Emil Bruhn wohnte in der Lerchenstraße, auch weit draußen vor der Stadt, in der Nähe seiner Holzwarenfabrik, in der er, genau wie im Kittchen, Fallennester für Hühner im Akkord nagelte.
Er hatte seine grünlich getünchte Kammer nicht für sich allein.
Er teilte sie mit dem Wächter einer Lederwarenfabrik, der abends um acht fortging und erst morgens um acht wiederkam, anderthalb Stunden später, als Bruhn das Haus verließ. Sie schliefen im gleichen Bett. Sie teilten so ziemlich alles miteinander, und wenn es Differenzen gab, und es gab oft Differenzen, so wurden sie am Sonntag ausgetragen, wenn der Wächter der Lederfabrik seine freie Nacht hatte.
Kufalt, erst zwei Wochen im Städtchen, wusste alles über diese Differenzen. Dass der Lump, der andere, nie die eigene, sondern immer die fremde Seife benutzte, dass er nie sein Zeug weghängte und dass er jeden Sonntagabend betrunken mit einem Mädchen auf die Bude kam und verlangte, Bruhn solle auf dem Fußboden schlafen. »Nur ein kleines Weilchen, Emil. Gleich sind wir fertig …«
Ja, von diesen Differenzen erzählte Bruhn viel und ausgiebig. Aber davon zu hören war Kufalt immer noch lieber, als wenn der Krüger im gleichen Zimmer mit Bruhn gewohnt hätte.
Der Krüger war gottlob längst wieder verschüttgegangen, hatte seine Arbeitskollegen bemaust. Kleine, klägliche, widerliche, sinnlose Diebstähle von Tabak und Manschettenknöpfen. Der saß schon wieder drin, und Bruhn trauerte ihm nicht nach.
Wenn sich der Emil Bruhn in einem geändert hatte, so darin, dass die Jungen keine Rolle mehr in seinem Leben spielten. Jetzt war er hinter den Mädchen her, aber irgendwie klappte es immer nicht damit. Entweder war er zu schüchtern, oder er war zu frech. Oder sie witterten an ihm, dass etwas nicht ganz in Ordnung war, und es kam zu nichts. Und er lief herum und glotzte sich seine gutmütigen blauen Seehundsaugen nach ihnen aus und rannte auf die Tanzböden und schwitzte sich ab und zahlte von seinen paar Groschen zwei, drei Glas Bier für sie, und dann versetzten sie ihn. Verschluckt von der Nacht, oder sie zogen ganz offen mit anderen Kavalieren los, und Bruhn hatte das Nachsehen.
Vielleicht war es darum, dass er die Rückkehr Kufalts so freudig begrüßt hatte. So ein schnieker Junge, so fein in Schale, da musste es klappen. Die Mädels gingen immer zu zweien. Nun gut, Kufalt sollte die hübsche nehmen, es gingen doch immer eine hübsche und eine schieche miteinander, aber so schiech konnte keine sein, sie hatte, was Emil Bruhn wollte.
Er stand vor seinem Spiegel und mühte sich mit seinem weißen Kragen ab, mit jenem Ding, das sie da oben ein Quäder nennen, mühte sich ab und erzählte, was für feine Mädels heute zum Tanz kommen würden, in den Rendsburger Hof. Und hoffte so treu auf seinen Kufalt und hatte keine Ahnung, dass es dem mit den Mädels auch nicht anders ging.
»Wenn es nur nicht zu teuer wird«, sagte Kufalt.
»Teuer?« fragte Emil. »Ich sitze mit einem Bier den ganzen Abend. Aber natürlich, wenn man die Mädels erst besoffen machen muss …«
»Kommt gar nicht in Frage«, sagte Kufalt.
»Na also«, sagte Emil. »Ich hab doch immer gesagt, bei dir wird es was.«
»Und was hast du diese Woche verdient?« fragte Kufalt.
