Zwei Stunden später war alles ausgestanden. Der Münchner Schnellzug war mit Barkhausen in einem Abteil zweiter Klasse aus der Halle des Anhalter Bahnhofs gerollt, mit einem lächerlich angeberischen, geschwollenen Barkhausen, der zum ersten Male in seinem Leben ein Abteil zweiter Klasse benutzte. Ja, Frau Häberle, die auch großspurig sein konnte, hatte diesem kleinen Spitzel auf seine Bitte hin im Zuge noch eine Zuschlagkarte Zweiter gelöst, um ihn bei guter Laune zu halten, oder auch, weil sie selbst froh war, diesen Kerl für mindestens zwei Tage los zu sein.
Nun, als sich die anderen Reisebegleiter langsam durch die Sperre drängten, sagte sie leise zu Enno: »Warte einmal, Enno, wir setzen uns einen Augenblick da in den Wartesaal und überlegen, was nun zu tun ist.«
Sie setzten sich so, dass sie die Eingangstür im Auge hatten. Der Wartesaal war nur mäßig besetzt, nach ihnen kam eine lange Zeit keiner mehr herein.
Frau Hete fragte: »Hast du darauf geachtet, Enno, was ich dir gesagt habe? Glaubst du, dass wir beobachtet worden sind?«
Und Enno Kluge mit seinem gewohnten Leichtsinn, kaum war die dringendste Gefahr vorüber: »I wo! Beobachtet? Glaubst du, jemand lässt sich von so ’nem Idioten, wie es Barkhausen ist, schicken? So blau! So dusslig ist keiner!«
Sie hatte es auf der Zunge, ihm zu sagen, dass sie diesen Barkhausen mit seiner argwöhnischen Gerissenheit für erheblich intelligenter hielt als den kleinen, feigen, leichtsinnigen Mann an ihrer Seite. Aber sie sagte es nicht. Sie hatte es sich heute früh beim Umkleiden zugeschworen, dass es mit allen Vorwürfen vorbei sein sollte. Ihre Aufgabe war nur noch, diesen Enno Kluge in Sicherheit zu bringen. War diese Aufgabe erfüllt, wollte sie ihn nie wieder sehen.
Er sagte aus dem immer wieder gleichen Gedanken heraus, der ihn seit einer Stunde quälte, er sagte voll Neid: »Wenn ich du wäre, ich hätte diesem Kerl nie zweitausendeinhundert Mark bezahlt. Und dann noch zweihundertfünfzig Mark Reisespesen. Und dann noch Fahrkarte und Zuschlagkarte. Du hast dem Kerl über zweitausendfünfhundert gegeben, so ’nem Schwein! Ich hätt’s nie getan!«
Sie fragte: »Und was wäre aus dir geworden, wenn ich’s nicht getan hätte?«
»Hättest du mir zweitausendfünfhundert gegeben, du hättest sehen sollen, wie fein ich das Ding gedreht hätte! Das kannst du glauben, der Barkhausen wäre auch mit fünfhundert zufrieden gewesen!«
»Tausend hat ihm ja schon die Gestapo versprochen!«
»Tausend – da muss ich doch lachen! Als wenn die auf der Gestapo mit den Tausendern nur so schmissen! Und dann noch an so einen kleinen Spitzel, wie es der Barkhausen ist! Dem brauchen sie doch nur zu befehlen – und er muss tun, was sie wollen, für fünf Mark Tagegeld! Tausend, zweitausendfünfhundert – der hat dich aber bildschön gerupft, Hete!«
Er lachte spöttisch.
