Czytaj książkę: «Schwein gehabt»

Czcionka:

Hans Christ

Schwein gehabt

Neue heitere Erlebnisse

aus der Praxis

eines Landtierarztes


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Titelbild: iStock.com/artisteer

Illustrationen: Hans Christ

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ISBN 978-3-85365-306-7

eISBN 978-3-85365-319-7

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© Copyright V. F. SAMMLER, Graz 2020

Layout: Ecotext-Verlag Mag. G. Schneeweiß-Arnoldstein, 1010 Wien

Inhalt

Als Kurpfuscher unterwegs

Der Stier mit Sodbrennen

Liebe geht unter die Haut

Auch Du, mein Sohn Brutus

Tierarzt al dente

Sauer macht nicht lustig

Katz und Maus

Einfach zum Vergessen

Vogelprobleme

Max

Amor ist ein Wettergott

Geiz ist geil

Beweis mit Biss

Pechsträhnen

Immer was Neues

Die letzte Hilfe ist manchmal die erste

Nicht mehr ganz so Flex-ibel

Das böse Anführungszeichen!

Money makes the World go round

Der springende Punkt

Ostern

Höhen und Tiefen

„Schwein“ gehabt!

Als Kurpfuscher unterwegs

Als Kurpfuscher, früher hatte man diese Leute auch Quacksalber genannt, werden nach dem Strafgesetzbuch jene Personen bezeichnet, die ohne entsprechende Ausbildung und Zulassung Patienten behandeln. Eines der bekanntesten Beispiele dafür ist der Höller Hans, ein Bauer aus dem Steiermärkischen, der in der Volkslegende einen geradezu legendären Ruf genoss. Er stellte seine Diagnosen aus der Urinbeschau der jeweiligen Kranken und traf nicht selten das Richtige. Noch heute verkehrt als Touristenattraktion der so genannte „Flascherlzug“ mit seinen bunten Waggons zwischen den Ortschaften Stainz und Preding. Der Name des Zuges rührt von der ursprünglichen Tatsache her, dass die Hilfesuchenden damit von weit und breit mit ihren in Fläschchen abgefüllten Harnproben angereist kamen.

Es existiert sogar ein populäres Lied darüber:

Auf ’n Bergl drob’n,

gar net weit von Stanz,

wohnt a Wunderdoktor,

der hoasst Höller Hans.

Waun’s Euch int’ressiert,

wia der die Leut kuriert,

schauts Euch den Hansl an

was der all’s kann.

Zeitig in da Fruah

kumman von weit und breit

mit’n Flascherlzug

die alt und jungen Leut,

trag’n in Säck’ und Taschen

eahn’re Brunzlflasch’n

auf den Berg hinauf

in vollem Lauf.

usw.

Seine Beliebtheit in der Bevölkerung verhinderte jedoch nicht, dass er sich aufgrund von Anzeigen, hauptsächlich aus Kreisen der Ärzteschaft, mehrere Male wegen Kurpfuscherei und Scharlatanerie verantworten musste. Natürlich hatte der gute Höller Hans manchmal mit seiner Diagnose danebengehauen. Aber das soll ja in der Schulmedizin bekanntlich auch schon vorgekommen sein.


Mir ist bekannt, dass etliche Tierärzte meiner Vorgängergeneration, streng nach dem Buchstaben des Gesetzes, ebenfalls Kurpfuscherei betrieben haben. Waren doch früher viele Höfe nur mühsam zu Fuß erreichbar, sodass die Bauern am Sonntagmorgen entweder vor oder nach der Kirche – meistens Ersteres, weil nach der Messe das Wirtshaus angesagt war –, mit einem Rucksack bewaffnet, beim Tierarzt vorbeischauten, um Medikamente mitzunehmen. Meistens waren es nur harmlose Sachen, wie Scharfeinreibungen, zum Beispiel Pferdefluid, oder Hustensaft oder ein Durchfallpulver aus gemahlener Eichenrinde für Kälber. Und ich bin mir sicher, dass es vielen Kollegen klar war, dass das Pferdefluid nicht beim Pferd gelandet ist, sondern auf den schmerzenden Knien des Bauern und der Hustensaft im Hals der Bäuerin. Geholfen haben diese Mittel zwar häufig, aber es ist lustig, dass diese Tierärzte sich unheimlich darüber alteriert hatten, wenn ein heilkundiger Laie, wie es damals Senner oder Kräuterweiblein waren, gewagt hatte, eine Kuh aus dem Schatzkästlein der Natur selbst zu behandeln, ohne den teuren Veterinär zu rufen, und noch dazu Erfolge verzeichnet hatte.