»Einundzwanzig Mark sechzig«, sagte Bruhn. »Die ziehen einem immer mehr ab, die Räuber, die wissen, sie können mit mir machen, was sie wollen. Jetzt haben sie schon dem Werkmeister erzählt, dass ich ein Raubmörder bin. Und der braucht nur die Fresse aufzutun und es den Kollegen zu sagen, und ich sitze draußen. Die arbeiten doch nicht mit so einem, wie ich bin, wenn sie’s erst wissen.«
Er steht da vor seinem Spiegel, das Quäder und der Schlips sitzen nun richtig. Er sieht Kufalt an.
Auch Kufalt sieht seinen Emil Bruhn an.
Siehe, da ist ein bisschen Wärme. Verlorenste Erinnerung an damals, als sie sich Kassiber schickten, durch den Kalfaktor, als sie im Duschraum unter dieselbe Brause krochen, als sie sich liebten.
Sie sind da, wieder sind sie beieinander. Sie sehen einander an. Das Leben ist weitergegangen, vieles hat sich verändert, und sie vor allem sind anders geworden. Aber da ist der Duft von damals und die Erinnerung an die nahe Berührung und an die so heiß begehrte, so selten geschehene Erfüllung.
Nein, sie reichen sich heute nicht einmal mehr die Hand. Es ist eben weitergegangen, das Leben. Es ist ein anderer Leib als damals der zwischen den Mauern, ein anderes Begehren als früher. Über die Straßen laufen die Mädchen, und die Röcke wehen um ihre Beine, und sie haben eine Brust. Ach, es ist so schön, es könnte so schön sein …
»Und mit deinem Sparkassenbuch ist auch nichts?«
»Nichts«, sagt Emil Bruhn. »Die haben mich schön angeschissen, die Lumpen. Aber wenn ich je wieder ins Kittchen komme …!«
»Wenn du fertig bist, gehen wir also«, antwortet Kufalt.
Nein, es ist vorbei. Andere Welt, andere Gefährten, du hältst es nicht, du rufst es nicht zurück, aber immer, dort in der Königstraße, hier in der Lerchenstraße, steht das einsame Bett, mit den Grübeleien, den Sorgen, den selbstischen Erfüllungen.
Kann es denn gar nicht anders werden?
An der einen Seite des verräucherten Tanzbodens, unter dessen Decke noch die Papierkränze und Lampions der Venezianischen Nacht vom letzten Karneval hingen – an der einen Seite standen die Mädchen, auf der anderen Seite standen die Burschen.
Die Mädchen trugen die kleinen Fähnchen der Fabrikarbeiterinnen, viele Burschen hatten die Mützen auf dem Kopf. Manche waren ohne Jacketts. Wenn sie tanzen wollten, winkten sie dem Mädel zu, und das Mädel kam herüber und trat vor seinen Herrn, der ruhig die Unterhaltung zu Ende führte, ehe er den Arm um seiner Tänzerin Rücken legte und mit ihr losschob.
An einem Tisch saßen Kufalt und Bruhn und tranken ihr Bier. Die anderen Burschen gingen zwischen den Tänzen zur Theke und tranken im Stehen einen Schnaps oder ein Bier. Oder sie tranken auch nichts – wozu hatte man dreißig Pfennig Eintritt bezahlt?! Die Musik lärmte sehr, und die Mädchen sangen alle Schlager mit. Und wenn der Tanz zu Ende war, ließen die Bengels ihre Mädels stehen, wo es gerade war, und gingen von ihnen fort, zu den anderen Bengels.
»Wollen wir nicht irgendwo anders hingehen, wo es netter ist?« fragte Kufalt.
»Aber wo es netter ist, kostet es viel Geld«, sagte Bruhn. »Und Weib ist Weib.«
Kufalt wollte etwas antworten, da sah er sie. Sie war ziemlich groß, mit einem fröhlichen, offenen Gesicht, einem lebendigen Mund und einer Stupsnase.
Vielleicht war ihr Kleid wirklich eine Kleinigkeit hübscher als das der anderen. Aber vielleicht kam es Kufalt auch nur so vor.
»Wer ist die?« fragte er Bruhn plötzlich eifrig und hatte alles Fortgehen vergessen.
