Czytaj książkę: «Der Sonderermittler»
Hans
Becker
Der
Sonder-
ermittler
Als Kriminalist in Diensten des MfS
Mit einem Vorwort
von Remo Kroll
edition berolina
ISBN 978-3-95958-797-6
1. Auflage
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Vorwort
Wir leben in unruhigen Zeiten. Immer wieder lesen und hören wir von versuchten, verhinderten, aber auch gelungenen Terroranschlägen und anderen Gewaltakten. Und die passieren nicht tausende Kilometer von uns entfernt, sondern auch mitten unter uns. Ob die Terrorgefahr größer geworden ist, seitdem die USA nach den Anschlägen vom 11. September 2001 den weltweiten Kampf gegen den Terror ausgerufen haben und mit ihren Verbündeten die Welt mit »Feuer und Schwert« zu befrieden suchen, muss jeder für sich selbst entscheiden. Fakt ist: Das Gefühl, nicht mehr sicher zu sein, hat unter den Menschen zugenommen.
Daraus resultiert auch ein Aufwachsen der Sicherheitsbehörden der Staaten, um dem zu begegnen. Schon bei kleinsten Anlässen werden Staatsschützer, Spezialeinsatzkommandos und andere Sicherheitsexperten mit der Untersuchung und Aufklärung ungewöhnlicher Vorfälle betraut, und zwar in allen Ländern, unabhängig davon, ob es sich um lupenreine westliche Demokratien oder Russland, Polen, Rumänien oder Syrien handelt. Und dass in den »lupenreinen« Ländern die Sicherheitsgesetze verschärft wurden – so hat Frankreich nach drei Jahren Ausnahmezustand diesen zwar beendet, nicht aber ohne vorher eine Reihe von Gesetzen zu verabschieden, die sonst nur im Notstand galten –, scheint auch niemanden so richtig zu interessieren.
Begeben wir uns nun zurück in die Zeit des Kalten Krieges: Winston Churchill, der angeblich nach dem Zweiten Weltkrieg in Bezug auf den Sieg über Hitlerdeutschland und den Verbündeten der Anti-Hitler-Koalition, die Sowjetunion, gesagt haben soll: »Wir haben das falsche Schwein geschlachtet …« (zit. nach Handelsblatt, 1. Januar 2006), legte dann 1947 auf einer Rede in Fulton (USA) nach und beschrieb die Befürchtung des Westens vor einer weiteren Ausbreitung des Kommunismus. Dabei benutzte er erstmalig die Metapher vom ›Eisernen Vorhang‹: »Von Stettin an der Ostsee bis hinunter nach Triest an der Adria ist ein ‚Eiserner Vorhang‘ über den Kontinent gezogen. Hinter jener Linie liegen alle Hauptstädte Zentral- und Osteuropas: Warschau, Berlin, Prag, Wien, Budapest, Belgrad, Bukarest und Sofia. Alle jene berühmten Städte liegen in der Sowjetsphäre, und alle sind in dieser und jener Form nicht nur sowjetrussischem Einfluß, sondern auch der Moskauer Kontrolle unterworfen.« (Zit. nach wikipedia.de: Eintrag zu »Eiserner Vorhang«) Die Hoffnung der westlichen Staaten, dass die Sowjetunion durch den Krieg gegen Hitlerdeutschland ganz entscheidend geschwächt würde, hatte sich nicht erfüllt. Ganz im Gegenteil, in vielen von der Sowjetarmee befreiten Ländern Osteuropas kam eine antikapitalistische Entwicklung in Gang, die im Osten als sozialistische, im Westen als kommunistische interpretiert wurde. Auch heute noch, nach dem Untergang aller Versuche hin zu einer sozialistischen Entwicklung in Europa, wird immer von der Niederlage des Kommunismus gesprochen.
Wie auch immer, vorsozialistisch, sozialistisch oder kommunistisch – auch der sowjetisch besetzte Teil Deutschlands schloss sich dieser Entwicklung an. Die DDR wurde demzufolge auch, nachdem die Bundesrepublik zuvor konstituiert worden war, als ein Staat gegründet, der sich auf den Weg zum Sozialismus machen wollte.
Nun warfen sich aber beide Systeme gegenseitig vor, gewaltsam expandieren zu wollen. Für den Westen war klar, dass die kommunistische Theorie immer die Weltrevolution verlange und daraus ad hoc geschlossen werden müsse, dass sich die Kommunisten mit Gewalt den Rest der Welt holen wollten.
Der Osten betrachtete misstrauisch und argwöhnisch die Versuche des Westens, sein Militär immer dichter an die Sowjetunion und die anderen Volksdemokratien zu bringen. Hinzu kam, dass 1949 die NATO gegründet wurde, und in vielerlei Papieren und Reden war vom »roll back«, also dem Zurückdrängen des Ostens, zu lesen resp. zu hören. So fühlte sich auch der Osten bedroht, und sechs Jahre nach der NATO entstand mit dem »Warschauer Vertrag« das östliche Militärbündnis.