Seine Undankbarkeit verletzte sie. Aber sie hatte keine Lust, sich mit ihm auf Erörterungen einzulassen. Sie sagte nur etwas scharf: »Ich will davon nicht mehr reden! Verstehst du, ich will nicht!« Sie sah ihn so lange fest an, bis seine blassen Augen sich senkten. »Wir wollen jetzt lieber überlegen, was wir nun mit dir tun.«
»Ach, das hat doch noch Zeit«, sagte er. »Vor übermorgen kann er nicht zurück sein. Wir gehen jetzt zum Geschäft zurück, bis übermorgen fällt uns schon was ein.«
»Ich weiß nicht, ich möchte dich eigentlich nicht wieder ins Geschäft mitnehmen, oder höchstens, um deine Sachen zu packen. Ich bin so unruhig – vielleicht sind wir doch bespitzelt worden?«
»Aber ich sage dir doch, wir sind’s nicht! Ich versteh mehr von so was als du! Und der Barkhausen kann sich auch nie einen Spitzel halten, der hat ja nie Geld!«
»Aber die Gestapo kann ihm einen stellen!«
»Und der Spitzel von der Gestapo sieht zu, wie der Barkhausen nach München fährt und ich ihn zur Bahn bringe! So blau, Hete!«
Sie musste zugeben, dass er mit diesem Einwand recht hatte. Aber ihre Unruhe blieb. Sie fragte: »Ist dir das nicht aufgefallen mit den Zigaretten?«
Er erinnerte sich nicht mehr. Sie musste es ihm erst erzählen, wie der Barkhausen, sie waren kaum aus dem Haus, überall nach Zigaretten herumsuchte, er musste durchaus welche haben. Er hatte auch Hete und Enno deswegen angeschnorrt. Aber die hatten auch keine, Enno hatte in der Nacht alle aufgeraucht. Barkhausen war aber dabei geblieben, er müsse welche haben, er hielte das nicht aus, er sei es gewohnt, eine am Morgen zu stoßen. Er hatte sich rasch von Hete zwanzig Mark »geborgt« und einen älteren Jungen angerufen, der dann mit viel Geschrei auf der Straße herumspielte.
»Du, hör mal, Ede, weeßte hier nich wen, bei den du Zigaretten krichst? Aber Tabakkarte hab ick keene.«
»Valleicht weeß ick eenen. Ham Se denn Jeld?«
Es war ein sehr blonder, blauäugiger Junge in der Tracht der HJ gewesen, mit dem Barkhausen da gesprochen hatte, ein echtes, helles Berliner Gewächs.
»Na, jebn Se ma den Zwanzijer her, ick wer holn …«
»Und det Wiederkomm vajessn! Nee, ick jeh mit dir. Augenblick mal, Frau Häberle!«
Damit waren die beiden in einem Hause verschwunden. Nach einer Weile war dann Barkhausen allein zurückgekommen und hatte Frau Hete die zwanzig Mark ohne alle Aufforderung zurückgegeben.
»Die hatten keine. Der Rotzjunge hat mich natürlich bloß um die zwanzig Mark beschummeln wollen. Ich hab ihm aber eine geschallert, der liegt noch auf dem Hof!«
Sie waren weitergegangen, zur Post, zum Reisebüro.
»Na, und was findest du da Komisches bei, Hete? Der Barkhausen ist da wie ich: Wenn es den roochert, der ist imstande und quatscht ’nen General auf der Straße an und bittet ihn um die Kippe!«
»Aber er hat hinterher nicht ein Wort mehr von Zigaretten gesagt, trotzdem er doch keine gekriegt hat! Ich finde das komisch. Ob er doch was mit dem Jungen vorgehabt hat?«
»Was soll er denn mit dem Jungen vorgehabt haben, Hete? Dem hat er eine geschallert, das wird schon stimmen.«
»Ob der Bengel vielleicht unser Aufpasser ist?«
Einen Augenblick stutzte selbst Enno Kluge. Aber dann sagte er mit seinem gewohnten Leichtsinn: »Was du dir alles wieder einbildest! Deine Sorgen möchte ich wirklich haben!«
Sie schwieg. Aber die Unruhe saß weiter in ihr, und so bestand sie auch darauf, dass sie jetzt nur kurz in den Laden gingen, um seine Sachen zu holen. Dann wollte sie ihn mit aller erdenklichen Vorsicht bei einer Freundin unterbringen.
Ihm passte das gar nicht. Er fühlte: sie wollte sich von ihm lösen. Und er wollte nicht gehen. Bei ihr war Sicherheit und gutes Essen und nicht mehr Arbeit, als ihm behagte. Und Liebe und Wärme und Trösten. Und dann: sie war so ein gutes Wollschaf, der Barkhausen hatte sie eben um zweitausendfünfhundert geschoren, nun war er dran!