Solche „Bauerndoktor“ gibt es heutzutage kaum mehr, obwohl der Trend dazu geht, dass die in Kursen vermittelte, vielgeschmähte Homöopathie in den Ställen vermehrt Einzug hält.

Und wenn ich ehrlich bin, muss ich gestehen, auch schon hie und da als Kurpfuscher aufgetreten zu sein. Eine Mutter hatte einmal am Abschluss einer Visite ihrer siebzehnjährigen Tochter resolut den Kittel in die Höhe gehoben, sodass ich neben einer nicht mehr ganz taufrischen Unterhose ein entzückendes Steißbein zu Gesicht bekam.

„Schau’n Sie sich das an, Herr Doktor! Drei Mal waren wir mit der Anni schon beim Arzt und der Fleck wird immer größer!“

Eigentlich hatte ich erwartet, dass Anni diese spontane Entblößung peinlich sein würde, aber offensichtlich war ein Tierarzt für sie so etwas Ähnliches wie ein gestiefelter Gynäkologe, weil sie mir ohne Scheu das Hinterteil entgegenreckte. Oder der Juckreiz war wirklich sehr stark!

Deshalb traute ich mich, über den Brillenrand hinweg die betroffene Stelle aus der Nähe zu inspizieren. Kein Zweifel, es handelte sich hier um eine ausgeprägte Form von Trichophytie oder, wie man landläufig sagt, Kälbergrind, eine hartnäckige Pilzerkrankung.

Erstaunlicherweise steht die moderne Humanmedizin dieser Infektion meistens hilflos gegenüber, weil sich herkömmliche Pilzmittel dagegen als wirkungslos erweisen.

Zum Glück besaß ich für solche Fälle eine Salbe nach einem uralten Rezept, welche mir eine befreundete Apothekerin je nach Bedarf zusammenmischte.

Ich drückte der Mama eine Dose in die Hand, murmelte: „Einmal täglich auftragen, mehrere Tage lang“, und ließ über Annis Kehrseite wieder den Vorhang fallen.

Nach ungefähr einer Woche hatte ich wieder auf dem Hof zu tun und die Bäuerin präsentierte mir voller Freude bei der Gelegenheit erneut die Hinteransicht ihrer Tochter.

„Es beißt auch nicht mehr“, bestätigte Anni ebenfalls den Fortschritt.

Man sah es deutlich: Der Fleck hatte deutlich seine Rötung und Schuppigkeit eingebüßt. Nur die Unterhose, so mutmaßte ich, war noch immer dieselbe!

Ein anderes Mal pflanzte sich eine junge Bäuerin neben meinem Auto auf und gestikulierte hilfeheischend wild um sich. An ihrem fast tonlosen Krächzen erkannte ich die virale Kehlkopfentzündung und überließ ihr homöopathische Tropfen. Am nächsten Morgen, so gegen halb acht, rief sie mit fast normaler Stimme an, bedankte sich und fragte, ob sie nochmals dasselbe haben könnte, jetzt hat es nämlich ihren Mann erwischt.

Auch dem Lechnerbauern konnte geholfen werden. Der stand eines Tages in der Ordination mit zwei Augen, die mit ihren zugeschwollenen Lidern an eine aufgeschnittene Handsemmel erinnerten. Dazu wies er einen starken Tränenfluss auf.

„Waren Sie schon beim Arzt damit?“, fragte ich.

„Ja“, sagte er, ohne mit der Wimper zu zucken. Das wäre hier aber auch nicht gut möglich gewesen.

Trotzdem glaubte ich ihm kein Wort.

Da aber der Lechner einer von den Hartgesottenen war, der höchstens weinte, wenn ihn der Viehhändler angeschmiert hatte, war ich mir sicher, dass er an einer starken Bindehautentzündung litt. Wahrscheinlich durch den Heustaub verursacht, weil das Futter, das der Lechner seinen Rindern vorsetzte, immer knochentrocken war.

„Hat das eine Ihrer Kühe auch?“, fragte ich pro forma.