Bruhn fand natürlich zuerst nicht die, die Willi meinte, aber dann sagte er: »Ach die, die mach dir bloß ab. Die hat nämlich schon ein Kind.«
»Wieso?« fragte Kufalt verständnislos.
»Na, weil keiner für das Kind zahlen will«, erklärte Bruhn.
»Aber dann gerade«, fing Kufalt an.
»Nein, nein«, sagte Bruhn, »die lässt sich mit keinem Mann mehr ein. Die hat die Neese voll. Die hat so viel Dresche gekriegt von ihrem Vater, dem Glasermeister Harder in der Lütjenstraße, die sieht keinen wieder an.«
»Wenn es so ist«, sagte Kufalt langsam.
Und dann saß er still da und sah sie an. Die Musik schien immer lauter zu werden, und manchmal tanzte sie auch und lachte. Und sie war die Hildegard von dem Glasermeister Harder in der Lütjenstraße. Dem sie heute Nacht wohl ausgebimst war. Und er war der Kufalt aus der Königstraße mit gar keinen Aussichten. Aber mit noch etwas Geld, einem heilen Anzug – und manchmal sah sie ihn auch an.
Wenn die Mädchen weggehen, so kann man hinterhergehen. Und man braucht sich nicht zu genieren, wenn man sich auch lächerlich gemacht hat, weil sie gar nicht richtig weggegangen sind, sondern nur auf die Toilette. Man kann ruhig davorstehen, sich auslachen lassen, die haben es doch alle im Saal kapiert: Der Neue in dem guten blauen Anzug, der mit dem kleinen Seehund aus der Holzwarenfabrik geht, der hat Feuer gefangen. Was schadet es schon? Einmal, einmal muss man tun dürfen, wozu das Herz einen treibt. Fort sind die anderen, und er sieht sie, und sie hat eine Art, sich ins Haar zu fassen, wenn sie tanzt, ihren Kopf gewissermaßen zu stützen beim Tanzen. Und sie hat ein Kind, sie hat schon mit anderen Männern geschlafen. Alles wird leichter sein bei ihr …
Und dann der Kopf, wenn sie ihn senkt über das Glas, und die Haare fallen alle über ihr Gesicht. O geh, flüstert es in ihm, o geh doch schon, dass ich mit dir sprechen kann …
Aber sie tanzt weiter und lacht weiter und schwatzt weiter, und sie sieht ihn gar nicht, denn nun weiß sie, dass er sie sieht.
O geh doch!
Geliebte, einsame Nächte, ihr habt dies möglich gemacht, dass es so sein kann, dass es so kommen kann, wie ein Glück, wie das eine ganz große Glück. Und sie kann nicht nein sagen, und sie wird nicht nein sagen. Und sie mögen lachen über ihn. Nächsten Sonnabend wird er doch mit ihr tanzen, und er wird Arbeit bekommen, und er wird sie heiraten, er wird einen Jungen haben.
Ach, Liese von vor Kurzem, wie anders ist diese Welt!
Das sind die kleinen, schlechtbeleuchteten, schmalen Straßen der Stadt, mit den niedrigen Häusern. Und man fühlt tief den Himmel, fühlt ihn tief und ganz nahe. Und der Wind jagt um die Ecken, und die beiden Mädels da vorn kuscheln sich enger aneinander. Und er geht hinter ihnen her. Einen Schritt hinter ihnen her und hat noch immer nicht ein Wort gesagt. Die Lütjenstraße kommt, und sie schließt die Haustür auf und schwatzt noch einmal mit der Freundin, und er steht dabei, dicht dabei und fleht: O komm doch, komm.
Und die Haustür fällt zu, und das andere Mädchen geht an ihm vorbei und lacht und sagt: »Stiesel!« und geht weiter. Und er steht allein. Und es ist sehr dunkel, und er fürchtet sich vor seinem Zimmer.
Es ist viel später, als er entdeckt, dass ein Hof hinter dem Haus ist und dass die Hoftür nicht verschlossen ist und dass man auf den Hof gehen kann und dass hinter einem Fenster im Erdgeschoss noch Licht brennt.
