Nachdem Otto Quangel gegangen war, verfiel Anna Quangel in einen Zustand benommenen Vorsichhinbrütens, aus dem sie aber bald wieder hochschreckte. Sie tastete die Bettdecke nach den beiden Postkarten ab, fand sie aber nicht. Sie überlegte und konnte sich nicht erinnern, dass Otto die Karten mitgenommen hatte. Nein, im Gegenteil, jetzt wusste sie wieder genau, dass sie selbst morgen oder übermorgen die Karten wegbringen wollte – so war es ausgemacht.
Die Postkarten mussten also in der Wohnung sein. Und sie beginnt, eisig oder durchglüht vom Fieber, die Nachsuche. Sie dreht die Wohnung um, sie sucht zwischen der Wäsche, sie kriecht unter das Bett. Sie atmet nur mühsam, manchmal setzt sie sich auf die Bettkante, weil sie einfach nicht weiterkann. Sie zieht die Decke um sich und starrt vor sich hin, jetzt hat sie die Postkarten ganz vergessen. Aber gleich schreckt sie wieder hoch und beginnt von Neuem mit der Nachsuche.
So verbringt sie die Stunden, bis die Klingel anschlägt. Sie stutzt. Es hat also geklingelt? Wer kann geklingelt haben? Wer will etwas von ihr?
Und sie verfällt in ein neues fieberisches Dämmern, aus dem sie das zweite Klingelzeichen hochschreckt. Diesmal geht die Klingel lange, schrill fordert sie Einlass. Und nun wird sogar mit den Fäusten gegen die Tür geschlagen. Sie hört Rufe: »Aufmachen! Polizei! Sofort aufmachen!«
Anna Quangel lächelt, und lächelnd legt sie sich wieder ins Bett, die Decke fest um sich stopfend. Mögen die nur klingeln und rufen! Sie ist krank, sie ist nicht verpflichtet zu öffnen. Mögen die ein andermal wiederkommen oder dann, wenn Otto da ist. Sie macht nicht auf.
Und weiter Klingeln, Rufen, Bummern …
Solche Affen, die! Als wenn ich deswegen aufmachte! Die können mir alle den Buckel langrutschen!
In dem Fieberzustand, in dem sie jetzt ist, kommt ihr weder der Gedanke an die vermissten Karten noch an die Gefahr, die dieser polizeiliche Besuch bedeutet. Sie freut sich nur, dass sie krank ist und darum nicht aufzumachen braucht.
Dann sind die natürlich doch in der Stube, fünf oder sechs Männer – haben sich einen Schlosser geholt oder mit einem Dietrich die Türe aufgemacht. Die Kette hat ja nicht vorgelegen, wegen ihrer Krankheit hat sie nach Ottos Fortgang nicht übergekettet. Grade heute – sonst liegt die Kette immer vor.
»Sie heißen Anna Quangel? Sie sind die Frau des Werkmeisters Otto Quangel?«
»Ja, lieber Herr. Schon achtundzwanzig Jahre.«
»Warum haben Sie nicht aufgemacht auf unser Klingeln und Klopfen?«
»Weil ich krank bin, lieber Herr. Ich hab die Grippe!«
»Spielen Sie uns hier kein Theater vor!«, schreit ein Dicker in schwarzer Uniform dazwischen. »Sie sind so wenig krank wie mein Arsch! Sie simulieren bloß!«
Kommissar Escherich winkt seinem Vorgesetzten beruhigend zu. Dass diese Frau wirklich krank ist, kann selbst ein Kind sehen. Und vielleicht ist es gut, dass sie krank ist: viele Leute schwatzen im Fieber. Während seine Leute die Wohnung zu durchsuchen beginnen, wendet sich der Kommissar wieder zu der Frau. Er nimmt ihre heiße Hand und sagt teilnahmsvoll: »Frau Quangel, ich muss Ihnen leider eine schlechte Nachricht bringen …«
Er macht eine Pause.
»Na?«, fragt die Frau, aber gar nicht ängstlich.