Ein Riss ging mitten durch die Welt, und an den Nahtstellen dieses Risses standen sich riesige Militärmassen gegenüber, bereit zum großen Finale. Unterstützt wurde das zuletzt von einem Kernwaffenarsenal, mit dem die Welt sich mehr als vierzig Mal hätte vernichten können, als wenn ein einziges Mal nicht reichen würde. Und dieser Riss ging quer durch Deutschland, auf der einen Seite die BRD und die NATO und auf der anderen Seite die DDR und der Warschauer Vertrag.
Dieser lange Vorspann ist nötig, um die Zeit zu charakterisieren, in dem sich das Leben des Autors im Wesentlichen abgespielt hat. Er war qua seiner Tätigkeit Teil dieser Geschichte. Und der lange Vorspann ist auch wichtig, um das, was unser Autor getan hat, einzuordnen in größere Zusammenhänge.
Natürlich kann man es sich auch einfach machen, wie heute vielerorts üblich: Der Mann hat beim MfS, heute meist nur Stasi genannt, gearbeitet, und damit ist automatisch alles falsch und verdammenswert, was er getan hat. So einfach ist Geschichte dann wohl nur für Bild-Konsumenten.
Differenzierter betrachtet, hat der Mann eine wichtige Aufgabe in einer eben auch nicht einfachen Zeit gehabt. Er hat, wie das heute so viele ebenfalls tun, für die Sicherheit seines Landes und die Sicherheit seiner Bevölkerung gearbeitet. Dazu war es notwendig, über die vorhandenen Polizeiorgane hinaus eine Dienststelle einzurichten, die sich mit der Schnittstelle von Verbrechensbekämpfung und Sicherung des Staates beschäftigte, mit der Staatssicherheit. Und der Mann ist ein Profi gewesen, er hat sich seine Meriten sowohl in der kriminalpolizeilichen Praxis verdient als auch einen akademischen Abschluss erlangt.
Hans Becker, Diplomkriminalist und Oberstleutnant a.D., nimmt den Leser mit auf eine Reise in seine berufliche Vergangenheit von 1953 bis Ende 1989. Als ehemaliger VP-Kriminalist der Hallenser Morduntersuchungskommission und späterer Leiter des Referates 1 (unnatürliche Todesfälle) der Hauptabteilung IX/7 des Ministeriums für Staatssicherheit war er einer der erfahrensten Kriminalisten der DDR. Sein Report ist der eines Insiders, der bei spannenden Ereignissen, merkwürdigen Todesfällen, spektakulären Rauben und großen Katastrophen ermittelte.
So untersuchte der Autor Serien- und andere Morde, Suizide, operativ relevante Verkehrsunfälle, Havarien in Betrieben sowie Katastrophen in der Luftfahrt und im Bahnverkehr. In der DDR selbst in Zusammenarbeit mit den Kollegen und Spezialisten der Volkspolizei. Seine Arbeit führte ihn nicht nur durch die ganze DDR, sondern auch nach Ungarn und Angola. Becker berichtet über komplizierte Ermittlungen, damit verbundene Probleme, Erfolge, Niederlagen und auch über Gefühle, die selbst hartgesottene Kriminalisten nicht immer außen vor lassen konnten.
Hans Becker ist Dank dafür zu sagen, dass er seine Erinnerungen für die Nachwelt zu Papier gebracht hat. Wer seine Lebenserinnerungen gelesen hat, sieht vielleicht nun die Arbeit jener Leute, die sich um die Sicherheit ihres Landes kümmerten, in einem anderen Licht.
Wandlitz, im Juli 2019
Remo Kroll
Frühe Kindheit
bis 1948
Ich wurde 1934 in der kleinen Stadt Ammendorf bei Halle an der Saale geboren. Mein Vater war Elektriker und meine Stiefmutter Schneiderin. Meine leibliche Mutter lernte ich erst später kennen. Warum meine Eltern geschieden waren, weiß ich bis heute nicht, aber ich bin sicherlich nicht der Einzige, dem es so geht.
Wir wohnten mit einer weiteren Familie in einem kleinen Haus in der Regensburger Straße. Eines Tages, ich habe keine Erinnerung, wann das war, verschwand mein Vater, und meine Stiefmutter sagte, er sei jetzt bei den Soldaten.
Dann begann für mich eine wahre Odyssee. Warum das damals alles so geschah, entzieht sich meiner Kenntnis, ich nehme aber an, dass es mit dem Krieg zu tun hatte, denn später, als ich schon Kriminalist war, erfuhr ich, dass während des Krieges viele Kinder aus den Industriezentren weggeschickt wurden, um sie vor Bombardierungen oder Kampfhandlungen zu bewahren.
Ich kann mich erinnern, dass ich irgendwann in ein Heim nach Eilenburg bei Halle kam. Meine einzige Erinnerung daran ist, dass wir uns dort mit den größeren Jungs Holzschwerter und Schilde bastelten, mit denen wir uns herumschlugen. Schulzeugnisse belegen, dass ich dort von Mitte 1943 bis zum 19. Februar 1944 war.