Und wie es kam, nun gut, einmal hat man Mut. Er kratzte mit dem Fingernagel an der Scheibe, leise, er klopfte lauter. Das Fenster ging auf. Und sie war am Fenster. Und fragte ganz sacht: »Ja?«
»O bitte, du!« sagte Kufalt.
Und das Fenster ging wieder zu, und es wurde dunkel. Und er stand da, in dem fremden Hof, und plötzlich sah er nach oben, in seiner Einsamkeit sah er nach oben. Und er sah die Sterne, und sie gingen so seltsam nahe und bedeutend hervor. Und eine Hand war in der seinen. Und es flüsterte: »Komm.«
Es ist wieder Licht in dem Zimmer, aber es ist nicht ihr Bett, das er sieht. Es ist das Bett des Kindes, und das Kind schläft. Es hat sich zusammengerollt, die Knie hoch hinaufgezogen bis unters Kinn, wie es wohl früher in dem Mutterleib gehockt hat. Und die Wangen sind rosig, und die Haare sind verwuselt über der Stirn …
Beide sehen sie herunter auf das Kind.
Und dann sehen sie einander an.
O liebes, liebstes Gesicht du!
Und er nimmt seine beiden Hände und legt die Fingerspitzen gegen ihre Wangen und führt ihren Kopf seinem Kopf entgegen. Und er meint, ihr Blut raunen zu hören. Und sie sehen sich nahe an, und ihre Lider wehen über die Augen, die braun sind. Und das Gesicht kommt näher und wird ganz groß.
Eben waren noch die Sterne da und die Nacht und das einsame Stehen auf dem Hof. Und nun kann solch ein Mädchengesicht die ganze Welt sein. Mit Bergen und Tälern und den ertrunkenen Seen der Augen …
O du liebes, liebstes Gesicht!
Und ihr Mund ist da. Er ist fest geschlossen. Er gibt nicht nach unter dem Druck seiner Lippen.
Plötzlich entgleitet ihm erst ihre Schulter, dann ihr Gesicht. Das Kind schläft noch immer. Sie stehen da: fremde Welt.
»Geh«, sagt sie bittend und führt ihn an der Hand über den Hof auf die Straße.
Und er geht nach Hause.
So fing es an.
Es gab viele Dinge, über die man mit Emil Bruhn nicht sprechen konnte. Im Kittchen schien Gemeinsamkeit geherrscht zu haben – nun, nein, viele Dinge, über die man schweigen musste.
»Wo bist du denn gestern Nacht abgeblieben?«
»Ich war so müde, und es wurde so langweilig …«
»Wohl, weil die Hildegard Harder wegging?«
»Ach die!«
»Und lässt sich von einer wie der Wrunka Kowalska aus der Lederwarenfabrik ›Stiesel‹ sagen?«
»Quatsch«, sagt Kufalt nur. »Alles Quatsch.«
Und als der Bruhn weiter schwieg: »Mit den Pfaffen war es auch nichts. Sie können alle nichts wollen. Da ist das Wohlfahrtsamt, sagen sie. Als wenn ich das nicht wüsste!«
»Nicht einmal bei ihr reingekommen bist du!«
»Ich habe mir was überlegt deinetwegen, Emil«, sagt Kufalt und tut eifrig. »Mit deiner Holzwarenfabrik ist es auf die Dauer nichts. Und ein perfekter Tischler bist du doch …«
»Das bin ich«, muss Emil zugeben. »Wenn man elf Jahre im Kittchen getischlert hat …«
»Wenn du nun deine Gesellenprüfung nachmachtest und gingest zu einem richtigen Meister, nach Kiel oder Hamburg, wo niemand was von dir weiß?«
Bruhn ist wieder mürrisch. »Und das Geld, mein Junge, das Geld für die Prüfung und all die Zeit, wo ich nichts verdiene? Nein, du hast dich gestern schön blamiert vor der ganzen Stadt. Mit dir geh ich so leicht nicht wieder aus!«