»Deine Freundin!«, sagte er unzufrieden. »Was ist denn das für eine Frau? Ich gehe nicht gern bei fremde Leute.«
Hete hätte ihm sagen können, dass diese Freundin eine alte Mitarbeiterin ihres Mannes war, dass sie jetzt noch in aller Stille weiterwirkte und dass jeder Verfolgte bei ihr Zuflucht fand. Aber sie misstraute jetzt Enno, ein paarmal hatte sie ihn schon feige gesehen, er musste nicht zu viel wissen.
»Meine Freundin?«, sagte sie darum. »Das ist eine Frau wie ich. In meinen Jahren. Vielleicht ein paar Jahre jünger.«
»Und was tut sie? Wovon lebt sie?«, forschte er weiter.
»Weiß ich nicht genau, ist wohl irgendwo Sekretärin. Übrigens ist sie unverheiratet.«
»In deinen Jahren, wenn sie das ist, dann wird’s aber langsam Zeit«, sagte er spöttisch.
Sie zuckte zusammen, antwortete aber nicht.
»Nee, Hete«, sagte er und gab seiner Stimme einen zärtlichen Ton. »Was soll ich denn bei deiner Freundin? Wir beide allein, das ist doch das Schönste. Lass mich bei dir bleiben – der Barkhausen kommt ja erst übermorgen –, wenigstens bis übermorgen!«
»Nein, Enno!«, sagte sie. »Ich möchte jetzt, dass du das tust, was ich dir sage. Ich gehe allein in die Wohnung und packe. Du kannst unterdessen in einer Wirtschaft warten. Dann fahren wir gemeinsam zu meiner Freundin.«
Er hatte noch viele Widerworte, aber schließlich fügte er sich. Er fügte sich, als sie – nicht ohne Berechnung – sagte: »Du wirst auch Geld brauchen. Ich lege dir Geld obenauf in deinen Koffer, genug, dass du für die erste Zeit aus der Not bist.«
Als sie das gesagt hatte, da fügte er sich. Die Aussicht, bald Geld in seinem Koffer zu finden (und sie konnte ihm doch unmöglich weniger geben, als sie dem Barkhausen gegeben hatte!), diese Aussicht lockte ihn, bestimmte ihn. Blieb er bis übermorgen bei ihr, gab es erst übermorgen Geld. Er aber wollte sofort wissen, wie viel sie ihm zugedacht hatte.
Sie sah mit Kummer, was ihn zum Einlenken bestimmte. Er sorgte selbst dafür, dass der letzte Rest von Achtung und Liebe in ihr zerstört wurde. Aber sie fand sich darein ohne Murren. Sie wusste es längst aus ihrem Leben, dass man für alles bezahlen musste, und für das meiste mehr, als es wert war. Die Hauptsache blieb, dass er ihr jetzt den Willen tat.
Als Frau Hete Häberle sich ihrer Wohnung näherte, sah sie wieder den blonden, blauäugigen Jungen von vorhin mit einer Rotte anderer auf der Straße toben. Sie schreckte zusammen. Dann winkte sie ihn zu sich heran: »Was machst du denn hier immer noch?«, fragte sie. »Musst du denn ausgerechnet hier rumtoben?«
»Ick wohn hier doch!«, sagte er. »Wo soll ick denn sonst toben?«
Sie spähte nach den Spuren von einem Schlag in seinem Gesicht, aber sie konnte nichts sehen. Sichtlich hatte der Bengel sie nicht wiedererkannt, bei seinem Gespräch mit Barkhausen hatte er sie wohl gar nicht beachtet. Das würde gegen Spitzelei sprechen.
»Hier wohnst du?«, fragte sie. »Ich hab dich doch noch nie hier auf der Straße gesehen.«
»Kann ick for Ihre Oogen?!«, fragte er frech. Er pfiff durchdringend den Ludenpfiff auf einem Finger. Er schrie an dem Hause hoch: »Mutta, kick mal aus’t Fenster! Da is ’ne Frau, die will nich gloobn, dette schielst! Mutta, schiel ihr mal watt!«
Lachend lief Frau Hete in ihren Laden, jetzt auch völlig überzeugt, dass sie, was diesen Jungen anlangte, Gespenster gesehen hatte.