»Ich hab Ihren Mann verhaften müssen.«
Die Frau lächelt. Anna Quangel lächelt nur. Lächelnd schüttelt sie den Kopf und sagt: »Nee, lieber Herr, so was können Sie mir nicht erzählen! Den Otto verhaftet keiner, der ist ein anständiger Mensch.« Sie neigt sich zu dem Kommissar hinüber und flüstert: »Wissen Sie, lieber Herr, was ich glaube? Ich träume das alles nur. Ich habe nämlich Fieber. Grippe, hat der Doktor gesagt, und im Fieber träumt man so was. Ich träume das alles: Sie und den schwarzen Dicken und den Herrn dort an der Kommode, der in meiner Wäsche rumwühlt. Nee, mein lieber Herr, den Otto haben Sie nicht verhaftet, das träume ich nur.«
Der Kommissar Escherich sagt ebenso flüsternd: »Frau Quangel, jetzt träumen Sie auch von den Postkarten. Sie wissen doch von den Karten, die Ihr Mann immer geschrieben hat?«
Aber so sehr hat das Fieber Anna Quangels Sinne nicht verwirrt, dass sie nicht bei dem Wort »Postkarten« aufmerkte. Sie schreckt zusammen. Einen Augenblick ist das Auge, das auf den Kommissar gerichtet ist, ganz klar und wach. Aber dann sagt sie, wieder lächelnd, mit dem Kopf schüttelnd: »Was denn für Karten? Mein Mann schreibt doch keine Karten! Wenn was geschrieben wird hier bei uns, so tu ich das. Aber wir schreiben schon lange nicht mehr. Seit mein Sohn gefallen ist, schreiben wir nicht mehr. Das träumen Sie bloß, lieber Herr, dass mein Otto Karten geschrieben hat!«
Der Kommissar hat das Zusammenschrecken gesehen, aber ein Zusammenschrecken ist noch kein Beweis. So sagt er: »Sehen Sie, und seit Ihr Sohn gefallen ist, schreiben Sie die Postkarten, Sie beide. Erinnern Sie sich nicht mehr an die erste Karte?«
Und er wiederholt mit einer gewissen Feierlichkeit: »Mutter! Der Führer hat mir meinen Sohn ermordet! Der Führer wird auch Deine Söhne ermorden, er wird noch nicht aufhören, wenn er Trauer in jedes Haus der Welt gebracht hat …«
Sie horcht. Sie lächelt. Sie sagt: »Das hat ’ne Mutter geschrieben! Das hat mein Otto nicht geschrieben, das träumen Sie bloß!«
Und der Kommissar: »Das hat Otto geschrieben, und du hast’s ihm diktiert! Sag’s!«
Aber sie schüttelt den Kopf. »Nein, lieber Herr! So was kann ich ja gar nicht diktieren, dafür reicht mein Kopf nicht …«
Der Kommissar steht auf und geht aus der Schlafstube. In der Wohnstube fängt er an, mit seinen Leuten nach Schreibzeug zu suchen. Er findet ein Fässchen mit Tinte, Federhalter und Feder, die er aufmerksam betrachtet, und eine Feldpostkarte. Er geht damit zu Anna Quangel zurück.
Die hat unterdes der Obergruppenführer Prall vernommen, auf seine Art. Prall ist fest davon überzeugt, dass all dies Getue von Grippe und Fieber nur »Fiole« ist, dass die Frau simuliert. Aber wenn sie auch wirklich krank wäre, würde das an seinen Vernehmungsmethoden nicht das Geringste ändern. Er packt Anna Quangel bei den Schultern, doch so, dass es ihr wirklich weh tut, und fängt an, sie zu beuteln. Der Kopf schlägt gegen die hölzerne Bettwand. Während er sie so zwanzig-, dreißigmal hochreißt und wieder in das Kissen drückt, schreit er ihr wütend ins Gesicht: »Willst du noch weiter lügen, du olle Kommunistensau? Du – sollst – nicht – lügen! Du – sollst – nicht – lügen!«
»Nicht!«, lallt die Frau. »Sie sollen das nicht!«
»Sag, dass du die Karten geschrieben hast! Sag – das – auf – der – Stelle! Oder – ich – schlage – dir – deinen – Bregen – kaputt, du rote Sau, du!«
Und bei jedem Wort lässt er ihren Kopf gegen die Bettwand krachen.