„Ja“, antwortete er.

Ich glaubte ihm noch immer kein Wort.

„Na schön. Für Ihre Kühe kann ich Ihnen etwas herrichten!“

Ich komponierte, wie es einst auch Mozart mit seinen Noten getan hatte, wieder homöopathische Tropfen in eine Pipettenflasche und gab sie ihm:

„Nur für die Kühe“, schärfte ich ihm ein.

„Geht klar, Herr Doktor!“, grinste er.

Ich glaubte ihm kein Wort.

Einige Tage später stand eine Flasche mit selbstgebranntem Schnaps auf dem Tischchen im Warteraum. Daneben lag ein Zettel, auf dem mit ungelenker Handschrift stand: „Besten Dank, Straberger.“ Das war der Lechner!

Als ich einen Schluck kostete, kamen mir selbst die Tränen.

Aber meine größte Leistung auf dem Gebiet der Kurpfuscherei war die Geschichte mit dem Filzer Kilian. Wenn es ihn nicht gäbe, erfinden könnte man ihn nicht.

Er hatte bereits die Siebzig weit überschritten, war aber immer noch zwei Meter groß und von ausladender Statur.

In seiner Aktivzeit beim Bauhof hatte man gemunkelt, dass er in der Adventszeit die Weihnachtsbeleuchtung über den Straßen ohne Leiter hatte anbringen können.

Jetzt war er längst schon in Pension und machte, weil er nie einen Führerschein besessen hatte, das Gasteinertal auf dem Sitz seines uralten Steyr-Traktors aus den Fünfzigerjahren unsicher. Unsicher ist vielleicht ein bisschen übertrieben, aber wenn Du hinter ihm mit einem heißen Zwanziger kilometerlang herzuckelst und wegen der Gegenverkehrskolonnen nicht überholen kannst, schmeißt Du schon ein wenig die Nerven weg.

Diesen Zustand kannte der Kilian von seiner Natur aus nicht. In einer stoischen Gelassenheit steuerte er sein historisches Gefährt über die Bundesstraße und ignorierte sämtliches Gehupe und Blinksignale mit dem Fernlicht hinter ihm, frei nach dem Motto „Die Straße ist für alle da, die Vorfahrt aber nicht“.

Beim Traxlerbauern war ich ihm zum ersten Mal persönlich begegnet. Ich hatte dort einer Kuh mit Gebärmutterentzündung den Uterus gespült und gerade, als ich ihr als Zusatz eine antibiotische Injektion verpassen wollte, verfinsterte sich der Stalleingang. Der Kilian musste sich beim Eintritt halb bücken, dann baute er sich neben uns auf und beobachtete mich wortlos bei meinem Tun.

Der Traxler nahm seine plötzliche Anwesenheit ebenso kommentarlos zur Kenntnis. Die einzige, die eine unwillige Lautäußerung von sich gab, war die Kuh, als sie die Nadel im Oberarm spürte.

Das schien den Kilian zu animieren.

„Servus, Herr Doktor! Hast Du nicht auch eine Spritze für mich?“, war seine Begrüßung. „Ich bring’ die Schulter nicht weiter als so.“

Zum Beweis hob er den rechten Arm in die Waagrechte und begann zu stöhnen: „Zwei Mal war ich schon im Spital, aber die wissen dort auch nichts. Nach der Arthroskopie ist es sogar noch ärger geworden mit den Schmerzen.“

Der Traxler feixte: „Die sind halt nicht auf Elefanten wie Dich spezialisiert. Da musst Du freilich den Tierarzt fragen.“

„Genau“, meinte der Kilian, „weil was für eine Kuh gut ist, kann auch den Leuten nicht schaden.“

Prinzipiell gab ich ihm Recht. Zwischen Mensch und Rindvieh besteht gar kein so großer Unterschied, wie ihn sich manche wünschen mögen. Trotzdem erklärte ich kategorisch: „Also eine Spritze kriegen Sie von mir nicht!“

„Na geh! Ihr Viechbader habt doch so manches Wundermittel.“

Die Bezeichnung „Viechbader“ war jetzt nicht gerade der Schlüssel zu meinem Herzen.