Aber beim Packen wurde sie wieder ernst. Ihr kamen Bedenken, ob sie auch recht daran tat, den Enno zu ihrer Freundin Anna Schönlein zu bringen. Gewiss, die Änne riskierte alle Tage ihr Leben für jeden Unbekannten, dem sie Obdach gewährte. Aber der Frau Hete war es, als schmuggle sie der Änne doch mit Enno Kluge ein rechtes Kuckucksei ein. Zwar schien der Enno wirklich ein politischer, kein gewöhnlicher Verbrecher, das hatte jetzt sogar der Barkhausen bestätigt, aber …
Er war so leichtsinnig, nicht so sehr aus Unbedachtheit, sondern aus einer völligen Gleichgültigkeit gegen das Schicksal seiner Mitmenschen heraus. Es kam ihm gar nicht darauf an, was mit ihnen geschah. Er dachte immer nur an sich, und er war imstande, jeden Tag zweimal zu ihr, zur Hete, zu laufen, unter dem Vorgeben, er sehne sich nach ihr, und zog so alle Gefahr auf Ännes Kopf. Sie, die Hete, hatte Autorität über ihn, die Änne aber nicht.
Mit einem schweren Seufzer tut Frau Hete Häberle dreihundert Mark in einen Umschlag, den sie oben in den Koffer legt. Heute hat sie mehr Geld ausgegeben, als sie in zwei Jahren gespart hat. Aber sie wird noch ein weiteres Opfer bringen, sie wird dem Enno für jeden Tag, an dem er die Wohnung der Freundin überhaupt nicht verlässt, hundert Mark versprechen. Er ist ja leider so, dass sie ihm einen solchen Vorschlag machen kann. Er wird nicht gekränkt sein, er wird höchstens im ersten Augenblick ein bisschen gekränkt tun. Aber das wird ihn wohl im Hause halten, er ist auf Geld so gierig.
Mit dem Koffer in der Hand verlässt Frau Hete das Haus. Der blonde Junge spielt nicht mehr auf der Straße, vielleicht ist er jetzt bei seiner schielenden Mutter. Sie geht zu der Kneipe am Alexanderplatz, wo sie den Enno treffen wird.
Ja, Barkhausen hatte sich sehr wohl gefühlt in diesem vornehmen D-Zug im noblen Zweite-Klasse-Abteil mit Offizieren und Generalen und Damen, die so wunderschön rochen. Es störte ihn gar nicht, dass er weder elegant noch wohlriechend war und dass seine Mitreisenden keine freundlichen Blicke auf ihn warfen. Barkhausen war es gewohnt, unfreundlich angesehen zu werden. Kaum je in seinem jämmerlichen Leben hatte ein Mitmensch einen freundlichen Blick für ihn übriggehabt.
Barkhausen genoss sein kurzes Glück mit vollen Zügen, denn kurz war es nur. Es musste nicht bis München währen, dieses Glück, nicht einmal bis Leipzig, wie er zuerst gefürchtet hatte, sondern nur bis Lichterfelde, denn dieser Zug hielt noch einmal in Lichterfelde. Das war der Fehler in Frau Hetes Berechnung gewesen: man musste, hatte man Geld in München zu bekommen, nicht gleich dorthin fahren. Man konnte es später tun, wenn man die dringendsten Geschäfte in der Stadt Berlin erledigt hatte. Und das dringendste Geschäft war jetzt, den Enno dem Escherich zu melden und fünfhundert Mark zu kassieren. Übrigens brauchte man vielleicht überhaupt nicht nach München zu fahren, man brauchte der Post nur zu schreiben, dass sie das Geld hierher nach Berlin zur Auszahlung senden sollte. Jedenfalls kam eine sofortige Reise nach München nicht in Frage.
Also stieg – nicht ohne leises Bedauern – Emil Barkhausen in Lichterfelde aus. Er hatte noch eine kleine, lebhafte Debatte mit dem Fahrdienstleiter, der nicht einsehen wollte, dass man sich im Zuge zwischen Anhalter Bahnhof und Lichterfelde noch einmal eine Reise nach München anders überlegen kann. Überhaupt kam diesem Manne der ganze Barkhausen höchst verdächtig vor.
Barkhausen aber blieb unerschütterlich: »Rufen Sie nur auf der Gestapo an, Kommissar Escherich, und Sie werden sehen, wer recht hat, Herr Stationsvorsteher! Aber die Läuse, die Sie sich dann in den Pelz gesetzt haben! Ich bin nämlich dienstlich!«
Schließlich ließ ihm der Rotmützige achselzuckend sein Fahrgeld zurückzahlen, ihm war es egal. Möglich war alles heute, möglich war es schon, dass solche fragwürdigen Gestalten im Auftrage der Gestapo herumliefen. Umso schlimmer!
