War es da bei solch glücklichen Zeiten ein Wunder, dass Kufalt sich kaum noch um den kleinen Emil Bruhn kümmerte, ja, dass er ihm eigentlich aus dem Wege ging?
Er besuchte ihn nicht mehr, und wenn Bruhn zu Kufalt kam, so war er entweder nicht zu Haus oder in großer Hast, sich umzuziehen und wieder wegzukommen.
Einmal aber, kurz nach Weihnachten, hatte sich Bruhn bei solchem Umziehen in den großen Plüschsessel gehockt und zugesehen. Er hatte noch kleiner und rundlicher als sonst ausgeschaut, aber sehr sorgenvoll. – Gehört zu den Leuten, die Kummerspeck ansetzen, dachte Kufalt flüchtig.
»Stimmt es, dass du mit der Hilde von Harders gehst?«
»Ja, Emil.«
»Dass du dich richtiggehend mit ihr verlobt hast?«
»Ja, Emil.«
»Fiole oder ernsthaft?«
»Ernsthaft, Emil.«
»Und der Junge?«
»Ein netter Junge, Emil, mag ihn furchtbar gerne.«
»Wissen die das eigentlich von dir?«
»Nein, Emil.«
»Willst du’s ihnen erzählen?«
»Noch nicht, Emil.«
»Mir hast du damals gesagt, man muss es gleich erzählen.«
»Man weiß nie, wie was kommt.«
»Also doch Fiole!«
»Nein, ernsthaft.«
»Warum sagst du’s denen dann nicht?«
»Sage es ihnen schon noch.«
»Wann?«
»Bald.«
Kufalt rasiert sich sehr sorgfältig, deswegen wohl antwortet er auch so kurz. Nun aber ist er mit dem Rasieren fertig, macht Oberhemd zurecht, Kragen und Schlips, und so kann er fragen.
»Bist du eigentlich immer noch in der Fabrik, Emil?«
»Wie …?« fährt Bruhn zusammen.
Kufalt lacht. »Wo bist du denn mit deinen Gedanken, Emil? – Ob du noch in der Fabrik bist, frage ich.«
»Ja«, sagt Bruhn auch kurz und ist weiter gedankenvoll. Dann fragt er: »Wie ist das, Willi, wenn nun einer den Harders erzählt, dass du vorbestraft bist?«
»Wer soll denen denn das erzählen?«
»Nun irgendeiner – ein Wachtmeister zum Beispiel!«
»Wachtmeister dürfen doch nichts erzählen, so was ist Dienstgeheimnis.«
»Oder ein Ganove?«
»Warum soll ein Ganove denn das erzählen? Der hat doch nichts davon.«
»Vielleicht kriegt er ein Trinkgeld vom ollen Harder, dass er ihn gewarnt hat?«
Kufalt denkt angestrengt nach, er schiebt die Unterlippe vor, besieht sich in seinem Rasierspiegel, probiert, ob die Haut am Kinn auch glatt ist, und denkt immerzu nach.
Ziemlich lange kriegt Emil Bruhn keine Antwort.
Und als Kufalt spricht, ist die Antwort auch keine Antwort, sondern eine Frage: »Warst du eigentlich beim Alten, Emil?«
»Ja«, sagt Emil.
»Na – und?«
»Schieterkram.«
»Wieso Schieterkram? Ja oder nein?«
»Kostet sehr viel Geld.«
»Ob er ja gesagt hat?«
»Ich hab ihm erzählt, ich hab fünfhundert Mark erspart, die schustere ich zu.«
»Und was hat er gesagt?«
»Dann will er’s versuchen.«
»Also ist ja alles in Butter.«
»Nein.«
»Wieso ist nicht alles in Butter?«
»Weil ich keine fünfhundert Mark zuzuschustern habe.«
»Wie viel hast du denn gespart?«
»Gar nichts.«
»Warum sagst du denn, du hast sie?«
»Weil ich denke, ich kriege sie, Willi.«
Kufalt zieht sich bedächtig seinen Mantel an, dann betrachtet er sich im Spiegel und zieht das Jackett hinten etwas herunter. Er nimmt seinen Hut.
»Also ich geh jetzt, Emil.«
»Ich komm noch ein Stück mit längs, Willi.«
»Schön, Emil.«
So gehen sie, beide drucksen. Bruhn weiß nicht recht und möchte gern, aber Kufalt ist komisch, er müsste es doch eigentlich gewohnt sein aus dem Bunker, Kippe oder Lampen ist Satz, Kippe oder Lampen ist ein klares Geschäft.
