An diesem verhängnisvollen Donnerstag, dreizehnten Januar, schlich gegen halb fünf Uhr nachmittags Kufalt besonders unlustig auf den »Boten«. Sieben Stunden war er unterwegs gewesen, und der Fang war jämmerlich: zwei Abonnenten. Oder eigentlich nur anderthalb, denn die Witwe Maschke, die seinem beharrlichen Reden nicht hatte widerstehen können, hatte nur sechzig Pfennig angezahlt, den Rest sollte er sich am Ersten holen, wenn es Renten gab.
Kufalt graute es vor der groben Stimme des Kraft: »Zwei, soso, jaja, nur zwei … zwei!« Er ging in die Schenke von Lindemann und setzte das Scherflein der Witwe in Kognak um. Dann ließ er das Abonnementsgeld des Lederarbeiters Pachulke denselben Weg gehen.
So kam er kurz nach fünf etwas aufgeräumter in die Expedition, wo Kraft schon wartete.
»Nur zwei, Herr Kraft«, sagte er leichthin und wunderte sich, warum ihn die kleine Stenotypistin Utnehmer so entsetzt anstarrte. »Es wird immer schlechter.«
»Zwei …«, sagte Kraft und setzte ihn in Erstaunen. »Zwei sind ja auch ganz schön, besser als nichts. – Gehen Sie mal rein zu Herrn Freese, er möchte Sie sprechen.«
Kufalt sah fragend von Kraft zur Utnehmer. Das Mädchen bewegte wie verneinend den Kopf.
»Warum schütteln Sie denn den Kopf?« fragte Kufalt erstaunt.
»Ich hab doch nicht den Kopf geschüttelt«, log sie und lief rot an.
»Also machen Sie schon, Herr Freese wartet doch«, rief Kraft plötzlich sehr gereizt.
»Schön, schön«, sagte Kufalt und ging gegen das Redaktionszimmer. Noch hatte ihn keine Ahnung des drohenden Unheils überkommen, schön warm und ermunternd hatte sich der Schnaps in ihm ausgebreitet, aber verwunderlich war es doch, wie sich die beiden heute benahmen.
»Warum sind Sie eigentlich heute so, Herr Kraft?«
»Ich bin gar nicht so – machen Sie doch bloß los, Mensch.«
Herr Freese war nicht allein. Neben ihm im Lehnstuhl saß ein Mann, der Kufalt auf den ersten Blick missfiel. Es war ein dürrer, länglicher Mann mit einem lächerlichen Bauch, mit einem trockenen, vogelartigen Kopf, der ganz gelb war. Hinter einer Nickelbrille saßen scharfe, schwarze Augen.
Beide hatten ein Glas Kognak vor sich stehen.
»Herr Kufalt – Herr Brödchen«, machte Freese bekannt. Kufalt verbeugte sich, aber Brödchen nickte nur einmal, kurz und scharf. Er sah Kufalt unverwandt an, Kufalt sah ihn wieder an.
»Sie stellen sich wohl am liebsten an den Ofen«, sagte Freese gemütlich. »Sicher sind Sie wieder ganz durchgefroren. – Wie viel haben Sie denn ergattert?«
»Zwei«, antwortete Kufalt.
»Zwei«, seufzte Freese. »Fünf halbe Mark. Davon kann man eigentlich auch nicht leben, was?«
»Doch«, sagte Kufalt aufmerksam.
Der Dürre mit dem Bauch sagte gar nichts, er sah immer nur Kufalt an.
»Wo waren Sie denn heute eigentlich?« fragte Freese voller Interesse, aber Kufalt merkte wohl, dass dies Interesse erheuchelt war.
»Im Norden«, sagte er kurz.
»Im Norden, so?« fragte Freese. »Bei den Lederfabriken? Fabrikstraße? Weberstraße? Linsingenstraße? Töpferstraße? Talstraße?«
Der Lange hatte eine Bewegung gemacht, als wollte er abwehren, saß aber schon wieder still.
»Ja«, sagte Kufalt.