Der Kommissar Escherich, das Schreibzeug in der Hand, sieht von der Tür her mit einem Lächeln zu. Das ist also eine Vernehmung durch den Obergruppenführer! Wenn er noch fünf Minuten so weitermacht, wird die Frau fünf Tage lang vernehmungsunfähig sein. Keine noch so raffiniert ausgedachte Quälerei wird ihr dann das Bewusstsein wiedergeben.
Aber für einen Augenblick ist das vielleicht nicht einmal so schlecht. Soll die ruhig ein bisschen Angst kriegen und Schmerzen haben, umso eher wird sie sich an ihn, den höflichen Mann, klammern!
Als der Obergruppenführer den Kommissar am Bett auftauchen sieht, hört er mit seiner Beutelei auf und sagt halb entschuldigend und halb vorwurfsvoll: »Sie sind viel zu sanft mit solchen Weibern, Escherich! Die muss man schleifen, bis sie quieken!«
»Gewiss, Herr Obergruppenführer, sicher! Aber darf ich der Frau erst einmal etwas zeigen?«
Er wendet sich an die Kranke, die jetzt mühsam keuchend und mit geschlossenen Augen im Bett liegt: »Frau Quangel, hören Sie mal her!«
Sie scheint nicht zu hören.
Der Kommissar fasst sie an und setzt sie vorsichtig auf. »So«, sagt er, sanft zuredend. »Nun machen Sie mal die Augen auf!«
Sie tut es. Escherich hat ganz richtig gerechnet: nach dem Schütteln und Drohen eben klingt ihr die freundlich-höfliche Stimme angenehm.
»Sie haben mir doch eben gesagt, dass bei Ihnen hier schon lange keiner geschrieben hat? Nun, sehen Sie sich mal diese Feder an. Mit der ist grade erst geschrieben, vielleicht heute oder gestern, die Tinte sitzt noch ganz frisch dran! Sehen Sie, ich kann sie mit dem Nagel abkratzen!«
»Davon versteh ich nichts!«, sagt Frau Quangel abweisend. »Da müssen Sie meinen Mann nach fragen, von so was versteh ich nichts.«
Kommissar Escherich sieht sie aufmerksam an. »Sie verstehen ganz gut, Frau Quangel!«, sagt er etwas schärfer. »Bloß, Sie wollen nicht verstehen, weil Sie wissen, Sie haben sich schon verraten!«
»Bei uns schreibt keiner«, wiederholt Frau Quangel hartnäckig.
»Und Ihren Mann brauche ich nicht mehr zu befragen«, fährt der Kommissar fort. »Weil er nämlich schon alles gestanden hat. Er hat die Karten geschrieben, und Sie haben sie ihm diktiert …«
»Na, denn ist’s ja gut, wenn Otto das gestanden hat«, sagt Anna Quangel.
»Hau das freche Aas doch in die Fresse, Escherich!«, schreit der Obergruppenführer plötzlich dazwischen. »So ’ne Frechheit, uns hier anzusohlen!«
Aber der Kommissar haut das freche Aas nicht in die Fresse, sondern er sagt: »Wir haben Ihren Mann geschnappt mit zwei Postkarten in der Tasche. Er konnte ja gar nicht leugnen!«
Als Frau Quangel das mit den beiden Postkarten hört, die sie so lange im Fieber gesucht hat, fährt wieder ein Erschrecken durch sie. Also hat er sie doch mitgenommen, und sie hatten doch fest ausgemacht, dass sie die Karten morgen oder übermorgen einstecken sollte. Das war nicht recht von Otto.
Irgendwas muss passiert sein mit den Karten, überlegt sie mühsam. Aber gestanden hat Otto nichts, sonst würden sie hier nicht so herumsuchen und mich ausfragen. Sondern sie würden …
Und laut fragt sie: »Warum bringen Sie denn den Otto nicht her? Ich weiß nicht, was das sein soll mit Postkarten. Warum soll er denn Postkarten schreiben?«
Weit legt sie sich wieder zurück, den Mund und die Augen geschlossen, fest entschlossen, kein Wort mehr zu sagen.