Kufalt aber ist wütend und todestraurig. Hat er ihn wirklich gerne gemocht, den kleinen Bruhn? Ja, nun scheint es so, er hat ihn wirklich gerne gemocht, und nie, nie hätte er gedacht …
»Weißt du, Willi«, versucht Bruhn zu erklären, »ich muss aus der Fabrik, das hält keiner aus, verstehst du?«
»Ja, ja«, sagt Kufalt.
»Sonst passiert nämlich was.«
»Ja, ja«, sagt Kufalt wieder gedankenvoll. »Sicher hast du es falsch angefasst mit dem Direktor.«
»Du kannst ja selber mal mit ihm reden, Willi?«
»Nein, nein«, sagt Kufalt mit Bedeutung. »Weißt du, mit den Ganovengeschichten möcht ich nichts mehr zu tun haben, verstehst du, Bruhn?«
Er bleibt stehen.
»Ich geh jetzt hier rein in die Lütjenstraße, Emil. Lütjenstraße 17 wohnt mein Schwiegervater. Na, du kennst ja den Laden, Emil.«
Er steht aber immer noch und betrachtet den kleinen Bruhn mit dem Seehundskopf.
»Und übrigens ist mir alles scheißegal, Emil. Die Hilde ist mündig, und dafür, Emil …«, Kufalt beugt sich vor und flüstert geheimnisvoll in Bruhns Gesicht hinein, »dafür, Emil, hab ich schon gesorgt, dass sie wieder ›fest‹ ist, verstanden?«
Er starrt, plötzlich grinsend, den Bruhn an, lacht schallend los und geht die paar Häuser bis zu Harders weiter, ohne sich umzusehen.
Mann über Bord, kann man da nur sagen, denkt er.
Nach Weihnachten war das Annoncengeschäft sehr still geworden, und Kufalt hatte sich wieder auf Abonnenten legen müssen, um etwas Geld in die Kasse zu bekommen. Bitter war das. Bei einer Annonce blieben fast mühelos fünf oder acht oder zehn Mark Prozente hängen, und nun musste er wieder endlos für ganze fünf Viertel Mark reden und unter fünf Malen auch noch vier erfolglos.
Denn mit den Handwerkern, die verhältnismäßig bequeme Kunden gewesen waren, war er nun durch. Jetzt musste er Haus für Haus abklappern, straßenweise. Nie wusste er genau, was da für Menschen hinter den Türen wohnten, an denen er klingelte, was er sagen musste, um ihnen angenehm zu sein. Schließlich kam da so eine misstrauische Frau raus, bei der die feinsten Formen nicht verfingen, die gar nicht erst die Kette losmachte, sondern, ohne ihn anzuhören, die Tür zuschlug: »Wir brauchen nichts.«
Aber es konnte auch vorkommen – und das war vorgekommen –, dass er einmal an ganz unverhoffter Stelle, bei irgendeiner roten Arbeiterfrau, Erfolg hatte, ihr ein Abonnement aufschnackte. Kam er dann aber abends auf den »Boten«, so war der Mann schon dagewesen, hatte Krakeel gemacht und sein Geld zurückverlangt: Sie läsen ihr Soziblatt und nicht solchen Bourgeoisdreck, und wenn er den windigen Kerl von Anreißer erwischte, würde er ihm alle Knochen im Leibe zerschlagen. Arme Frauen dumm zu reden, verdammter Hund, der!
Kraft aber hatte milde bemerkt, zu schlimm sollte es Kufalt auch nicht mit dem Zureden machen, und Kufalt hatte gereizt gefragt, ob Herr Kraft glaube, die Leute jauchzten gleich, dass sie den »Boten« lesen dürften …?
Dann aber waren die letzten Dezembertage gekommen, und richtig hatte sich das Geschäft in Annoncen wieder lebhafter angelassen, und gar zum Silvestertag hatte Kufalt zweieinhalb Seiten zusammenbekommen. Er hatte aber auch gegrübelt und zu allem anderen noch die Spielzeugläden mit ihrem Feuerwerk und die Porzellangeschäfte mit Neujahrstellern mobilgemacht. Und schließlich waren noch all die guten Wünsche an die werte p. t.1 Kundschaft zum Neujahrsfeste dazugekommen.
Süßsauer lächelnd hatte Kraft wieder einmal zweihundertfünfzehn Mark an Kufalt ausbezahlt, nicht ohne die Bemerkung zu machen: »Wie gewonnen, so zerronnen.«
Das kümmerte Kufalt aber einen Dreck, erstens kamen bald die Inventurausverkäufe, und zweitens hatte er jetzt ein richtiges Sparbuch, und auf dem Sparbuch standen trotz aller Geschenke über tausend Mark. Nein, nichts von zerronnen!