Kann man erzählen? Ja, man könnte erzählen, man ist doch schließlich in ihrem Zimmer gewesen, nachts, nach zwölf … Aber das Kinderbett und das nahe liebe Gesicht …
»Wenn ich nun einmal für dich zum Direktor ginge und für dich redete?« fragt Kufalt. »Es ist doch ein Fonds da für die Entlassenen. Und bei dir hat es doch Sinn, du kriegst doch vernünftige Arbeit dadurch.«
»Du drückst es nicht durch«, sagt Emil versöhnter. »Die ganze Beamtenkonferenz wird dagegen sein.«
»Also gehe ich hin«, sagt Kufalt. »Ich hab immer beim Alten ’ne Nummer gehabt. Du wirst schon sehen …!«
Die Nacht ist vergessen und der Freund, mit dem man paradieren wollte und der sich Stiesel nennen ließ, ohne so ’nem Polenweib eine zu kleben, wie sich das gehörte …
»Wenn ich Tischlergesell würde«, sagt Emil träumerisch. »Du hast ja gar keine Ahnung, wie mich diese Arbeit anstinkt. Über acht Jahre bau ich nun schon Fallennester. Jeden Hammerschlag weiß ich. Aber wenn man wieder mal einen Schrank bauen könnte oder einen richtigen Tisch, die Beine anständig verzargt …«
»Werd ich dem Direktor sagen«, erklärt Kufalt. »Aber dauern wird es wohl noch ’ne Weile, bis es bewilligt ist.«
»Ich hab Zeit. Ich kann warten«, sagt Emil.
»Na schön! Also morgen«, sagt Kufalt. »Ich muss sehen, dass ich es mir so einrichte. Ich hab morgen viel zu tun …«
»Was hast du denn zu tun?« fragt Emil. »Du hast doch gar nichts zu tun.«
»Gerade hab ich viel zu tun. Laufen muss ich den ganzen Tag.« Er macht eine Pause und hustet. Er sieht die Straße entlang, es ist Herbstwetter, kalt, windig, nässlich, gegen sechs – immerhin ist es nicht ausgeschlossen, dass die Hildegard Harder einmal auf die Straße kommt.
Nein, sie kommt nicht. Er sagt so nebenhin: »Ich werde wohl von jetzt an meine zehn, zwölf Mark den Tag verdienen.«
»Anschiss«, sagt Bruhn bloß.
»Wieso Anschiss?! Gar nicht Anschiss«, sagt Kufalt empört. »Ich bin heute Mittag bei Freese gewesen …«
»Kenn ich nicht«, sagt Bruhn. »Einen Freese kenn ich nicht. Was sollst du ihm denn im Voraus für die piekfeine Stellung geben?«
»Gar nichts«, bricht Kufalt aus. »Nicht ’nen Pfennig! Erst war so ein Blasser bei mir, Dietrich hieß er. Der wollte ’ne Kaution haben. Na, den habe ich schön reingelegt, ein Viertel von all meinen Einnahmen hat er auch haben wollen. Nachher hat er mir zwanzig Mark gepumpt!«
Kufalt bricht in ein Gelächter aus, und auch Emil lacht mit, trotzdem ihm all das nicht ganz klar vorkommt. Dann muss Kufalt von Dietrich erzählen: »Eine Molle und einen Korn an der Ecke, so dumm, dass er mir mein letztes Geld abnimmt, so doof …«
Und nun lacht auch Emil. »Dem ist das recht, dem Bruder, dem! Und dann bist du hinter seinem Rücken zu dem Herrn Freese gegangen?«
»Bin ich«, sagt Kufalt und ist merkwürdig kurz. »Und ich darf Abonnenten und Anzeigen werben, und von allem kriege ich Geld.«
»O Mensch, o Manning, Manning, Mensch!« jubelt Bruhn. »Und wenn du nun noch zum Direktor gehst, und der Laden klappt auch – dann verdienen wir beide so viel Geld, dass wir in die richtig feinen Lokale zu den richtigen Weibern gehen können, und alle Wrunkas und Hildegards können uns …«
Es war in diesem Augenblick, dass eine Stimme neben ihnen sagte: »Darf ich Sie mal einen Augenblick sprechen?«
Verlegenheit, Stille, Verlegenheit.