Um ihn loszuwerden, förderte ich aus den Tiefen meiner Medikamentenkiste eine bewährte Lahmheiten- & Wundsalbe hervor. „Probieren Sie das! Zwei Mal täglich einschmieren!“

Er drehte die Dose mehrmals in seinen Pranken: „Was bin ich schuldig?“

„Die schenk’ ich Ihnen“, erklärte ich, „in diesem Fall Geld dafür zu kassieren, würde nämlich unter den Kurpfuscherparagraphen fallen.“ Außerdem erwartete ich mir, ehrlich gestanden, keine „Wunder“-Wirkung für seine Schulterprobleme.

Aber ich sollte mich noch wundern!

Einige Wochen danach rief die Bergerhub-Bäuerin an und wollte zweiundzwanzig Dosen Lahmheiten- & Wundsalbe.

Ich war wie vom Donner gerührt: „Ja wollen Sie damit ein Vollbad nehmen?“

„Nein, aber der Kilian hat über die Salbe so gefoppt (regionaler Ausdruck für loben), dass ich gleich für die ganze Nachbarschaft und meine Verwandten eine besorgen soll.“

Mir war gar nicht bewusst, dass es im Gasteinertal von Schulterproblemen nur so wimmelte.

„So viele habe ich nicht auf Lager“, gestand ich, „diese Menge müsste ich erst bestellen.“

„Na, dann bestellen Sie am besten gleich dreißig!“

Langsam beschlich mich das Gefühl, die Bergerhuberin beabsichtigte, die Salbe ihren Hausgästen aufs Frühstücksbrot zu schmieren, um deren Aufenthalt in einen Wellness-Urlaub zu verwandeln.

Als ich das nächste Mal an der Tankstelle stand, passte mich der Kilian, dem ich diesen Großauftrag verdankte, freudestrahlend ab. „Na, was sagen Sie, was ich schon zusammenbring?“, röhrte er von seinem Traktor herunter, dabei hob er scheinbar mühelos den Arm über den Kopf. „Ich hab’ ja gewusst, ihr Viechbader habt’s Tricks auf Lager, dass sich die Ärzte davon eine Scheibe herunterschneiden können!“

„Freut mich, freut mich“, murmelte ich. Noch mehr hätte mich aber gefreut, wenn er mich nicht dauernd Viechbader nennen würde.

Seither riss er, wenn wir uns auf der Straße begegneten, schon von Weitem triumphierend den Arm zum Gruß in die Höhe. Weil er dabei auch die flache Hand ausstreckte, hoffte ich für ihn, dass ihn niemand wegen Wiederbetätigung anzeigte.

Die nächste Episode lieferte er ein Jahr darauf ab. Eines schönen Tages läutete es so gegen halb neun am Morgen an unserer Haustüre.

Ich war natürlich schon längst unterwegs, nur Karin, die gerade ihre sieben Zwetschken für die Schule zusammenzupacken im Begriff war, war noch daheim.

Sie drückte auf die Gegensprechanlage, konnte aber auf dem Bildschirm außer ein paar unidentifizierbaren Hemdknöpfen nichts erkennen. Kein Wunder, das Gesicht vom Kilian befand sich oberhalb des Kamerawinkels.

„Ja bitte?“

„Ist der Doktor da?“, kam es aus dem Lautsprecher.

„Leider nein. Mein Mann ist um diese Uhrzeit auf Visite.“

„Ich brauch ihn aber!“

„Da müssen Sie vorher anrufen!“

„Ich hab kein Handy!“

„Na, dann von Zuhause!“

„Ich bin aber nicht zuhause. Ich bin jetzt da!“

Der Dialog nahm einen etwas mühsamen Charakter an. Karin versuchte es anders: „Worum geht es denn? Kann ich ihm was ausrichten?“

„Sagen Sie ihm, ich hab’ ganz blaue Füße und kalte Zehen!“

Karin schluckte: „Sie wissen aber schon, dass Sie beim Tierarzt sind?“

„Natürlich“, tönte es ungeduldig aus der Gegensprechanlage, „aber er hat mir letztes Jahr mit meiner Schulter auch so geholfen!“

„Ja also, da muss ich ihn erst einmal fragen!“

„Fragen Sie ihn, fragen Sie ihn! Ich melde mich wieder!“ Damit verschwanden die Hemdknöpfe aus Karins Blick.

