Ansicht, dass es im Allgemeinen nicht schlecht aussähe, jetzt aber müsse Regen kommen, das Frühjahr sei zu trocken gewesen, und besonders die Sommerung,1 aber auch die Hackfrüchte brauchten nötigst Feuchtigkeit.
Die kurze Bahnfahrt verging mir so schnell genug, und von den im Abteil Mitreisenden ist wohl keiner auf den Gedanken gekommen, dass hier ein des Mordversuches Verdächtiger abgeführt wurde. (Manchmal wollte ich mir als so schwerer Verbrecher wahrhaft glorios verrucht vorkommen.) Als wir dann aber auf dem heimatlichen Bahnhof ankamen und uns durch viele Wartende hindurchzwängten, in die Bahnhofshalle kamen, und auf den Platz vor dem Bahnhof, da wurde mir wieder ganz bänglich zumute. Denn jeden Augenblick konnte ich jetzt einem nächsten Bekannten, ja meinen eigenen Angestellten, ja meiner eigenen Frau begegnen.
Ich zog den Wachtmeister am Ärmel und bat ihn: »Herr Schulze, können wir nicht ein bisschen hintenrum und durch die Anlagen gehen? Ich kenne hier so viele Menschen, und es wäre mir wirklich peinlich …«
Herr Schulze nickte mit dem Kopf. »Mir soll es recht sein. Es ist ja schließlich egal, ob Sie eine Viertelstunde früher oder später im Amtsgericht ankommen. Aber jetzt möchte ich mich erst ein bisschen leichter machen …«
Und damit ging Herr Schulze mit mir schräg über den Bahnhofsplatz auf jenes Gebäude zu, das ich, von der anderen Richtung kommend, gute vierundzwanzig Stunden zuvor mit Polakowski aufgesucht hatte. Es war ein seltsames Gefühl, wieder in diesem Raum mit seinen sechs Becken zu stehen, das Wasser rauschen zu hören und den schmutzig-nassen Steinboden anzusehen. Hier hatte ich mich im Kampf mit Polakowski gewälzt – so kurze Zeit war es erst her, und doch schien es schon ganz unglaubhaft. Wie ein wilder Traum, der, solange man ihn träumte, völlig überzeugte, und der schon direkt nach dem Erwachen lächerlich grotesk anmutete. Aber ich hatte hier mit Polakowski gekämpft, es war kein Traum gewesen, und diesem abgefeimten Schurken gegenüber banden mich weder Rücksicht noch Wort.
Als wir darum wieder aus der Anstalt hinaustraten und schön sachte um die Stadt herum unter Vermeidung aller belebteren Straßen weitergingen, fasste ich mir ein Herz und erzählte dem Wachtmeister Schulze schön der Reihe nach alles, was ich mit Polakowski erlebt hatte, von meinem ersten Auftauchen nach meiner Flucht aus dem Arztauto in der von Wrasen2 erfüllten Waschküche an bis zu meinem Kampf um Koffer und Geld in der Toilette. Der Wachtmeister Schulze hatte in seinem Beruf wohl manches von menschlichen Leidenschaften und Verirrungen erlebt, um noch viel über so etwas zu erstaunen, bei meiner Erzählung blieb er aber doch einige Male fast erregt stehen, sagte mehrfach lebhaft: »Donnerwetter, es ist nicht zu glauben.« – »Was Sie nicht sagen! Ist das wirklich wahr, Sommer?«, pfiff auch durch die Zähne.
Als ich dann geendet hatte und auf einen Empörungsausbruch über den Schurken Polakowski wartete, schwieg der Wachtmeister Schulze eine ganze Weile, und dann meinte er bedächtig, mich groß ansehend: »Ich kenne Sie ja eigentlich bloß vom Skat her, das heißt, ich kenne Sie gar nicht, aber ich habe Sie immer doch für einen vernünftigen und überlegten Geschäftsmann gehalten. Dass Sie – entschuldigen Sie, aber es ist die Wahrheit – ein so bodenloses Rindvieh sind, Sommer, das habe ich mir freilich nicht einmal im Traum eingebildet. Sie mögen es drehen und wenden, wie Sie wollen, es ist nicht nur der Suff gewesen, mit dem Suff allein können Sie so viel Doofheit nicht entschuldigen. Vom ersten Tage an haben Sie sehen müssen, was für ein Gauner der Kerl war, haben’s auch gesehen und sind doch nicht fortgegangen, wo man Sie in jedem kleinen Gasthof so viel hätte saufen lassen, wie Sie nur wollten. Nein, es ist Ihnen ganz recht geschehen, dass der Kerl Sie ausgenommen hat. Sie haben’s nicht besser verdient, und ich wollte nur, er hätte Ihnen auch noch die letzten tausend Mark abgenommen, da hätten Sie den Unfug in dem Gasthof nicht auch noch anstellen können …«
Der Wachtmeister holte Atem und sah mich strafend an, ich aber war über diese ganz unerwartete Wirkung meines Berichtes aufs Äußerste empört und sagte böse: »Darum habe ich Ihnen wirklich nicht die ganze Geschichte erzählt, damit Sie mir hier eine Moralpauke halten, Wachtmeister Schulze …«
»Herr Wachtmeister Schulze, bitte, Sommer!« verbesserte Schulze streng.
»Sondern ich dachte«, fuhr ich wütend fort, »dass Sie sich sofort Mühe geben würden, diesen Lumpen von Polakowski zu fangen …«
»So ist es richtig«, lachte der Wachtmeister spöttisch. »Erst stecken Sie in Ihrer Dummheit und Besoffenheit einem Verbrecher Ihr Hab und Gut direkt in die Hand, und dann schreien Sie nach der Polizei und verlangen, dass wir noch ach und weh schreien und Hals über Kopf hinter Ihren sieben Zwetschgen dreinlaufen sollen! Ich kann’s Ihnen nur noch einmal sagen: Sie haben es nicht besser verdient, und wenn Ihre arme Frau nicht wäre, die ja allein die Last Ihrer Dummheiten tragen muss, ich risse mir wirklich kein Bein um die Sache aus. Um Ihrer Frau willen, Sommer, wohlgemerkt, um Ihrer Frau willen werde ich aber, sobald ich Sie erst nach Nummer Sicher gebracht habe, dem Leutnant gleich Bericht machen, und es ist ja möglich, dass dieser Vogel noch nicht über alle Berge ist – so bald erwartet er uns vielleicht noch nicht.
Nun aber kommen Sie ein bisschen schnell, ich möchte Sie jetzt gerne bald abgeliefert haben, sonst machen Sie noch eine frische Dummheit. Von Ihnen kann man ja einfach alles erwarten. Du lieber Himmel! Nie in meinem Leben werde ich wieder auf eine solche Fassade reinfallen, wunder habe ich gedacht, was Sie für ein tüchtiger Kerl sind, aber wahrscheinlich hat alles die Frau gemacht. Wie soll die Ihnen je den Mist, den Sie da angerichtet haben, verzeihen!«
Damit gingen wir los und redeten auch kein einziges Wort mehr bis zum Amtsgericht; Schulze war wohl schon innerlich mit dem Bericht an den Leutnant beschäftigt, ich aber war wirklich tief gekränkt über all die Ungerechtigkeiten, die mir dieser subalterne Beamte ganz frech ins Gesicht gesagt hatte. Wenn der Mann nicht einsah, dass ich einfach krank gewesen war, als hilfloser Kranker einem Schurken ausgeliefert, so war ihm nicht zu helfen, dann war er der Dumme. Ich jedenfalls war es bestimmt nicht. Ich war nur krank gewesen, war es noch immer …