Dann sagte zuerst Kufalt: »Vielleicht komme ich heute Abend noch mal bei dir vor, Emil!«
»Schön«, sagte Emil. »Und denk an den Direktor!«
»Wird gemacht!« sagte Kufalt. »Geht in Ordnung, alter Junge!« Und seine Stimme klang unnatürlich frisch. Dann aber gingen die beiden, Hildegard Harder und Willi Kufalt, gegen den dunklen Stadtpark, aus der Stadt hinaus.
Kufalt war nicht umsonst so schweigsam über die Unterredung mit Herrn Chefredakteur Freese gewesen. Der »Stadt- und Landbote« mochte ein kleineres Blatt sein als »Der Vaterlandsfreund« – aber ein ebenso großer Mann wie der Herr Scialoja war der Herr Freese sicherlich.
Freilich nichts von Schwierigkeiten, durchgelassen zu werden, nichts von Warten … »Gehen Sie da durch«, sagte ein langer, knochiger, pferdegesichtiger Mann und zeigte auf eine Tür. »Aber gute Stimmung hat er heute nicht.«
Also ging Kufalt durch.
Da sah ein dicker, schwerer, schmuddliger Mann hinter seinem Schreibtisch, einen weißgrauen Walrossbart hatte er, und einen Kneifer, dessen Gläser herabhingen.
Auf der einen Seite vom Schreibtisch sitzt Herr Freese, auf der anderen steht Kufalt. Zwischen beiden auf dem Schreibtisch ist ein Gewusel von Papieren, aber auch Bierflaschen, eine Kognakbuddel, Gläser. Herr Freese sieht grau aus, nur seine Augen sind gerötet und böse.
Er blinzelt nach Kufalt, er macht den Mund auf, als wollte er reden, dann macht er den Mund wieder zu.
»Guten Morgen«, sagt Kufalt, »ich komme auf Veranlassung von Herrn Dietrich.«
Freese krächzt einmal, krächzt zweimal, dann hat er die Kehle so frei, dass man deutlich verstehen kann: »Raus!«
Kufalt überlegt einen Augenblick, er ist ja nicht mehr der Kufalt von damals, als er aus dem Kittchen kam mit der Hoffnung, alles würde schon glattgehen; er weiß, man muss ein bisschen zähe sein, schlucken, eigentlich genau wie im Kittchen – er überlegt also und sagt dann: »Oder eigentlich komme ich gerade gegen den Rat von Herrn Dietrich!«
Er steht und wartet ab, wie das wirkt.
Herr Freese sieht ihn mit seinen kleinen geröteten Augen böse an. Er krächzt wieder, er macht die Kehle frei – dann sieht er nach der Kognakflasche und schüttelt trübe den Kopf, er krächzt noch einmal und sagt langsam: »Junger Mann, Sie sind schlau. Sie sind nicht schlau genug für einen alten Mann.« Plötzlich unterbricht er sich: »Stört der Ofen Sie nicht!«
Kufalt ist verwirrt, er sieht sich um nach dem großen, weißen Kachelofen, der Hitze strahlt, er kann nicht raten, was der andere hören möchte (denn am liebsten sagte er das), so sagt er denn: »Nein, stört mich nicht.«
»Aber mich«, sagt Herr Freese mühsam. »Zu kalt, viel zu kalt. Werfen Sie drei Briketts auf, nein, halt, fünf!«
Eine Kiste steht da mit Briketts, aber nichts, womit die schwarzen Dinger anzufassen – Kufalt sieht sich um, er hat eine Erleuchtung, er nimmt vom Schreibtisch einen Fetzen Papier, ein Manuskript also wohl, damit fasst er die Briketts an, feuert sie in die Glut, hinterher das Papier … Er dreht sich um nach Freese.