Obwohl sie es schon eilig hatte, rief sie mich an. „Du, da war so ein komischer Mann, der wegen seiner blauen Füße unbedingt zu Dir wollte …“

Ich dachte kurz nach: „So ein großer Loder?“ (Regionaler Begriff für einen kräftigen hochgewachsenen Kerl.)

„Offensichtlich. Weil außer seiner Hemdbrust habe ich nichts von ihm erkennen können.“

Ich grinste: „Der Kilian! Das ist typisch für ihn!“

„Was machst Du jetzt mit ihm?“

„Keine Ahnung! Aber wie ich ihn kenne, gibt er nicht so schnell auf.“

Da ich die Sache höchst lustig fand, wählte ich die Nummer seines ehemaligen Hausarztes, der ein guter Bekannter war, weil seine Frau und Karin dieselbe Klasse in der Linzer Körnerschule besucht hatten, und der ganz in unserer Nähe wohnte. So klein ist die Welt.

„Du“, begann ich, „jetzt muss ich Dir was erzählen. Ihr Ärzte habt ja ein schönes Image, wenn Eure Patienten lieber zum Tierarzt pilgern.“ Ich schilderte ihm genüsslich den Vorfall.

Er lachte etwas gequält: „Die Geschichte kenn’ ich schon!“

„Wieso kannst Du sie kennen? Das war vor zehn Minuten?“

„Weil der Kilian sich auf seinen Traktor geschwungen hat, zu mir heraufgefahren ist und sich beschwert hat, dass Du nicht zuhause warst.“

„So ein Depp! Was glaubst Du denn, was er hat?“

„Ein postthrombotisches Syndrom! Hat er schon länger. Scheint aber wieder ärger geworden sein.“

„Und? Hast Du ihm was gegeben?“

„Mein Lieber! Ich bin seit vier Jahren in Pension. Außer einem doppelten Marillenbrand habe ich ihm nichts anbieten können!“

Am nächsten Tag in der Früh verstaute ich noch schnell ein paar Medikamente im Wagen. Dabei hatte ich schon das Garagentor geöffnet, was sich als Fehler entpuppte, weil das sich nähernde Tuckern eines Traktors signalisierte, dass der Kilian seine Drohung, sich wieder zu melden, in die Tat umsetzte. Gottergeben wartete ich, bis sein Gefährt um die Ecke bog.

„Ah, Herr Dokter! Jetzt erwisch’ ich Sie. Schau’n Sie sich meine Füße an!“

Er stellte sich vor mich hin, zog die Schuhe samt den Socken aus und lüftete die Hosenbeine. Barfuß stand er auf dem nicht ganz sauberen Garagenboden.

Da schaute ich wirklich. Bis zur halben Wade hatte sein Gehwerkzeug eine blauviolette Verfärbung.

„Und eiskalte Zehen!“, ergänzte er, „wollen Sie einmal fühlen?“

„Ich glaube es Ihnen auch so“, wehrte ich ab. „Das sind offenbar massive Durchblutungsstörungen. Damit sollten Sie schleunigst zum Arzt gehen!“

„Sie sind ja einer!“

„Ja, aber ein Viechbader, wie Sie sich auszudrücken pflegen!“

Der Kilian feixte: „Na und? Manche behaupten ja sowieso, ich bin ein Urviech!“

Das war nicht ganz von der Hand zu weisen. Und weil ich wusste, dass er zuerst eine Behandlung von mir erwartete, drückte ich ihm eine Salbe aus Rosskastanienextrakt in die Pfoten. Rosskastanie ist bekanntlich gut gegen alle Arten venöser Stauungen. „Und heiße Heublumenbäder schlage ich vor!“

„Na also!“ Der Kilian strahlte: „Was kostet die Paste?“

„Nichts!“ Angesichts der dreißig Lahmheiten- & Wundsalben glaubte ich, mir das Defizit leisten zu können.

Während der Kilian seine Adjustierung wieder in Ordnung brachte, sah ich zu, dass ich weiterkam.

Nach ein paar Wochen läutete es erneut an der Haustüre. Als Karin die Gegensprechanlage einschaltete, waren wiederum nur die bekannten Hemdknöpfe zu sehen.

„Ich will mich nur beim Doktor bedanken! Die Füße sind nicht mehr so blau und die Zehen so kalt! Ich habe ihm einen Käse in den Warteraum gelegt.“

„Fein“, sagte Karin. Hoffentlich stammt der nicht von seinen Füßen, hoffte sie insgeheim.