Kommissar Escherich sieht einen Augenblick nachdenklich auf die Frau hinunter. Sie ist sehr erschöpft, das sieht er. Im Augenblick ist nichts mit ihr anzufangen. Er wendet sich kurz um, ruft zwei seiner Leute und befiehlt: »Legen Sie die Frau in das andere Bett da rüber, und dann durchsuchen Sie dieses Bett genau! Bitte, Herr Obergruppenführer!«
Er will seinen Vorgesetzten aus dem Zimmer haben, er will nicht noch eine Prall’sche Vernehmung. Es ist sehr möglich, dass er diese Frau in den nächsten Tagen notwendig braucht, dann muss sie ein bisschen bei Kräften und bei klarem Verstand sein. Außerdem scheint sie zu den nicht grade häufigen Menschen zu gehören, die körperliche Bedrohung nur noch bockbeiniger macht. Mit Schlägen ist aus der bestimmt nichts rauszukriegen.
Der Obergruppenführer geht nicht gerne von diesem Weibe fort. Er hätte es der ollen Nutte doch gar zu gerne gezeigt, was er von ihr hielt. Er hätte seinen Zorn über diese ganze verfahrene Klabautermanngeschichte am liebsten bei ihr ausgelassen. Aber wenn schon diese beiden Schnüffler im Zimmer waren – und außerdem: heute Abend steckte das alte Biest doch im Bunker in der Prinz-Albrecht-Straße, dann konnte er mit ihr machen, was er wollte.
»Sie werden die Olle doch festnehmen, Escherich?«, fragte er in der Wohnstube.
»Gewiss werde ich das«, antwortete der Kommissar und sah gedankenlos seinen Leuten zu, die mit pedantischer Gründlichkeit jedes Wäschestück auseinanderfalteten und wieder zusammenlegten, mit langen Nadeln die Sofapolster durchstachen und die Wände abklopften. Er setzte hinzu: »Aber ich muss sehen, dass ich sie erst in einen vernehmungsfähigen Zustand kriege. In diesem Fieber begreift sie alles nur halb. Sie muss erst verstehen, dass sie in Lebensgefahr ist. Dann kriegt sie Angst …«
»Ich werde ihr schon Angst beibringen!«, knurrte der Obergruppenführer.
»Nicht auf diese Art – jedenfalls muss sie dafür erst fieberfrei sein«, bat Escherich und unterbrach sich: »Was haben wir denn da?«
Einer seiner Leute hatte sich mit den wenigen Büchern beschäftigt, die auf einem kleinen Regal aufgereiht waren. Er hatte ein Buch geschüttelt, und etwas Weißes war auf die Erde geflattert.
Der Kommissar war der Schnellste. Er hob das Stück Papier auf.
»Eine Karte!«, rief er. »Eine angefangene und noch nicht zu Ende geschriebene Karte!«
Und er las vor: »Führer befiehl, wir folgen! Ja, wir sind eine Herde Schafe geworden, die unser Führer auf jede Schlachtbank treiben darf! Wir haben das Denken aufgegeben …«
Er ließ die Karte sinken, er sah sich um.
Alle blickten auf ihn.
»Wir haben den Beweis!«, sagte Kommissar Escherich fast stolz. »Wir haben den Täter. Er ist einwandfrei überführt, kein abgepresstes Geständnis, nein, ein klarer kriminalistischer Beweis. Es hat sich gelohnt, so lange zu warten!«
Er sah sich um. Seine blassen Augen glänzten jetzt. Dies war seine Stunde, die Stunde, auf die er so lange gewartet hatte. Einen Augenblick dachte er an den langen, langen Weg zurück, den er bis hierher gegangen war. Von der ersten Karte an, die er noch mit lächelnder Gleichgültigkeit aufgenommen hatte, bis zu dieser, die nun in seiner Hand war. Er dachte an die anschwellende Flut der Karten, die sich ständig vermehrenden roten Fähnchen, er dachte auch an den kleinen Enno Kluge.
Wieder stand er in der Zelle des Reviers bei ihm, wieder saß er mit ihm über dem dunklen Wasser des Schlachtensees. Dann fiel ein Schuss, und er glaubte sich für sein Leben blind. Er sah sich selbst, zwei SD-Männer warfen ihn die Treppe hinunter, blutend, vernichtet, während ein kleiner Taschendieb auf den Knien herumrutschte, seine heilige Jungfrau Maria anrufend. Ganz flüchtig dachte er auch an den Kriminalrat Zott – der Arme, auch seine Theorie mit den Straßenbahnhöfen hatte sich als falsch erwiesen.