Emil Barkhausen aber machte sich auf die Suche nach seinem Sohn.
Aber vor der Tierhandlung von Hete Häberle fand er ihn nicht, obwohl das Geschäft geöffnet war und Kunden aus und ein gingen. Hinter einer Anschlagsäule verborgen, überlegte Barkhausen, immer die Augen auf die Ladentür gerichtet, was geschehen sein konnte. Hatte Kuno-Dieter einfach aus Langeweile seinen Posten verlassen? Oder war Enno weggegangen – vielleicht wieder nach »Ferner liefen«? Oder war der kleine Mann ganz fortgezogen, und die Frau wirkte nun allein im Laden?
Emil Barkhausen erwog es grade bei sich, ob er noch einmal ganz schamlos vor die überlistete Häberle treten und Auskünfte von ihr verlangen sollte, als ein vielleicht neunjähriger Bengel ihn anquatschte: »Hören Se ma! Sind Sie der Vata von den Kuno?«
»Bin ich! Was ist denn?«
»’ne Mark solln Se mir jebn!«
»Wozu soll ich dir denn ’ne Mark geben?«
»Det ich Sie sare, wat ick weeß!«
Barkhausen tat einen raschen Griff nach dem Jungen. »Erst Ware, dann Geld!«, sagte er.
Aber der Junge war schneller als er, war ihm unter dem Arm durchgeschlüpft und rief: »Na, denn nich! Behalten Se man Ihre Mark!« Und er gesellte sich wieder zu seinen Spielgefährten, die auf der Fahrbahn direkt vor dem Laden tobten.
Dorthin konnte Barkhausen ihm nicht folgen, er wollte sich doch lieber nicht sehen lassen. Er rief und pfiff nach dem Jungen, den er zugleich mit seiner eigenen, hier so unangebrachten Sparsamkeit verfluchte. Aber der Junge ließ sich nicht so leicht listen und locken; erst eine gute Viertelstunde später tauchte er wieder bei Barkhausen auf, stellte sich vorsichtig in einiger Entfernung von dem zornigen Mann auf und verkündete frech: »Jetzt kost det zwee Märker!«
Barkhausen hätte sich den Bengel wiederum lieber gegriffen und nach Noten durchgeprügelt, aber was sollte er tun? Er war in seiner Hand, denn er konnte ihm nicht nachlaufen. »Ick wer dir ’ne Mark jebn«, sagte er finster.
»Nee! Zwee Mark!«
»Jut, du sollst zwee Mark haben!«
Barkhausen nahm einen Packen Scheine aus der Tasche, fand einen Zweimärker, stopfte die anderen Scheine zurück und hielt dem Jungen das Geld hin.
Der schüttelte den Kopf. »Ihnen kenn ick doch!«, sagte er. »Wenn ick det Jeld nehme, langen Se nach mir. Nee, legen Se’s da uff ’t Pflaster!«
Finster, ohne ein Wort, tat Barkhausen, was der Junge ihn geheißen. »Na?«, sagte er dann, richtete sich wieder auf und trat einen Schritt zurück.
Der Junge pirschte sich langsam an den Schein heran, stets wachsam das Auge auf den Mann geheftet. Als er sich nach dem Gelde bückte, konnte Barkhausen kaum der Versuchung widerstehen, sich dieses kleine Aas zu langen und abzuwackeln. Er hätte ihn fassen können, aber er widerstand dieser Versuchung, vielleicht bekam er dann überhaupt keine Auskunft, und der Bengel würde so schreien, dass die ganze Straße zusammenlief.
»Na?«, fragte er noch einmal und diesmal drohend.
Der Junge antwortete: »Ick könnte ja jetzt ooch ’n Aas sind und nochma Jeld von Sie valangen und nochma und immer wieda. Aba ick bin nich so. Ick weeß jut, Sie wollten mir ebent wieda uff de Pelle, aba ick, ick bin nich so ’n Aas!« Dann, nachdem er seine moralische Überlegenheit über Barkhausen so gebührend ans Licht gestellt hatte, sagte er rasch: »Se solln in Ihre Wohnung uff Bescheid von Kunon warten!« Und der Junge war weg.