Als ich das nächste Mal dem Kilian auf dem Traktor begegnete, riss er wie gewohnt die Hand zum Gruß empor. Zum Glück ließ er zumindest die Beine unten. Vielleicht aber auch nur, weil hinter mir die Polizei fuhr.

Der Stier mit Sodbrennen

Ich hatte schon die Autoschlüssel in der Hand, als das Telefon läutete. Natürlich genau zu Mittag.

„Lass nur, ich gehe noch schnell ran!“, rief ich Richtung Küche, wo Karin sich gerade im Schweiße ihres Angesichts abmühte, ein leicht exotisches Gericht nach einem neuen Rezept zuzubereiten, das offenbar ziemlich aus der Pfanne prasselte und spritzte. Sie war ohnehin schon leicht genervt, weil vor fünf Minuten der Hintersteinerbauer angerufen hatte, er hätte einen Notfall, der keinen Aufschub duldete. Dem Stier ginge es gar nicht gut, präzisierte er.

„Keine Ahnung, was aus dem Essen wird, wenn Du wieder zurückkommst“, hatte sie bekrittelt, „weil ich um eins in der Schule sein muss.“

Da ich es war, der ihr dieses neue Rezept vorgeschlagen hatte, empfand ich leichte Gewissensbisse und fühlte mich um des lieben Friedens willen bemüßigt, meine ebenso liebe Frau, die sonst die Telefonate, soferne sie konnte, für mich in Empfang nahm, im Moment zu entlasten.

„Ja?“, fragte ich gedehnt in das Telefon.

Ein Mann, unzweifelhaft bundesdeutscher Herkunft, meldete sich: „Ich hab’ da ’ne Englische Bulldogge, die sich am Stacheldraht einen tollen Riss im Fell geholt hat. Er blutet zwar nicht, aber die Wunde muss genäht werden. Kann ich mal eben mit ihr bei Ihnen vorbeischauen?“

„Leider, ich bin auf dem Weg zu einem Notfall. Bitte fahren Sie zum Nachbarkollegen, der ist Kleintierpraktiker.“

„Ach nee! Der ist aber toll weit weg!“

Toll, offenbar sein Lieblingswort, weit weg bedeuteten nicht ganz vierundzwanzig Kilometer! Solche Tierbesitzer, die es nicht der Mühe wert fanden, im Interesse ihrer Vierbeiner eine kurze Strecke in Kauf zu nehmen, hatte ich schon gefressen. „Also wenn es mein Hund wäre, würde ich noch viel weiter fahren“, schnappte ich, „und wenn Ihnen das zu weit ist, schaffen Sie sich einen Teddybären an. Wenn der ein Loch im Pelz hat, kann man ihn zur Reparatur einschicken!“

Wütend feuerte ich den Hörer auf die Gabel oder wie das Ding auf den modernen Geräten halt heißt. Wahrscheinlich hielt er mich jetzt für einen tollen Flegel, ging mir durch den Kopf.

Karin, die ihren Brandherd offenbar gelöscht hatte, kam kopfschüttelnd aus der Küche: „Also weißt Du, Du warst schon immer sarkastisch. Aber mit dem Alter hat das eindeutig zugenommen.“

„Sarkasmus, meine Liebe“, erklärte ich triumphierend, „ist die Pumpgun des Intellektuellen!“

Um einer weiteren Diskussion vorzubeugen, stürmte ich in die Garage und ließ den Motor an.

Der Hintersteiner erwartete mich vor dem Stall und trat dabei ungeduldig nach Tanzbärenart von einem Bein auf das andere. Nur der Nasenring fehlte.

„Was ist das Problem?“ Ich sprang aus dem Wagen, schnappte mir einen Rektalhandschuh und das Stethoskop, klopfte an meine linke Seitentasche der Hose, um mich zu vergewissern, dass das Fieberthermometer am gewohnten Platz war, und marschierte hinter dem Bauern her in den Stall.

„Da“, sagte der Hintersteiner und zeigte auf einen Jungstier, der in halbrechter Seitenposition auf dem Boden lag, den Kopf komatös zur Schulter hin gebeugt, und leise vor sich hin stöhnte.