Unheil war in der Luft, so viel war klar. Aber so viel war auch klar, dass man, mochte dies Unheil heißen, wie es wollte, solch ungewöhnliches Verhör nicht ohne Weiteres hinnehmen konnte, für den Fall eines Falles musste man vorsorgen …
»Wieso fragen Sie übrigens, Herr Freese?« erkundigte er sich und sah Herrn Freese an.
Der sah ihn mit seinen geröteten fischigen Augen wieder an. Die Zunge erschien im Mundwinkel, leckte die Lippen ab – jetzt denkt er: Trehne –, die Zunge verschwand wieder.
Freese hatte nichts geantwortet, dafür ließ sich plötzlich, eilig und böse die Stimme des Dürren vernehmen: »Heller Gummimantel – stimmt! Dunkle Hornbrille – stimmt! Käsiges Gesicht – stimmt! Grauer Filz stimmt nicht, aber sicher hat er noch einen grünen im Haus. Wir werden das nachsehen.«
Kriminalerfresse! Hätte ich doch längst sehen müssen, ich Idiot! denkt Kufalt erschauernd. Aber ich hab den Gummimantel ja gar nicht am Lübecker Tor angehabt!
Er fühlt – und ärgert sich darüber wütend –, wie er rot wird und wieder blass, plötzlich werden seine Knie weich, er muss sich fest an den Ofen lehnen.
Die beiden sehen ihn unverwandt an. Er versucht zu lächeln – es geht nicht. Er möchte etwas sagen – es wird nichts. Sein Mund ist plötzlich ganz trocken.
»Kriminalassistent Brödchen«, sagt der Dürre schließlich, als dies Schauspiel lange genug gedauert hat. »Mit Rücksicht auf meinen Freund Freese führe ich die Sache ohne Aufhebens.«
Er sieht sinnend das Kognakglas an.
»Sie haben also in der Töpferstraße geworben?«
Kufalt will antworten, Brödchen hebt die Hand.
»Ich mache Sie übrigens der Form halber darauf aufmerksam, dass alles, was Sie zu mir aussagen, gegen Sie verwandt werden kann. Sie brauchen nicht auszusagen.« Er unterbricht sich unzufrieden. »Aber Sie kennen den Rummel ja schon. Sie sind vorbestraft?«
»Ja«, sagt Kufalt.
»Wie viel?«
»Fünf Jahre Gefängnis.«
Der nickt, sicher weiß er das alles längst.
»Wegen was?«
»Unterschlagung.«
»Verbüßt wo?«
»Hier am Ort.«
Der Dürre mit dem Bauch nickt wieder und sagt gemütlicher: »Also, Sie kennen den Rummel, und ich denke, Sie machen keine unnötigen Scherereien. Wir haben Sie nun mal geklappt, Kufalt …«
»Wieso?« fragt Kufalt aufgeregt. »Ich verstehe überhaupt nichts. Ich bestreite alles.«
Der Kriminale nickt, sieht Freese, dessen Augen vor Spannung und Vergnügen funkeln, bedeutungsvoll an und sagt zu ihm gottergeben: »Du siehst, er kennt den Rummel! Bestreitet von vornherein alles! – In der Töpferstraße haben Sie aber doch geworben? – Übrigens haben Sie das schon zugegeben.«
»Das gebe ich auch wieder zu«, sagt Kufalt ganz verblüfft. (Was will der bloß mit seiner dämlichen Töpferstraße?)
»So, das geben Sie also zu. Schön. – Und bei einer Frau Zwietusch sind Sie da auch gewesen?«
Kufalt überlegt. Die beiden lauern so. Das scheint eine wichtige Frage. Es muss also doch etwas mit der Töpferstraße sein, trotzdem er nicht die Bohne versteht, wieso.
»Das kann ich nun nicht so einfach sagen«, erklärt er vorsichtig. »Ich geh jeden Tag in dreißig, vierzig Wohnungen. Da behält man nicht jeden Namen.«
»Sie bestreiten also, bei Frau Zwietusch gewesen zu sein?«
»Das habe ich nicht gesagt. Ich habe gesagt, ich wüsste es nicht. Ich müsste erst mal das Haus sehen. Und die Etagentür. Vielleicht auch die Frau.«
»Nummer 97«, sagt Herr Brödchen.