Die guten zwei Stunden, die Barkhausen in seiner Kellerwohnung auf den Bescheid von Kuno warten musste, verminderten seinen Zorn nicht, nein, sie vermehrten ihn noch. Die Gören plärrten, Otti war im Wege, sie sparte nicht an spitzen Bemerkungen über solche faulen Schweine, die den ganzen Tag rumsitzen, nischt tun wie Zigaretten qualmen und der Frau die ganze Arbeit lassen.
Er hätte einen Zehn- oder Fünfzigmarkschein hervorziehen und dadurch Ottis Stinklaune in das schönste Mützenwetter verwandeln können, aber er wollte nicht. Er wollte nicht schon wieder Geld verschenken, eben erst hatte er zwei Mark für eine dusslige Nachricht verschenkt, auf die er auch von allein hätte kommen können. Eine Wut erfüllte ihn auf den Kuno-Dieter, der ihm solch ein kleines Aas auf den Hals geschickt, der sicher was verbockt hatte! Der Kuno-Dieter sollte, dazu war Barkhausen fest entschlossen, nun die Keile beziehen, um die der Kleine sich gedrückt hatte.
Dann klopfte es gegen die Tür, und statt des erwarteten Boten von Kuno-Dieter stand dort eine Zivilfigur, der man den ehemaligen Feldwebel noch deutlich genug ansah.
»Sind Sie der Barkhausen?«
»Ja, was ist denn?«
»Sie sollen zum Kommissar Escherich kommen. Machen Sie sich fertig, ich bring Sie.«
»Ich kann jetzt nicht«, widersprach Barkhausen, »ich wart auf einen Boten. Sagen Sie dem Kommissar, ich hab den Fisch gefangen.«
»Ich soll Sie mitnehmen zum Kommissar«, sagte der ehemalige Feldwebel halsstarrig.
»Nicht jetzt! Ich lass mir mein Geschäft nicht vermasseln! Nicht von euch Brüdern!« Barkhausen war zornig, aber er bezwang sich. »Sagen Sie dem Herrn Kommissar, ich hätt den Vogel, und ich käme heute noch bei ihm vorbei!«
»Also machen Sie jetzt keine langen Geschichten und kommen Sie mit!«, wiederholte stur der andere.
»Das haben Sie wohl auswendig gelernt, was anderes können Sie wohl nicht pfeifen wie das ›Kommen Sie mit!‹?«, schrie Barkhausen jetzt zornig. »Du kannst wohl nicht kapieren, was ich dir sage? Ewig ›Kommen Se mit‹! Das kannst du wohl nicht begreifen, dass ich dir sage, ich warte hier auf Bescheid, ich muss hier sitzen, sonst geht der Hase mir aus der Schlinge? Das ist wohl zu hoch für dich?« Er sah sein Gegenüber ein wenig atemlos an. Dann setzte er mürrisch hinzu: »Den Hasen soll ich nämlich für den Kommissar fangen, verstehen Sie?«
Der ehemalige Feldwebel sagte ungerührt: »Von all dem weiß ich nichts. Der Kommissar hat zu mir gesagt: Fritsche, hol den Barkhausen. Also kommen Se schon!«
»Nee!«, sagte Barkhausen, »du bist mir zu dämlich. Ich bleibe – oder willst du mich verhaften?« Er sah es dem anderen an der Nase an, dass er das nicht konnte. »Also hau schon ab!«, rief er und schlug dem die Tür vor der Nase zu.
Drei Minuten darauf sah er den alten Feldwebel über den Hof abtrümmern, der hatte es sich anders überlegt, das »Kommen Se mit«!
Und sobald der Mann durch die Toreinfahrt des Vorderhauses verschwunden war, überkam Barkhausen Angst wegen der Folgen, die sein freches Auftreten vor dem Sendboten des allmächtigen Kommissars haben konnte. Nur der Zorn über diesen Kuno-Dieter hatte ihn dazu gebracht. Es war eine Unverschämtheit, den Vater Stunden um Stunden sitzenzulassen, womöglich bis in die Nacht hinein. Überall gab es Bengels, an jeder Straßenecke gab es jemand, den man mit einer Botschaft schicken konnte! Aber er würde es dem Kuno schon zeigen, was er von seinem Benehmen hielt, er sollte sich solche Witzchen nicht ungestraft erlauben!