Die Hungergrube, das ist jene Stelle, wo sich der Pansen zwischen der letzten Rippe und dem Hüfthöcker befindet, wölbte sich ziemlich hervor. Der Tierkörper fühlte sich relativ kalt an, die Aftertemperatur zeigte siebenunddreißigkommavier Grad, also deutlich unter der Norm, und hinter dem Stier hatte sich eine breite Lache dünnflüssigen Kotes auf der Gummimatte ausgebreitet, die eine gelbgrüne Farbe und einen scharfen säuerlichen Geruch aufwies.

Was mir überhaupt nicht gefiel, waren die bereits tiefliegenden Augäpfel.

„Seit wann hat er denn das?“

„Seit gestern. Der Kerl hat sich vorgestern von der Anbindung losgerissen und über einen Sack Hendlfutter hergemacht.“

„Dann ist alles klar! Es handelt sich um schwere Pansenacidose!“

„Was ist eine Pansendose?“, fragte der Hintersteiner, für den Fremdwörter reine Fremdwörter waren.

„Eine Übersäuerung des Magens! So eine Art Sodbrennen!“

Der Hintersteiner nickte: „Sodbrennen habe ich öfter. Das ist zwar unangenehm, aber doch nicht so schlimm?“

„Bei Wiederkäuern liegt die Sache ein bisschen anders. Die übermäßigen Kohlenhydrate, wie sie im Hühnerfutter mit seinem hohen Mais- und Getreideanteil vorkommen, fangen zu gären an und senken den pH-Wert im Pansen. Dadurch wird auch das Blut sauer und schädigt die Organe. Warum haben Sie nicht schon gestern angerufen? Dann wäre noch genug Zeit gewesen, die Übersäuerung einzudämmen.“

„Weil er zuerst nicht so schlecht beieinander war. Zur Jaus’n (regionale Bezeichnung für alles Mögliche zur späteren Nachmittagszeit, zum Beispiel Besamungen, Heimkehr des Bauern von der Arbeit, Fütterung usw.) hat er nichts mehr gefressen, aber da habe ich mir gedacht, wenn ich drei Mal zu Mittag esse, habe ich am Abend auch keinen rechten Hunger mehr.“

Oh heilige Einfalt! Dass manche Bauern noch immer von sich auf ihre Tiere schließen!

„Wird er sterben?“

„Das kann ich Ihnen noch nicht beantworten. Jedenfalls ist der Zustand ernst. Manchmal löst sich sogar die gesamte Pansenschleimhaut ab und dann ist finito.“

„Der arme Poldi. Mein bester Jungstier! Hätte mein nächster Zuchtstier werden sollen!“

„Na, noch ist Hopfen und Malz nicht gänzlich verloren“, bemühte ich eine alte Bierbrauerweisheit. „Einen Versuch ist es immer noch wert!“

Ich kniete mich neben Poldi auf die Gummimatte und legte ihm die Staukette um die Halsvene. Dazu mussten wir ihn gar nicht groß fixieren, er ließ es einfach apathisch über sich ergehen. Der Hintersteiner hatte am Telefon Recht gehabt. Es ging dem Stier nicht gut. Nach der Traubenzuckerinfusion, die reichlich Bicarbonat enthielt, um den pH-Wert des Körpers wieder zu stabilisieren, drückte ich dem Bauern zwei Päckchen Pulver, die das Gleiche im Pansen bewirken würden, zum Eingeben in die Hand und versorgte ihn noch nebenbei mit einem guten Rat: „Lassen Sie nie offen Futter im selben Raum stehen, wo sich die Tiere befinden. Morgen schaue ich nochmals nach Poldi!“

Als ich heimkam, war die Garage leer, Karin in der Schule und die indische Reispfanne sehr exotisch, weil mittlerweile ziemlich trocken.

Obwohl ich noch andere dringende Visiten hatte, drängte es mich am nächsten Tag zuallererst auf den Hintersteinerhof.

Zu meiner großen Erleichterung empfing mich der Bauer mit einem Gesichtsausdruck, der zur Hoffnung Anlass bot. Und tatsächlich, dem Stier ging es eindeutig besser. Der Kot roch zwar noch immer etwas säuerlich, hatte aber schon eine breiige Konsistenz angenommen, die Körpertemperatur war auch schon gestiegen und, das Beste, Poldis Augen lagen nicht mehr tief und trüb in den Höhlen, sondern besaßen wieder Glanz.