So ging Kufalt denn, abgeseift von Kopf bis zu Fuß, sauber eingepuppt und mit glänzenden Nägeln, festlich zu den Harders, trank seine paar Gläschen sanften Punsch und hörte befriedigt, wie Frau Harder um halb zehn sagte: »Na, Eugen, für uns wird es jetzt wohl Zeit, wir warten doch nicht bis zum Läuten?«
Der Alte brummte verneinend und sagte: »Aber, Kinder, ihr könnt gerne noch ein bisschen ausgehen. Immer zu Haus hocken ist auch nichts, und übers Jahr seid ihr ja schon verheiratet, und wer weiß, ob ihr da noch ausgehen könnt.«
Wobei er wieder mal die Gestalt seiner Tochter betrachtete.
Hilde verschwand, und dann kam sie in einem entzückenden, hellen, ganz blass geblümten Kleid wieder, und einen schönen, geflochtenen Goldzopf hatte sie um den Hals … »Wirklich nett sieht das Mädchen aus«, hatte Harder ganz verwundert gesagt. Und das Rosa in ihren Backen war beinahe rot geworden, und übermütig hatte sie Vater und Mutter einen Kuss gegeben und: »Alles Gute und schlaft schön rüber ins neue Jahr!«
Dann aber waren die beiden Jungen losgezogen, und vom Fenster hatten die beiden Alten ihnen nachgeschaut.
Es schneite leicht, viele Leute waren unterwegs, und in den meisten Schaufenstern am Bummel brannte Licht. Sie schlenderten zuerst ein wenig umher, und Hilde hatte die eine Gardine schön gefunden, er aber eine andere, bis sie sich schließlich auf eine dritte geeinigt hatten. Sie hatten Möbel angesehen, und ihm war eingefallen, dass in der Helmstädter Straße solch entzückendes Schlafzimmer ausstand, das er ihr schon immer hatte zeigen wollen. So waren sie denn den langen Weg bis dahin gegangen, um zu finden, dass Tischler Schneeweiß sein Schaufenster nicht beleuchtet hatte.
Hier aber waren sie in der Nähe vom Rendsburger Hof, und Hilde bat ihren Willi, doch einen Augenblick da hineinzugehen; sicher wollte sie sich ihren ehemaligen Freundinnen mit Bräutigam präsentieren.
»Und da haben wir uns doch zum ersten Male gesehen, und ich habe dich auch gleich gesehen. Aber wie du mich so anstarrtest, durfte ich es ja nicht merken lassen. Und weißt du noch, wie du der Wrunka und mir beinahe bis auf die Toilette nachgelaufen bist? Der geht ran, hat die Wrunka gleich gesagt. Komm, wir sehen nur einen Augenblick rein, wenn es auch nicht so fein ist da …«
Er aber schlug es ihr rundweg ab, denn sicher würden sie angepöbelt. Ihm war so was nicht piepe, und dass man ihr ausgerechnet in seiner Gegenwart die Jungfer mit Kind vorhalten sollte, und womöglich warfen die ihm noch das Kittchen vor, und sicher war der kleine Emil Bruhn da … »Also, unter allen Umständen, nein!«
Er dagegen hatte ein kleines Kellerlokal am Markt für sie beide in Aussicht genommen, ein Café Zentrum, das ihn schon immer durch irgendwas Verstaubtes, Verludertes gelockt hatte, in das er aber bisher durch irgendeinen Zufall noch nicht gekommen war. Doch kaum sprach er Hilde davon, als sie nun wieder dies Lokal entschieden ablehnte.
»Nein, unter keinen Umständen! Nein.«
»Was hast du denn dagegen? Ich wollte es mir doch nur mal ansehen.«
»In solch Lokal geh ich nicht!«
»Aber du musst doch sagen können, warum!«
»In solch ein Ding – was die Leute davon erzählen!«
»Bist du denn einmal drin gewesen?«
»Ich …? Nein, nein, und ich geh auch nicht rein. Auch mit dir nicht.«
Sie standen noch immer an der Ecke beim Tischlermeister Schneeweiß, es war dunkel und zugig, sie froren.
Ein Mann kam vorüber, er hatte gemerkt, dass sie sich stritten, er rief:
»Na, Lottchen, will he nich? Schall ick em en beten an de Büx?«
»Komm!« sagte Kufalt hastig und ging mit ihr los. Der betrunkene Silvesterschwärmer rief ihnen eine Schweinerei nach.