Barkhausen schwelgte ordentlich in Fantasien, wie er den Burschen vermöbeln wollte. Er sah sich beim Prügeln dieses kindlichen Körpers, und ein Lächeln lag auf seinem Gesicht, aber es war kein Lächeln abklingender Wut … Er hörte ihn schreien, und er legte ihm die eine Hand auf den schreienden Mund, während die andere weiterschlug, so lange weiterschlug, bis der ganze Junge zitterte und sein Mund nur noch wimmerte …
Barkhausen wurde es nicht müde, sich diese Bilder immer wieder vorzustellen. Dabei streckte er sich auf seinem Sofa und stöhnte wollüstig.
Beinah kam ihm der Junge, endlich der Sendbote Kuno-Dieters, störend, der jetzt klopfte. »Was ist?«, fragte er kurz.
»Ich soll Sie zu Kuno bringen.«
Diesmal war es ein großer Junge von vierzehn oder fünfzehn Jahren in der HJ-Bluse.
»Aber erst geben Sie mir mal fünf Mark.«
»Fünf Mark!«, grollte Barkhausen und wagte sich diesem großen Bengel im braunen Hemd doch nicht offen zu widersetzen. »Fünf Mark! Ihr Jungens könnt ja fein mit meinem Gelde rumschmeißen!« Er suchte zwischen den Scheinen.
Der große HJ-Junge sah gespannt auf den Packen Geld in der Hand des anderen. »Ich hab Fahrgeld ausgegeben«, sagte er. »Und dann, was denken Sie, was ich für Zeit versäumt habe, ganz aus dem Westen bis hier?«
»Und deine Zeit kostet viel Geld, was?« Barkhausen hatte den richtigen Schein immer noch nicht gefunden. »Und Westen, das sagst du so, Westen kann nie stimmen! Was bei dir wohl Westen ist? Vielleicht meinst du Stadtmitte, das könnte noch eher passen!«
»Na, wenn die Ansbacher nicht im Westen ist …«
Zu spät sah der Junge, dass er sich verplappert hatte. Barkhausen hatte die Scheine schon weggesteckt. »Danke!«, lachte er spöttisch. »Du brauchst deine teure Zeit nicht weiter zu versäumen. Ich find jetzt schon allein. Am besten fahre ich wohl mit der Untergrundbahn zum Viktoria-Luise-Platz, was?«
»Das machen Sie nicht mit mir! So was werden Sie nicht mit mir machen!«, sagte der HJ-Bengel und trat mit geballten Fäusten auf den Mann zu. Seine dunklen Augen leuchteten vor Zorn. »Ich habe Fahrgeld ausgegeben, ich habe …«
»Du hast deine kostbare Zeit versäumt, weiß schon!«, lachte Barkhausen. »Hau ab, mein Sohn, Doofheit hat immer Geld gekostet!« Plötzlich fasste ihn wieder die Wut. »Was stehst du hier noch rum in meiner Stube? Willst du mich in meiner eigenen Stube vertrimmen? Mach, dass du jetzt rauskommst, oder ich lass dich dein eigenes Geschrei hören!«
Er drängelte roh den erzürnten Jungen aus dem Zimmer, schlug die Tür vor seiner Nase zu. Und den ganzen Weg, bis sie aus der Untergrundbahn am Viktoria-Luise-Platz stiegen, hatte er abwechselnd spöttische und zornige Bemerkungen für diesen Bengel, der nicht von seiner Seite wich, der aber – obwohl blass vor Zorn – doch nicht mehr mit einem einzigen Wort auf alle seine Anzapfungen einging.
Oben auf dem Viktoria-Luise-Platz, aus dem Schacht der U-Bahn kommend, setzte sich der Junge plötzlich in Trab und war dem Manne weit voraus. Barkhausen musste sich entschließen, ihm so rasch, wie es nur ging, nachzueilen: Allzu lange wollte er die beiden Bengels nicht miteinander reden lassen. Er war sich nicht ganz sicher, für wen sich Kuno-Dieter entscheiden würde, für seinen Vater oder für diese Sautöle.
Sie standen wirklich vor einem Haus der Ansbacher. Der HJ-Junge redete eifrig auf Kuno-Dieter ein, der mit gesenktem Kopf ihn anhörte. Als Barkhausen herankam, zog sich der Bote zehn Schritte zurück und ließ die beiden allein miteinander reden.