Dies war die stolze Stunde des Kommissars Escherich. Er fand, es hatte sich gelohnt, geduldig zu sein und vieles zu ertragen. Er hatte ihn, seinen Klabautermann, wie er ihn zuerst im Scherz genannt hatte, aber er war ein richtiger Klabautermann geworden: er hatte Escherichs Lebensschiff fast zum Scheitern gebracht. Aber nun war er gefasst, die Jagd war zu Ende, das Spiel ausgespielt.
Kommissar Escherich sah wie aufwachend hoch. Er sagte befehlend: »Die Frau wird mit einem Krankenwagen fortgebracht. Zwei Mann Begleitung. Sie stehen mir für sie, Kemmel, kein Verhören, überhaupt keinerlei Sprecherlaubnis. Aber sofort einen Arzt. Das Fieber muss in drei Tagen weg sein, sagen Sie ihm das, Kemmel!«
»Befehl, Herr Kommissar!«
»Die anderen bringen die Wohnung wieder in Ordnung, tadellos. In welchem Buch hat diese Karte gelegen? Radiobastelbuch? Schön! Wrede, legen Sie die Karte genau so hinein, wie sie lag. In einer Stunde muss hier alles in Ordnung sein, ich komme dann noch einmal mit dem Täter hierher. Keiner von Ihnen bleibt hier. Kein Posten, nichts! Verstanden?«
»Befehl, Herr Kommissar!«
»Also gehen wir, Herr Obergruppenführer?«
»Wollen Sie der Frau nicht noch die aufgefundene Karte vorhalten, Escherich?«
»Wozu? Jetzt im Fieber reagiert sie doch nicht richtig, und mir kommt es nur auf den Mann an. Wrede, haben Sie irgendwo Schlüssel für die Entreetür gesehen?«
»In der Handtasche der Frau.«
»Geben Sie her – danke. Also gehen wir, Herr Obergruppenführer!«
Drunten, an seinem Fenster, sah der Kammergerichtsrat Fromm den Fortfahrenden nach. Er wiegte den Kopf hin und her. Später sah er, wie die Bahre mit Frau Quangel in einen Krankenwagen gehoben wurde; aber an dem Aussehen der Begleiter erkannte er, dass die Fahrt in kein übliches Krankenhaus ging.
»Einer nach dem anderen«, sagte der Kammergerichtsrat a.D. Fromm leise. »Einer nach dem anderen. Das Haus wird leer. Rosenthals, Persickes, Barkhausen, Quangel – ich wohne fast allein hier. Eine Hälfte des Volkes sperrt die andere ein, das kann nicht mehr lange dauern. Nun, ich jedenfalls werde hier wohnen bleiben, mich wird man nicht einsperren …«
Er lächelt und nickt.
»Je schlimmer, je besser. Umso eher nimmt dies ein Ende!«
Es war dem Kommissar Escherich nicht ganz leicht geworden, Herrn Obergruppenführer Prall zu bestimmen, dass er ihn bei dem ersten Verhör mit Otto Quangel allein ließ. Aber schließlich war es ihm doch gelungen.
Als er mit dem Werkmeister die Treppen zur Wohnung hinaufstieg, war es schon dunkel geworden. Licht brannte auf den Treppen, Licht schaltete Quangel ein, als sie in die Stube getreten waren. Er wandte sich zum Schlafzimmer.
»Meine Frau ist krank«, murmelte er.
»Ihre Frau ist nicht mehr hier«, sagte der Kommissar. »Sie ist fortgebracht. Setzen Sie sich hierher zu mir …«
»Meine Frau hat viel Fieber – Grippe …«, murmelte Quangel.
Es war ihm anzusehen, dass die Nachricht von der Abwesenheit seiner Frau ihn stark erschüttert hatte. Die starre Gleichgültigkeit, die er bisher zur Schau getragen hatte, war gewichen.