Sie gingen eilig, lose ineinander eingehängt, dem Stadtinnern zu.
»Ich möchte wohl wissen«, sagte Kufalt aus tiefem Nachsinnen, »warum du nicht in das Café Zentrum willst.«
»Weil ein anständiges Mädchen nicht in solch ein Café geht.«
»Ach nee?! Und auf den Rendsburger Hof geht solch Mädchen zum Schwof?«
Sie machte sich mit einem Ruck von ihm los, sie rief verzweifelt, und sie war wirklich verzweifelt: »O Willi, Willi, musst du mich denn immer quälen?!«
»Quälen …?!« fragte er verblüfft, »immer quälen …?! Weil ich mit dir in ein Café gehen will?«
Sie sah ihn einen Augenblick an, ihr Gesicht zuckte, ihre Lippen bewegten sich, sie wollte etwas sagen. Aber dann nahm sie nur seinen Arm und bat leise: »Komm, bring mich nach Haus.«
»Wir gehen doch jetzt nicht nach Haus!« rief er verblüfft. »Wenn du eben durchaus nicht ins Zentrum willst, gehen wir woandershin. Ist dir Café Berlin recht?«
Sie antwortete nicht, und nach einem Augenblick merkte er, dass sie leise vor sich hin weinte.
»Nicht, Hilde«, sagte er und sah nach den Leuten. »Nicht doch.«
»Es ist gleich wieder gut«, sagte sie schluckend. »Komm, wir stellen uns einen Augenblick an das Schaufenster.«
»Aber warum weinst du denn? Wieso quäle ich dich denn? Sag doch, Hildeken, ich versteh ja nichts.«
»Nichts, nichts«, sagte sie, schon wieder lächelnd. »Jetzt reib ich mich nur ein bisschen ab und schnaub die Nase …«
»Aber ich möchte doch gerne …«, fing er hartnäckig wieder an.
»Bitte nicht«, sagte sie. »Wir wollen heute doch lustig sein.«
Und sie waren es dann auch. Denn im Café Berlin gab es einen herrlichen sächsischen Komiker, der so gut sächsisch sprach, dass man ihn sogar verstand, und der sie ununterbrochen lachen ließ, und eine Spitzentänzerin mit rasierten Achselhöhlen und weißgepuderter Brust – und eine ältere Dame sang ungemein freche Lieder …
Sie saßen im Trubel, alles lachte, schrie, trank, jubelte. Konfetti hagelte, Papierschlangen hüllten sie ein, und sie saßen stocksteif, diese Zier nicht zu zerreißen. Dann spielte die Kapelle einen Tusch, und es war Mitternacht. Sie gaben sich feierlich die Hände.
»Auf ein recht gutes Jahr, Hilde, für uns beide!«
»Dir auch, mein Willi! Dir auch!! Ach, mein Willi!«
Sie tranken noch einen kleinen Grog, und Hildes Backen fingen zu glühen an. Sie erzählte, kleines Geschwätz, Getratsch, was die eine ausgefressen und wie verrufen die andere war und was die dritte sich alles einbildete …
»Aber ich bin auf keine neidisch. Wo ich meinen süßen Willi habe. Und jetzt noch einen süßen Willi – zwei süße Willis …«
Sie lachte laut. Und wenn auch dies Geschwätz und Lachen im Allgemeinen Trubel untergingen und kaum einer den Kopf nach den beiden an der Wand drehte – Kufalt war es doch peinlich, und doppelsinnig war es auch, das Gerede von den beiden süßen Willis, und nett war ihr Lachen auch nicht gewesen …
»Komm, Hilde, wir gehen.«
»Aber du kannst doch morgen ausschlafen!«
»Wir gehen noch wohin, wo wir tanzen können.«
»Fein«, sagte sie. Sie lachte. »In den Rendsburger Hof.« Ihre Augen funkelten wagemutig. »Da hast du wohl deine andere Braut, die du nicht zeigen willst?«
Er fragte böse: »Und wen hast du im Café Zentrum?«
Einen Augenblick war sie verlegen, dann lachte sie los. »Bist du eifersüchtig, armer Willi? Nein, du brauchst nicht eifersüchtig zu sein, ich bleib dir treu und lass mich nicht verführen …«
Sie sang es nach einer Schlagermelodie.