»Keine Ahnung, ich seh nicht auf die Nummern.«
Eine Weile herrscht Schweigen.
»Was ist denn überhaupt mit der Frau Zwietusch los?« fragt Kufalt. Er hat das sehr gut rausgebracht, findet er.
Die antworten ihm aber nicht, sondern der Dürre fragt stattdessen: »Besitzen Sie einen grünen Filzhut?«
»Nein«, sagt Kufalt.
»Was besitzen Sie denn noch für einen Hut?«
»Einen steifen schwarzen und einen bläulichen Filzhut.«
»Bläulich und grün sind leicht zu verwechseln«, erklärt Herr Brödchen dem Herrn Freese. »Jedenfalls ist es am besten, ich geh mit dem Kufalt erst mal auf seine Bude und revidier den Kleiderschrank.«
»Vorläufig immer Herr Kufalt«, protestiert Kufalt.
»Geben Sie bloß nicht an, Mensch«, sagt der Kriminalassistent ohne Aufregung. »Also denn gehen wir, Freese. Schönen Dank.«
»Trink doch erst deinen Kognak aus, Brödchen«, sagt Freese. »Komm, Kufalt, trink auch einen. Auf den Schreck.«
Kufalt voran, Brödchen hinterher, gehen sie los. Das Fräulein Utnehmer macht erschrockene, teilnehmende Augen, Herr Kraft aber hat sich in sein Hauptbuch versenkt und antwortet nicht einmal, als Kufalt ziemlich vergnügt »Guten Abend« sagt.
Ja, er ist ziemlich vergnügt; wenn die Kriminalen diesmal nicht einen Bummel gemacht haben, frisst er einen Besen!
Vor der Tür vom »Boten« bleibt Herr Brödchen überlegend stehen. »Sie brauchen nicht neben mir zu gehen, Herr Kufalt«, sagt er schließlich. »Freese sagt, Sie haben sich verlobt. Ich gehe hinter Ihnen. Aber wenn Sie Geschichten machen …!«
»Knallt’s!« bestätigt Kufalt. »Weiß schon. Ich mach keine Geschichten. Wenn Sie mir nur sagen wollten, was los ist mit der Frau Zwietusch, Herr Kriminalassistent.«
»Also ab nach Ihrer Wohnung!« kommandiert der.
»Schön«, sagt Kufalt und marschiert los.
Auf der Treppe vereinigen sie sich wieder. Brödchen scheint schlechter Stimmung, dass Kufalt hierher ohne Wippchen marschiert ist.
»Fein wohnen Sie für zwei Mark fünfzig den Tag.«
»Ich hab auch schon mehr verdient«, erklärt Kufalt. »Zweihundertvierzig Mark die Woche.«
»Davon hat mir Freese nichts gesagt«, bemerkt Brödchen unzufrieden.
»Dafür gibt’s Zeugen, Herr Assistent. Nach so was müssen Sie Herrn Kraft fragen«, entgegnet Kufalt fröhlich. »Das steht alles in den dicken Büchern. Und Quittungen sind auch da.«
Er knipst das Licht im Zimmer an.
»Und nun ist das Geld wieder alle?« fragt der Kriminale.
»Wieso denn?« wundert sich Kufalt. »Wer hat Ihnen denn den Quatsch erzählt? Elfhundertdreiundsiebzig Mark habe ich auf der Sparkasse.«
»So«, sagt der andere und wird immer unzufriedener. »Darüber sprechen wir noch. Schließen Sie erst mal den Kleiderschrank auf.«
»Der ist offen, Herr Assistent«, sagt Kufalt höflich.