»Ein Arzt sorgt für Ihre Frau«, sagte der Kommissar beruhigend. »Ich denke, in zwei, drei Tagen werden wir das Fieber fort haben. Ich habe für den Abtransport einen Krankenwagen beordert.«
Zum ersten Mal sah Quangel den Mann da vor sich genauer an. Lange ruhte sein starres Vogelauge auf dem Kommissar. Dann nickte Quangel. »Krankenwagen«, sagte er. »Doktor – das ist gut. Ich danke Ihnen. Das ist richtig. Sie sind kein schlechter Mann.«
Der Kommissar nützte seine Gelegenheit. »Wir sind nicht so schlimm, Herr Quangel«, sagte er, »wie wir oft gemacht werden. Wir tun alles, um den Verhafteten die Lage zu erleichtern. Wir wollen ja nur feststellen, ob eine Schuld vorliegt. Das ist unser Geschäft, wie es Ihr Geschäft ist, Särge zu tischlern …«
»Ja«, sagte Quangel mit harter Stimme. »Ja, Sargtischler und Sarglieferant, so ist das!«
»Sie meinen«, antwortete Escherich leicht spöttisch, »ich liefere den Inhalt der Särge? Sehen Sie Ihren Fall denn so schwarz an?«
»Ich habe keinen Fall!«
»Oh, doch schon, ein bisschen. Sehen Sie zum Beispiel einmal diese Feder an, Quangel. Ja, es ist Ihre Feder. Die Tinte daran ist noch ganz frisch. Was haben Sie heute oder gestern mit dieser Feder geschrieben?«
»Ich musste was unterschreiben.«
»Und was mussten Sie denn unterschreiben, Herr Quangel?«
»Ich habe einen Krankenschein ausgeschrieben, für meine Frau. Meine Frau ist nämlich krank, Grippe …«
»Und Ihre Frau hat mir gesagt, Sie schreiben nie. Alles, was bei Ihnen geschrieben wird, schreibt sie, hat sie gesagt.«
»Das ist auch ganz richtig, was meine Frau gesagt hat. Die schreibt alles. Aber gestern musste ich, weil sie Fieber hatte. Sie weiß davon nichts.«
»Und sehen Sie einmal, Herr Quangel«, fuhr der Kommissar fort, »wie die Feder spießt! Es ist eine ganz neue Feder, aber schon spießt sie. Das macht, weil Sie solch schwere Hand haben, Herr Quangel.« Er legte die beiden in der Werkstatt gefundenen Karten auf den Tisch. »Sehen Sie, die erste Karte ist noch ganz glatt geschrieben. Aber bei der zweiten, sehen Sie – hier – und hier – und da das B auch –, da hat die Feder gespießt. Nun, Herr Quangel?«
»Das sind die Karten«, sagte Quangel gleichgültig, »die haben in der Werkstatt auf dem Boden gelegen. Ich habe dem mit der blauen Jacke gesagt, er soll sie aufheben. Da hat er’s getan. Ich habe einen Blick auf die Karten geworfen, dann habe ich sie gleich dem Vertrauensmann von der Arbeitsfront gegeben. Der ist mit den Karten weggegangen. Und weiter weiß ich von den Dingern nichts.«
Das alles hatte Quangel eintönig und langsam gesagt, mit einer schwerfälligen Zunge, wie ein alter, etwas beschränkter Mann.
Der Kommissar fragte: »Aber das sehen Sie doch, Herr Quangel, dass diese zweite Karte zum Schluss mit einer gespaltenen Feder geschrieben ist?«
»Davon verstehe ich nichts. Ich bin gewissermaßen kein Schriftgelehrter, wie es in der Bibel heißt.«
Eine Weile war es ganz still in dem Zimmer. Quangel sah vor sich hin auf den Tisch, mit einem fast ausdruckslosen Gesicht.
Der Kommissar sah den Mann an. Er war fest davon überzeugt, dass dieser Mann nicht so langsam und schwerfällig war, wie er jetzt tat, sondern so scharf wie sein Gesicht und so rasch wie sein Auge. Der Kommissar sah es als seine erste Aufgabe an, diese Schärfe aus dem Mann hervorzulocken. Er wollte mit dem schlauen Kartenschreiber reden, nicht mit diesem alten, von Arbeit töricht gewordenen Werkmeister.
Nach einer Weile fragte Escherich: »Was sind denn das da für Bücher auf dem Regal?«
Langsam hob Quangel den Blick, sah einen Augenblick den anderen an und drehte dann den Kopf ruckweise, bis das Bücherregal ihm in Sicht kam.