Leute umher lachten beifällig. »Das Mädchen ist richtig.«
»Komm doch, Hilde«, bat er. Und dachte: Und hat sich doch von mir verführen lassen, und wenn von mir, ist auch jeder andere möglich …
Eine tiefe Traurigkeit erfüllte ihn. Was hat das denn alles für einen Sinn! dachte er. Ich hab ja nichts mit ihr zu tun, ich mag sie nicht einmal gerne. Und weswegen denn alles? Wirklich nur, weil sie sich damals nicht mehr sehen ließ und weil ich ein bisschen Mitleid mit ihr hatte? Ach, nur das Fleisch, nur das Fleisch, bei jeder anderen wäre es auch noch einfacher, und ich brauch’s nicht einmal, das Fleisch … Wenn man doch rauskäme, fortkäme, wegkäme … Dies geht im Leben nicht gut. Wenn man doch einmal ganz von Frischem anfangen könnte …!
»Woran denkst du?« fragte sie.
»An nichts Besonderes«, antwortete er.
Dann aber kamen sie doch nicht mehr zum Tanzen, sondern irgendwie landeten sie in einer kleinen Weinstube und tranken noch eine Flasche Süßwein. Hilde war traurig gewesen und gereizt, übermütig, lustig und geschwätzig – jetzt, von der Flasche Wein, wurde sie einfach müde, todmüde, die Augen klappten ihr zu … »Bitte, bring mich nach Haus, Willi, bitte!«
Vor der Haustür stand sie, beinahe wankend vor Schläfrigkeit, in seinem Arm.
»Noch einen Kuss, Willi. Oh, bin ich müde!«
»Ich aber auch«, sagte er.
Es war, als ermuntere sie sich etwas. »Nicht wahr, du gehst gleich nach Haus, du gehst nicht mehr irgendwohin.«
»Wohin soll ich denn jetzt noch gehen um vier? Ich hau mich sofort hin.«
»Ganz bestimmt?«
»Aber todsicher«, sagte er und versuchte zu lachen.
»Gibst du mir dein Ehrenwort?«
»Aber natürlich geb ich dir mein Ehrenwort. Ich geh gleich nach Haus.«
Sie schwieg, irgendwie schien sie unzufrieden zu sein und nachzudenken.
»Also, Hildeken«, sagte er und reichte ihr die Hand.
Sie nahm ihn ganz fest in ihre Arme. »Mein Willi, mein lieber, süßer Willi …« Sie küsste ihn, sie flüsterte: »Komm doch mit, mein süßer Willi, die Eltern gehen nie in mein Zimmer …«
»Nein, nein«, sagte er erschrocken.
»Aber warum denn nicht? Ich sehn mich so nach dir. – Willi, ich halt das nicht aus! Was hast du gegen mich? Bis Ostern halt ich das nicht mehr aus.«
»Denk doch an den Jungen, Hilde. Das geht doch nicht.«
»Ach, der Junge wird nie vor acht wach. Ich weiß das doch. Komm schon. Einmal, nur einmal, Willi.«
»Nein«, widerstand er. »Nein, ich will das nicht. Nachher passiert was, und alle reden über uns.«
»Das tun sie doch schon so. Das kann uns doch egal sein.«
»Nein, ich tu es nicht. Sei vernünftig, Hilde, denk doch, die paar Wochen bis Ostern!« Er nahm sie in seinen Arm, er tröstete sie (und wusste dabei: Jedes Wort war unwahr. Etwas anderes würde geschehen. Was aber das andere war, das geschehen würde, das wusste er nicht).
»Denk doch daran, wie schön wir es dann haben werden, ganz allein in unserer eigenen Wohnung für uns, ein helles freundliches Zimmer. Und ich glaub bestimmt, ich schaff es mit den blauseidenen Steppdecken statt der Federbetten. Dann können wir alle auslachen, und niemand kann uns noch etwas wollen, und es ist alles viel sauberer als so in der Heimlichkeit, und vor deinen Eltern müsste ich mich auch schämen. Jetzt kann ich die doch grade ansehen …«
»Aber du hast doch …!« rief sie verständnislos und erschrocken aus. »Du hast doch schon einmal, Willi …«
Sie sahen sich an.
»Also ich geh jetzt nach Haus«, sagte er böse. »Ich glaub, du hast einen sitzen, gute Nacht.«
Er wartete ihr »Gute Nacht« nicht ab, er wartete nicht ab, bis sie über den Hof verschwand.
Im Fortgehen hatte er, obwohl er sich nicht umdrehte, das ganz genaue Bild von ihr vor Augen, wie sie dastand, ihm nachstarrend, Todesangst im Blick.
1 bei der Ansprache von Personen mit unbekannten Titel die Nennung des Titels ersetzend; von Latein pleno titulo: »mit vollem Titel« <<<