Er zeigte sich gegenüber gestern auch schon wesentlich lebhafter, sprich wehrhafter, als ich die Behandlung vom Vortag wiederholte.

„So, ein paar Tage lang gutes Heu, dann ist er wieder der Alte!“, beschloss ich meine Visite.

Ich sollte Recht behalten. Poldi entwickelte sich in der Folge zum prächtigen Zuchtstier und bescherte dem Hintersteiner eine Menge hübscher Kälber.

Eines Tages musste ich aber doch wegen einer künstlichen Besamung auf den Hof, weil es sich bei der Kuh diesmal um Poldis Mutter handelte – und mit Inzucht machst Du Dir beim Zuchtverband keine Freunde.

Der Hintersteiner hatte mittlerweile den Stall erweitert und einen Laufstall daraus gemacht.

„Ich werde nicht da sein“, hatte er am Telefon gemeint, „weil ich einen Termin auf der Bauernkammer habe. Förderungsansuchen, Sie wissen schon. Aber ich habe Ihnen alles aufgeschrieben, die Kuh ist markiert und im Fressgitter eingesperrt.“

Was er nicht gesagt hatte und ich bei meinem Eintreffen feststellen musste, war, dass das Türchen, durch welches man die Kuhabteilung betrat, dermaßen verbogen war, dass es sich nicht öffnen ließ. Zumindest nicht mit einer Hand, in der anderen hatte ich ja die Besamungspistole samt Samenröhrchen, Plastikhülle und Schere. Also blieb nur der Weg durch die Laufbox von Poldi, was mich jetzt nicht sonderlich störte, denn der Stier steckte offensichtlich ebenfalls mit dem Kopf im Fressgitter. Aber man soll nichts auf den Augenschein geben.

Sobald ich zwei Schritte in sein Arreal getan hatte, grummelte er und zerrte den Schädel heftig aus der Absperrung. Wahrscheinlich war die Arretierung wegen seines dicken Halses nicht vollständig eingerastet gewesen. Er drehte sich in meine Richtung und musterte mich aus nachdenklichen Augen, wobei seine Gedanken, soweit ich sie lesen konnte, nicht unbedingt freundlich waren.

„Hallo Poldi. Du hast Dich ja bestens herausgemausert, alter Bursche“, versuchte ich, ein bisschen Spannung aus der Atmosphäre zu nehmen, aber Poldi hatte offenbar keinen Bock auf Komplimente. Endlich schien er zu einem Entschluss gekommen zu sein, denn er senkte den Kopf und begann, mit dem Vorderfuß zu scharren. Das war kein gutes Zeichen! Was sollte ich tun? Mich an ihm vorbei zu den Kühen hinüberzuretten, ging nicht, weil er mir den Weg versperrte. Also blieb nur die Richtung, aus der ich gekommen war. Der Rückzug erinnerte ein bisschen an den der Napoleonischen Armee aus Russland, nur ging er bei mir wesentlich schneller.

Allerdings nicht schnell genug. Bevor ich die Box wieder schließen konnte, immerhin hatte ich ja noch immer das vermaledeite Besamungszeug in der Hand, war Poldi bereits zur Stelle. Ein wuchtiger Kopfstoß riss mir die Türe aus der Hand und der Stier war bereits halb auf dem Gang, den ich nun nach Leibeskräften entlangrannte.

An sich ist es ja ein Blödsinn, einem Stier durch Laufen entkommen zu wollen, nicht einmal mit den besten Sportschuhen von Olympiasprintern und schon gar nicht in Gummistiefeln. Aber vielleicht, und vor allem hoffentlich, gelang es mir, vor ihm den schmalen Stiegenaufgang zum Heuboden hinauf zu erwischen. Dorthin konnte er mir nicht folgen, dazu war er zu dick.

Aber soweit musste ich gar nicht kommen, weil Poldi plötzlich abbremste. Er hatte den Sack mit Hühnerfutter, der schon wieder an der Stallwand lehnte, erspäht oder gewittert, jedenfalls brach er die Verfolgung ab, weil irgendetwas in seiner Erinnerung ihm sagte, dass das damals ganz prima geschmeckt hatte. Er tauchte seine Nase in die Mais-Getreidemischung und begann genüsslich, sich das unerwartete Angebot einzuverleiben.

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