»Feine Klamotten haben Sie«, bemerkt der Assistent. »Alles vom Werbelohn bezahlt?«
»Die Sachen hat mir mein Schwager geschickt. Auch dafür gibt’s Zeugen, Herr Sekretär.«
»So! – Setzen Sie mal diesen Hut auf«, sagt der Beamte triumphierend. »Der sieht entschieden grünlich aus. Das müssen Sie doch wenigstens zugeben, Herr Kufalt.«
»Bläulichgrau, finde ich«, entscheidet Kufalt vor dem Spiegel.
»Ach was, grün ist der! Das hat doch gar keinen Zweck, alles zu leugnen. – Zeigen Sie mal Ihr Sparkassenbuch.«
Kufalt holt es aus dem verschlossenen Schreibtisch.
»Seit den zweiten Januar haben Sie nichts mehr eingezahlt? Wie viel Bargeld haben Sie noch hier«
Kufalt sucht es zusammen, es sind sechsundvierzig Mark.
»Und wo sind die dreihundert Mark?« fragt der Beamte.
»Welche dreihundert Mark?«
»Die Sie der Zwietusch aus der Kommode genommen haben. – Tun Sie doch nicht so, Kufalt, es hat gar keinen Zweck. Ich mach heute Abend noch Haussuchung in Ihrer Bude, und wenn Sie’s beiseite geschafft haben, finde ich es auch.«
Kufalt ist ganz fröhlich. Sein Herz hat einen erleichterten frohen Schlag getan.
»Also der Frau Zwietusch hat einer dreihundert Eier aus der Kommode geklaut? Na, Herr Assistent, dann ist es das Einfachste, wir gehen gleich zu ihr. Und dann wird sie Ihnen bestätigen, dass ich es nicht war.«
Der Beamte sieht ihn aufmerksam an.
»Warum freuen Sie sich denn so?« fragt er.
»Weil ich nun weiß, was es ist, und weil ich nun weiß, es wird sich gleich aufklären. – Gehen wir also los.«
Aber Herr Brödchen setzt sich. »Und warum haben Sie vorhin solche Angst gehabt am Ofen?«
Kufalt wird verwirrt. »Gar keine Angst habe ich gehabt«, bestreitet er.
»Natürlich hat er Angst gehabt«, sagt der Beamte wie zu sich. »Freese wird’s bestätigen können. – Nein, nein, Kufalt, etwas haben Sie auf dem Kerbholz – wenn Sie es auch bei der Zwietusch nicht gewesen sein sollten … was ich bezweifle …«
»Ich hab keine Angst gehabt«, sagt Kufalt und hat sich wieder gefasst. »Aber wenn einer vorbestraft ist wie ich, dann ist es ihm ungemütlich, wenn er mit ’nem Kriminaler redet. Man weiß ja nie, kann man seine Unschuld auch beweisen, unsereiner ist doch immer gleich im Verdacht …«
»Nee, nee, Kufalt«, sagt der andere. »Mich reden Sie nicht dumm. Ich kenn euch Brüder doch. Irgendwo stinkt’s bei Ihnen.« Er versinkt wieder ins Grübeln. »Na, gehen wir also erst einmal zur Zwietusch.«
»Ja, gehen wir«, sagt Kufalt trotzig. »Verdächtigen, das kann jeder … Sehen Sie, Herr Assistent, wo ich so schön Geld verdient habe, und es liegt auf der Kasse, und ich will zu Ostern heiraten – ich wär doch saudumm, wenn ich wegen dreihundert Mark mir alles vermasseln wollte.«
»Mancher ist dumm und weiß es nicht«, sagt der Assistent melancholisch. »So klauen ist überhaupt dumm.«
»Ja, und darum tu ich’s auch nicht. Ich hab mal unterschlagen; das wissen Sie doch selbst, Herr Assistent, dass Unterschlagen und Klauen was ganz Verschiedenes ist.« Er macht ein Geständnis: »Ich wär viel zu feige zum Klauen, Herr Assistent.«
»So, so«, sagt der. »Trinken Sie jeden Tag so viel Kognak?«
»Ich hab doch nicht viel Kognak getrunken!«
»Jedenfalls mehr, als Ihnen gut ist, und auch mehr, als Ihnen Freese gegeben hat. – Haben Sie auch Kognak getrunken, als Sie in der Töpferstraße geworben haben?«
»Nein, ich trinke fast nie Kognak.«
»Aber heute haben Sie getrunken?«
»Ja … ich war schlechter Laune, weil ’s Geschäft schlecht ging.«
»Wo?«
»Bei Lindemann.«
»Und wie viel?«
»Vier.«
»Und dazu den von Freese. Macht fünf. Mit fünf Kognaks kann ’ne Hand schon mal ausrutschen.«
»Ich hab aber nicht getrunken, wie ich in der Töpferstraße werben gegangen bin.«
»Das werden wir sehen.« Der Beamte gähnt. »Gehen wir also zur Frau Zwietusch.«
»Ich glaube, in dem Haus bin ich nicht gewesen«, sagt Kufalt und sieht an dem Mietskasten Töpferstraße 97 hoch, der im ungewissen Licht einer Gaslaterne daliegt.