»Was das für Bücher sind? Da steht das Gesangbuch von meiner Frau und ihre Bibel. Und das andere sind wohl alles Bücher von meinem Sohn, der gefallen ist. Ich lese keine Bücher, ich besitze keine. Ich habe nie gut lesen können …«
»Geben Sie mir doch mal das vierte Buch von links, Herr Quangel, das mit dem roten Einband.«
Langsam und vorsichtig nahm Quangel das Buch aus der Reihe, trug es behutsam, als sei es ein rohes Ei, an den Tisch und legte es vor den Kommissar.
»Otto Runges Radiobastelbuch«, las der Kommissar laut vom Deckel vor. »Na, Quangel, fällt Ihnen nichts ein, wenn Sie dies Buch sehen?«
»Ein Buch von meinem Sohn Otto, der gefallen ist«, antwortete Quangel langsam. »Der hatte es mit den Radios. Der war bekannt, um den haben sich die Werkstätten gerissen, der kannte jede Schaltung …«
»Und sonst fällt Ihnen nichts ein, Herr Quangel, wenn Sie dies Buch sehen?«
»Nee!« Quangel schüttelte den Kopf. »Ich weiß von nichts. Ich les nicht in so Büchern.«
»Aber vielleicht legen Sie was rein? Schlagen Sie das Buch mal auf, Herr Quangel!«
Das Buch öffnete sich genau an der Stelle, wo die Karte lag.
Quangel starrte auf die Worte: »Führer befiehl, wir folgen …«
Wann hatte er das geschrieben? Lange, lange musste es her sein. Ganz im Anfang. Aber warum hatte er es nicht zu Ende geschrieben? Wieso lag die Karte hier im Buch von Ottochen?
Und langsam dämmerte ihm eine Erinnerung an den ersten Besuch seines Schwagers Ulrich Heffke. Damals war die Karte rasch fortgesteckt worden, und er hatte an Ottochens Kopf weitergeschnitzt. Weggesteckt und vergessen, von ihm wie von Anna!
Das war die Gefahr, die er immer gefühlt hatte! Das war der Feind im Dunkeln, den er nicht hatte sehen können, den er aber immer geahnt hatte. Das war der Fehler, den er gemacht hatte, der nicht zu berechnen gewesen war …
Sie haben dich!, sprach es in ihm. Jetzt hast du dich um deinen Kopf gespielt – durch deine eigene Schuld. Jetzt bist du geliefert.
Und: Ob Anna irgendetwas gestanden hat? Sicher haben sie ihr die Karte gezeigt. Aber Anna hat trotzdem geleugnet, ich kenne sie doch schon, und so werde ich es auch machen. Freilich, Anna hat Fieber gehabt …
Der Kommissar fragte: »Nun, Quangel, Sie sagen ja gar nichts? Wann haben Sie denn die Karte geschrieben?«
»Ich weiß von der Karte nichts«, antwortete er. »Ich kann so was gar nicht schreiben, dafür bin ich zu dumm!«
»Aber wieso kommt die Karte jetzt in das Buch Ihres Jungen? Wer hat sie denn da reingelegt?«
»Wie soll ich denn das wissen?«, antwortete Quangel fast grob. »Vielleicht haben Sie die Karte selber reingelegt oder einer von Ihren Leuten! Das hat man schon öfter gehört, dass Beweise gemacht werden, wo keine da sind!«
»Die Karte ist in Gegenwart von mehreren einwandfreien Zeugen in diesem Buch gefunden. Auch Ihre Frau war dabei.«
»Na, und was hat meine Frau gesagt?«
»Als die Karte gefunden wurde, hat sie sofort eingestanden, dass Sie der Schreiber sind, und sie hat diktiert. Sehen Sie, Quangel, seien Sie jetzt nicht bockbeinig. Gestehen Sie einfach. Wenn Sie jetzt gestehen, sagen Sie mir nichts, was ich nicht schon weiß. Sie erleichtern aber Ihre Lage und die Lage Ihrer Frau. Wenn Sie nicht gestehen, muss ich Sie zu uns auf die Gestapo nehmen, und in unserm Keller ist es nicht sehr hübsch …«
In der Erinnerung, was er selbst in diesem Keller erlebt hatte, zitterte die Stimme des Kommissars etwas.