»Fuchsschlau«, murmelt der, »fuchsschlau. Doch nicht schlau genug.«
Er sitzt zusammengesunken da und sieht trübe aus, ein alter Mann. Durch das Fenster kommt etwas wie ein Herbstsonnenstrahl über das graue verwüstete Gesicht, die gerötete Stirn, das schändliche Gewusel aus weißen und grauen Haaren.
Schläft er ein? fragt sich Kufalt.
Der andere denkt nicht daran. »Aus dem Kittchen kommen Sie«, sagt er. »Die Gesichtsfarbe kenne ich. Pflegt sich noch die Hände, das Schwein, hofft noch auf anständige Arbeit.«
Er hebt trübe seine eigene Pranke und betrachtet sie, die seit Wochen nicht gewaschen scheint, so grau sieht sie aus.
Freese schüttelt den Kopf, er betrachtet wieder Kufalt, er sagt: »Es hat alles keinen Sinn, Jüngling, alles keinen Sinn. Durch den Stadtpark fließt die Trehne, bei den Lederwerken ist ein guter Hafen, überall ist das Wasser kühl und nass – bei Ihnen hat es noch einen Sinn.«
»Und bei Ihnen?« fragt Kufalt atemlos das Gespenst aus Alkohol und Trübsinn.
»Zu alt«, sagt Freese, »viel zu alt. Wenn man nichts mehr zu erwarten hat, lebt man immer weiter … Sie haben noch was zu erwarten, also Schluss!«
Die beiden sind still.
»Kalt«, sagt der alte Mann und schaudert mit einem Blick auf den Ofen. »Lassen Sie nur, es hilft doch nichts mehr. – Wie kommen Sie zu Dietrich?«
»Er ist bei mir gewesen auf der Wohnung.«
»Und was hat er Ihnen geboten?«
»Alle mögliche Arbeit, ein Viertel der Erträge an ihn.«
»Hat er Sie angepumpt?« fragt Freese.
»Nein«, sagt Kufalt stolz. »Ich hab ihn angepumpt.«
»Wie viel?«
»Zwanzig Emm.«
»Kraft!« schreit der Mann laut. »Kraft!!!«
Die Tür zum Vorderzimmer tut sich auf, und das Pferdegesicht steckt seinen Kopf herein.
»Na?« fragt es.
»Der junge Mann fängt morgen früh bei uns an, Annoncen- und Abonnentenwerben. Der gewöhnliche Satz. Wenn er nicht sechs am Tage schafft, fliegt er. Vorläufig fliegt erst einmal der Dietrich.«
»Aaaber …«, fängt der Kraft an.
»Fliegt der Dietrich, lässt sich anpumpen!« sagt Herr Freese mit Nachdruck. Und dann: »Raus!«
Und Herr Kraft geht wirklich raus.
»Also morgen früh um neun«, sagt Herr Freese. »Aber ich sage Ihnen gleich, es hat keinen Zweck. Sie schaffen nie sechse, und ich schmeiß Sie raus, und dann kommt doch das Wasser …«
Er sitzt da, sicher sieht er es, er sieht es. »Das Wasser«, sagt er. »Grau, kalt, nass. Wasser …«, sagt er. »Nass«, sagt er und schüttelt sich.
Diesmal schenkt er sich einen Kognak ein.
Er schaudert auch beim Trinken.
Dann sagt er klarer: »Und wie ist es mit den zwanzig Mark von Dietrich? Der hat noch Schulden hier. Zahlen Sie die gleich ab.«
»Aaaber …«, fängt Kufalt an.
»Na also«, sagt der alte Mann. »Sie haben noch Angst, wovon Sie die nächsten Tage leben werden – und Sie wollen Abonnenten werben?!!! Guten Morgen.«
»Guten Morgen!« sagt Kufalt und ist schon beinahe bei der Tür. Dann hört er es noch einmal: »Das Wasser«, und sieht das graue aufgeschwemmte Gesicht, das grauweiße Haar, diesen Nickelmann der Schnapsflasche …
»Das Wasser …«, sagt der.