»Glauben ist Religionssache«, antwortet Kriminalassistent Brödchen. »Warum sollten Sie grade in diesem Haus nicht gewesen sein, wo Sie die ganze Töpferstraße abgeklappert haben …?«
»I wo, ich geh doch nicht in alle Häuser! Manche sehen mir von vornherein nicht so aus, da gehe ich erst gar nicht hinein!«
»So!« sagt Herr Brödchen. »Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, aber man kann auch zu vorsichtig sein, Kufalt. – Kennen Sie das Treppenhaus?«
»Ist ein Arbeitertreppenhaus«, sagt Kufalt prüfend. »Direkt kennen, mich erinnern …? Die sehen sich doch alle ähnlich!«
Und er bückt sich, um die Schilder an den drei Etagentüren im Parterre zu lesen.
»Nee! Zweiten Stock doch!« ruft Brödchen ungeduldig, und Kufalt ersteigt gehorsam die erste Treppe, die zweite Treppe, Brödchen hinterher.
»Also kommen Sie wieder runter«, sagt Brödchen unzufrieden. »Wenn Sie es gewesen sind, sind Sie ein ganz ausgekochter Hund. Es ist natürlich im Parterre.«
»Ach Gott, Herr Assistent«, sagt Kufalt fröhlich, »seit ich weiß, worum es sich dreht, habe ich gar keine Bange mehr.«
Aber das war ein Fehler, denn der Kriminale sagt mit Bedeutung: »Seit Sie wissen, dass es sich nicht darum dreht! – Klopfen Sie an, und gehen Sie zuerst rein … Ich möchte mal sehen …«
Also Kufalt klopft, und eine fette Weiberstimme ruft: »Herein!«
Es ist eine kleine Arbeiterwohnung, zuerst kommt man in die Küche, die Tür zur Stube dahinter steht offen. Kufalt sieht zwei Betten mit einer weißen Waffeldecke.
Am Herd steht eine dicke, schwammige Frau, schmierigdunkel gekleidet, mit einem weißen, vollen Gesicht mit hängenden Backen, dunklen, unruhigen Augen.
Kufalt sieht die Frau prüfend an, er ist ganz sicher, er hat sie nie gesehen. Dann nimmt er seinen (doch bläulichgrauen!) Filz ab und sagt höflich: »Guten Abend.«
»’n Abend«, sagt die Frau. »Was soll’s denn sein?«
Kufalt antwortet ihr nicht.
»Na?« ruft er triumphierend zum Kriminalbeamten, der im Schatten geblieben war. »Hat sie mich erkannt, oder hat sie mich nicht erkannt?«
Ihm nun wieder antwortet Herr Brödchen nicht. Er tritt aus dem Schatten. »’n Abend, Frau Zwietusch. Das ist also der junge Mann?«
»Ich protestiere!« schreit Kufalt wütend. »Wenn Sie der Frau erzählen, ich bin das, so glaubt sie es auch. Ich bin es nicht, Frau Zwietusch, Sie haben mich überhaupt noch nicht gesehen, nicht wahr?«
»Halten Sie den Mund, Kufalt«, sagt Brödchen grob. »Sie haben hier gar nichts zu fragen! – Frau Zwietusch, das ist also der junge Mann, der hier in der Straße für den ›Boten‹ geworben hat. Ist er bei Ihnen gewesen?«
»Sehen Sie mich an!« beschwört Kufalt. »Sehen Sie mich bitte genau an.«
»Den Mund sollen Sie halten, Kufalt!«
Die Frau sieht hilflos von einem Mann zum anderen.