Er fasste sich aber und fuhr fort: »Wenn Sie aber gestehen, so kann ich Sie gleich dem Untersuchungsrichter übergeben. Dann kommen Sie nach Moabit, da werden Sie gut gehalten, genau wie alle anderen Gefangenen.«
Aber der Kommissar konnte sagen, was er wollte, Quangel blieb bei seinen Lügen. Escherich hatte eben doch einen Fehler begangen, den der scharfsinnige Quangel sofort bemerkt hatte. So weit war Escherich eben doch durch das schwerfällige Wesen Quangels und durch die Mitteilungen seiner Vorgesetzten über ihn beeindruckt, dass er Quangel nicht für den Verfasser der Karten hielt. Er war nur der Schreiber, die Frau hatte sie diktiert …
Dass er das aber wiederholte, bewies Quangel, dass Anna nichts gestanden hatte. Das hatte dieser Bruder sich nur ausgedacht.
Er leugnete immer weiter.
Schließlich brach Kommissar Escherich das erfolglose Verhör in der Wohnung ab und fuhr mit Quangel in die Prinz-Albrecht-Straße. Er hoffte jetzt, dass die andere Umgebung, der Aufmarsch der SS-Männer, dieser ganze drohende Apparat den einfachen Mann einschüchtern, ihn seiner Überredung zugänglicher machen würde.
Sie waren im Zimmer des Kommissars, und Escherich führte Quangel vor den Stadtplan von Berlin mit seinen roten Fähnchen.
»Sehen Sie das mal an, Herr Quangel«, sagte er. »Jedes Fähnchen bedeutet eine aufgefundene Karte. Es steckt genau an der Stelle, wo sie gefunden wurde. Und wenn Sie sich nun einmal diese Stellen ansehen«, er tippte mit dem Finger, »da sehen Sie ringsherum Fähnchen über Fähnchen, aber hier gar keine. Das ist nämlich die Jablonskistraße, in der Sie wohnen. Da haben Sie natürlich keine Karten abgelegt, da sind Sie zu bekannt …«
Aber Escherich sah, dass Quangel gar nicht hinhörte. Eine seltsame, unverständliche Erregung war über den Mann gekommen beim Anblick des Stadtplanes. Sein Blick flackerte, seine Hände zitterten. Fast schüchtern fragte er: »Das sind aber ’ne Menge Fähnchen, wie viele mögen das wohl sein?«
»Das kann ich Ihnen genau sagen«, antwortete der Kommissar, der jetzt begriffen hatte, was den Mann so erschütterte. »Es sind 267 Fähnchen, 259 Karten und 8 Briefe. Und wie viel haben Sie geschrieben, Quangel?«
Der Mann schwieg, aber es war jetzt kein Schweigen des Trotzes mehr, sondern der Erschütterung.
»Und bedenken Sie noch eines, Herr Quangel«, fuhr der Kommissar, seinen Vorteil wahrnehmend, fort, »alle diese Briefe und Karten sind freiwillig bei uns abgeliefert. Wir haben keine von uns aus gefunden. Die Leute sind damit förmlich gelaufen gekommen, als brennte es. Sie konnten sie nicht schnell genug loswerden, die meisten haben die Karten nicht einmal gelesen …«
Noch immer schwieg Quangel, aber in seinem Gesicht zuckte es. Es arbeitete gewaltig in ihm; der Blick des starren, scharfen Auges, jetzt flackerte er, irrte ab, senkte sich zur Erde und hob sich wieder wie gebannt zu den Fähnchen.
»Und noch eines, Quangel: Haben Sie je einmal darüber nachgedacht, wie viel Angst und Not Sie mit diesen Karten über die Menschen gebracht haben? Die Leute sind ja vor Angst vergangen, manche sind verhaftet worden, und von einem weiß ich bestimmt, dass er wegen dieser Karten Selbstmord verübt hat …«
»Nein! Nein!«, schrie Quangel. »Das habe ich nie gewollt! Das habe ich nie geahnt! Ich hab’s gewollt, dass es besser wird, dass die Leute die Wahrheit kennenlernen, dass der Krieg schneller zu Ende geht, dass dies Morden endlich aufhört – das habe ich gewollt! Aber ich habe doch nicht Angst und Schrecken säen wollen, ich hab’s doch nicht noch schlimmer machen wollen! Die armen Menschen – und ich habe sie noch ärmer gemacht! Wer war’s denn, der Selbstmord verübt hat?«