»Was denkst du dir eigentlich, Kuno-Dieter?«, fing Barkhausen zornig an. »Dass du mir ewig solche Kerle auf den Hals schickst, unverschämte Burschen, die vorneweg ihr Geld fordern?«
»Ohne Jeld tut keener wat, Vata«, antwortete Kuno-Dieter gleichmütig. »Det weeßte ja selbst. Und ick will ooch wissen, wat ick bei dem Jeschäft vadiene, ick hab Fahrjeld ausjejem …«
»Immer dieselbe Tour, dass euch aber gar nischt anderes einfällt! Nee, Kuno-Dieter, jetzt sagste deinem Vater erst mal ordentlich, was hier eigentlich los ist in der Ansbacher, und denn wirste ja sehn, wat dein Vata für dich tut. Dein Vata ist gar nicht so, nur Drängeln, Drängeln verträgt dein Vater nicht!«
»Nee, Vata«, sagte Kuno-Dieter wieder. »Ick hab Angst, du vajisst et nachher mit dem Bezahln – det Jeld natürlich. Maulschellen wirste schon zum Bezahln haben. Du hast schon ’ne Masse Jeld in diese Sache bekommen und wirst wohl noch mehr dabei erben, denk ick. Ick stehe hier nu schon den janzen Tag for dir rum, ohne Essen, da will ick ooch ma Jeld sehn. Ick habe jedacht, fuffzig Mark …«
»Fünfzig Mark!« Es verschlug Barkhausen fast die Luft, als er diese unverschämte Forderung hörte. »Ick wer dir saren, wat ick dir jebn werde. Ick wer dir fünf Mark jebn, jenau die fünf Mark, die der Lulatsch da haben wollte, und darüber wirste dir jefälligst noch freun! Ick bin nich so, aba …«
»Nee, Vata«, sagte Kuno-Dieter und sah aus seinen blauen Augen Barkhausen trotzig an. »Du vadienst ’ne Stange Jold bei det Jeschäft, ick mach nich die janze Arbeet und lasse mir mit fünf Mark abspeisen, so blau, denn sar ick dir eben jar nischt!«
»Wat willste mir denn noch jroß erzähln!«, lachte Barkhausen spöttisch. »Dass der Kleene in dem Haus da drinsteckt, det weeß ick nu ooch so. Und det andre wer ick schon alleene rauskriegen. Nee, jeh man jetzt nach Hause und lass dir von Mutter wat zu essen jebn! Für janz dumm lässt sich dein Vata doch nich vakoofen! Ihr beiden Helden!«
»Denn jeh ick da ruff«, sagte Kuno-Dieter entschlossen, »und sare dem Kleenen, det de uff ihn passt. Denn vapfeif ick dir, Vata!«
»Du verdammter Rotzjunge, du!«, schrie Barkhausen und schlug nach dem Sohne.
Aber der lief schon, lief in den Nebeneingang des Hauses hinein. Barkhausen lief ihm nach, folgte ihm über den Hof, und auf der untersten Treppe des Hinterhauses holte er ihn ein. Er schlug ihn zu Boden und fing dann an, auf den Liegenden, mit den Füßen Stoßenden einzuprügeln. Es war beinahe so, wie er es sich vorher auf dem Sofa ausgemalt hatte, nur Kuno-Dieter schrie nicht, sondern wehrte sich mit verbissener Wut. Das steigerte Barkhausens Zorn noch. Mit voller Überlegung schlug er dem Jungen ins Gesicht und trat mit den Füßen nach seinem Bauch. »Dir Aas will ick det schon weisen!«, keuchte er, und ein roter Nebel schwamm vor seinen Augen.
Plötzlich fühlte er, wie ihn was von hinten packte, jemand hielt seinen Arm fest. Etwas riss an dem einen, etwas an dem anderen Bein. Er sah sich hastig um: Es war dieser Hitlerjunge, es war eine ganze Rotte Bengels, Halbstarke, vier oder fünf Burschen, die sich da auf ihn gestürzt hatten. Er musste von Kuno-Dieter ablassen, er musste sich dieser Bengels erwehren, von denen er jeden Einzelnen mit einer Hand hätte niederschlagen können, die aber in ihrer Gesamtheit ihm höchst gefährlich werden konnten.