»Ich weiß ja nicht …«, sagt sie. »Man sieht sich die Leute doch nicht so an. – War er so groß?« fragt sie hilfesuchend den Beamten.
»Das frage ich Sie – heller Gummimantel, dunkle Hornbrille, fahles Gesicht – Sie sehen, das stimmt, Mutter Zwietusch.«
»Ja …«, sagt sie zögernd.
»Hab ich denn so ’nen Hut aufgehabt?« fragt Kufalt dringend. »Ich meine, hat der solchen Hut aufgehabt? Sie haben doch gesagt, er hat einen grünen Hut aufgehabt! Mein Hut ist doch nicht grün …?«
»Nee …«, sagt sie misstrauisch. »Grün ist der wohl nicht …«
»Hat der Mann denn solchen Hut aufgehabt, solche Fasson, Mutter Zwietusch?« fragt auch der Beamte.
»Ich weiß doch nicht«, sagt sie. »Er hat ihn doch gleich abgenommen. Hab ich grün gesagt?«
»Grün haben Sie gesagt.«
»Vielleicht hat er auch so ausgesehen?«
»Ja, Sie müssen es wissen, Frau Zwietusch«, sagt der Beamte streng. »Sie haben übrigens ausgesagt, er hat den Hut auch drüben, im Zimmer, aufbehalten, erst beim Schreiben hat er ihn neben sich auf den Tisch gelegt.«
»Hab ich das? Dann wird es wohl stimmen. Dann wird es wohl der Hut sein, Herr Kommissar.«
»So!« sagt Herr Brödchen. Aber er ist sichtlich sehr unzufrieden. »Und ist das der junge Mann?«
»Erst hab ich gedacht, er ist es nicht, der andere ist größer gewesen und hat auch ’ne rauere Stimme gehabt. Aber jetzt glaube ich beinahe, er ist es doch gewesen.«
»So«, sagt Brödchen, immer unzufriedener.
»Hat er denn das Geld noch, Herr Kommissar?« fragt sie zutraulich und deutet mit dem Daumen auf Kufalt.
Der Kriminalassistent antwortet nicht.
Kufalt steht da. Nichts mehr von Fröhlichkeit, nur Furcht, grenzenlose Furcht. Dafür hat er sich abgestrampelt, dafür hat er sich gequält, dass ihn solch ein altes dummes Weib grundlos reinsenkt. Brödchen braucht es bloß ein bisschen leicht zu nehmen: Hat ihn erkannt, also gut, ist er’s auch gewesen, hab ich die Sache geklärt – und er sitzt drin. Denn nur noch fünf Minuten – und sie erkennt ihn bestimmt wieder. Ja, sie glaubt sogar felsenfest daran, beschwört es besten Glaubens vor jedem Richter der Welt!
Und er hat gar keine Möglichkeit, sich zu wehren, er ist vorbestraft, jeder traut es ihm zu, sinnlos ist alles. Was soll werden? Was in aller Welt soll werden mit Hilde und Harder und Freese und Kraft? Und mit ihm? Und mit ihm!
»Frau Zwietusch!« beschwört er sie. »Sehen Sie mich doch genau an! Hat der solch dunkelblondes Haar gehabt? Hat er so den Scheitel getragen? Hat er hochdeutsch gesprochen wie ich? Oder hat er platt geschnackt? Überlegen Sie doch mal …«
Brödchen sitzt auf einem Küchenstuhl und sieht musternd von Kufalt zur Frau, von der Frau zu Kufalt.
»Nee, nee, junger Herr«, sagt die alte Frau weinerlich. »Sie wollen mich bloß verwirrt machen. Der Herr Kommissar hat auch gesagt, Sie sollen den Mund halten. Und eine Schande ist es von Ihnen, einer alten Frau ihr ganzes Erspartes aus der Kommode zu klauen, und ganz scheinheilig haben Sie noch gesagt: ›Machen Sie nur erst am Herd, dass Ihr Essen nicht anbrennt, ich kann warten‹ …«
Plötzlich erzittert Kufalt, eine Erinnerung kommt ihm, als hätte er wirklich irgendwo gesessen, hätte wirklich so was gesagt …
Da erklärt Herr Brödchen streng: »Nee, Zwietuschen, so einfach ist das nun auch nicht. Jetzt dürfen Sie sich nun auch keine Geschichten einbilden! Viel spricht bisher nicht dafür, dass Sie ihn wiedererkannt haben.«
»Aber wo ich es doch sage, Herr Kommissar«, klagt sie. »Natürlich habe ich ihn erkannt. Der ist es gewesen!«
»Nie, nie bin ich bei Ihnen gewesen!« ruft Kufalt erbittert.
»Und so ’nen goldenen Ring hat er auch an der linken Hand getragen, genau hab ich’s gesehen, als er das Buch beim Schreiben festhielt!«
»Davon haben Sie aber bisher nichts angegeben, Frau Zwietusch!«
»Weil’s mir eben erst eingefallen ist, Herr Kommissar. Bestimmt hat er solchen Ring gehabt!«
In diesem Augenblick wird sie unterbrochen.
Ein großer, untersetzter Mann in gelblichweißer Maurerkleidung stürzt herein, eine blaue Emaillekanne wie ein Wurfgeschoss in der Hand schwingend. In das von Kalkspritzern befleckte Gesicht hängen lange schwarze Haarsträhnen.
»Wo ist der Lump, der meiner Frau ihr Erspartes geklaut hat?!« schreit er wütend. »Komm her, du Aas, ich schlage dir alle Knochen im Leibe zu Brei …!«
Und er springt auf Kufalt zu, fasst ihn an der Brust …
»Sachte, Zwietusch …«, sagt Brödchen. »Sachte …«, sagt der Herr Brödchen und beeilt sich nicht sehr, dazwischenzutreten.
»Lassen Sie mich gefälligst los!« schreit auch Kufalt. »Nichts habe ich Ihnen geklaut!«
Und er versetzt dem Riesen einen Stoß.
In der offenen Tür drängen sich die Nachbarinnen.
Der Stoß ist nicht sehr kräftig gewesen, denn Kufalt ist nicht sehr kräftig. Aber doch verliert der große Mann sofort den Halt, er taumelt zurück, rutscht, aus und setzt sich auf den Fußboden.
An der Küchentür wird bedauerndes Tuscheln hörbar. In die schwarzen, eben noch wutfunkelnden Augen des Maurers tritt ein Ausdruck blöden Erstaunens, dann lacht er schallend auf.
»Betrunken! Schon wieder betrunken!« ruft Frau Zwietusch klagend. »Jeden Abend jetzt betrunken …!«
»Das ist der Kummer wegen dem Geld!« ruft eine spitze Frauenstimme von der Küchentür her.
»Totschlagen müsste man solche jungen Kerls!«
»Arbeitergroschen mit ihren Weibern veraasen …!«
Brödchen hat die Szene aufmerksam betrachtet. »Sie dürfen aufstehen, Zwietusch. Seit wann trinken Sie denn wieder?«
»Das geht keinen was an«, sagt der starke Mann mürrisch, mühsam mit Hilfe eines Küchenstuhles hochkommend. »Aber wenn ich dich Bürschchen mal wieder erwische …!«
»Dürfen Sie nicht wieder besoffen sein«, ergänzt Brödchen trocken. »Kommen Sie, Kufalt. Vielleicht sprechen wir morgen früh noch mal vor, Frau Zwietusch, dass Sie sich den Herrn bei Tageslicht ansehen. Guten Abend!«
Und durch das schimpfende Spalier der Weiber geht er ab mit seinem Beschuldigten.