Weiter erinnere ich mich an meinen Aufenthalt in einem Heim oder auch Schule in Freyburg (Unstrut). Hier habe ich eine vage Erinnerung an den Namen des Heimes, der in Verbindung mit dem Turnvater Jahn stand. Im Turnraum und auf den Korridoren hingen auch Bilder von ihm. Zeugnisse belegen, dass ich dort vom 3. April 1944 bis zum 31. August 1944 war. An den Aufenthalt kann ich mich auch besser erinnern, weil ich dort das Schwimmen erlernte, auf eine Art und Weise, wie sie heute vermutlich völlig unbekannt ist: An der Unstrut gab es eine Badeanstalt direkt am Flussufer. Vom Ufer ragte ein Steg in den Fluss, an dem Baumstämme angebunden waren, die ein großes Rechteck im Fluss abgrenzten von einer Fläche von etwa 20 mal 10 Metern. Der Fluss lief mitten durch diese »eingezäunte« Fläche. Der Bademeister band uns eine Art Rucksack um, der hatte Riemen über die Schultern und daran nur große Korkplatten. Dann band er uns an eine etwa vier Meter lange Stange, die wir die »Angel« nannten, und mitten im Fluss, aber in dieser eingezäunten Fläche, lernten wir Kinder daran hängend das Schwimmen.
Das Stadtarchiv Freyburg (Unstrut) hat auf meine Anfrage bestätigt, dass dieses Bad bis etwa 1948 in Betrieb war. Freyburger Sportler haben 1948 zunächst das Bad im Fluss erneuert und 1953 ein modernes Schwimmbad errichtet, welches bis heute Bestand hat.
In Freyburg (Unstrut) war ich laut einem Beleg bis 31. August 1944 und wurde dann in ein kleines Dorf hinter Saalfeld im Thüringer Wald übergeben. Das Dorf und die Schule hießen Wickersdorf, das erfuhr ich aber erst, als ich schon Kriminalist war und in meiner Vergangenheit blätterte, in der Chronik Freie Schulgemeinde Wickersdorf.
Die Schule bestand aus mehreren bis zu zweigeschossigen Häusern. Alle hatten über der Haustür ein großes geschnitztes Holzschild mit irgendeinem germanischen Namen. In den Zimmern waren Betten vorhanden, aber keine Doppelstockbetten. Zu Schule gehörten eine große Turnhalle, ein Teich mit Fischen, ein Sportplatz und ein Speisesaal mit einer großen Küche.
Am Tag der Ankunft, meine Stiefmutter war zugegen, mussten wir eine so genannte Mutprobe bestehen. Diese bestand im Balancieren über eine lange Leiter, welche über dem Teich in geringer Höhe angebracht war. Auch wer von der Leiter in der Mitte einen Kopfsprung machte, so wie ich, hatte die Prüfung bestanden. Ob es dazu diente, den Mut der Ankömmlinge zu testen oder nur so gesagt wurde, um alles interessant zu gestalten, habe ich vergessen.
An der Schule waren wir etwa 200 Schüler, alle männlich, es gab keine Mädchen. Es waren alle Altersklassen vorhanden, selbst das Abitur konnte abgelegt werden. Wir trugen keine Zivilsachen, sondern braune Hemden, schwarze Hosen und schwarze Schuhe. Meine Zivilsachen habe ich nie wiedergesehen. Wir Kleinen hatten Unterricht in deutscher Sprache, die Größeren hatten bereits Englisch als Schulfach.
Jeden Tag hatten wir vor dem Frühstück eine Stunde Unterricht, erst danach gab es die erste Mahlzeit und danach täglich Fahnenappell.
Der Betrieb im Speisesaal in der unmittelbaren Kriegszeit ist für mich bis heute mit dem eigentlichen Charakter der Schule verbunden. Wir mussten keinen Tischdienst durchführen, aber jeder hatte seinen festen Platz an langen, mit weißem Tuch gedeckten Tischen. Beim Einrücken in den Speisesaal waren die erforderlichen Bestecke an den Plätzen aufgelegt. Vor dem Einrücken – das geschah in militärischen Gruppen – wurde an der Tür die Sauberkeit der Hände, der Kleidung und der Schuhe kontrolliert. Im Saal war ausreichend Platz für alle und wir aßen alle gemeinsam. An einem Ende des Raumes waren mehrere Stufen. Diese Stufen endeten in einer etwa 5 mal 2 Meter breiten Fläche und diese war durch verschiebbare Fenster zur dahinter befindlichen Küche abgetrennt. Vor diesen Fenstern, welche als Essenausgabe dienten, standen mehrere junge Frauen in Röcken und Kittelschürzen, aber ohne Kopfbedeckung; sie wirkten wie irgendwelche Frauen, die wir aus dem Dorf bisweilen sahen. Es war streng verboten, mit ihnen zu sprechen. Ich weiß auch nicht, ob sie unsere Sprache verstanden hätten. Diese Frauen bedienten uns, auch uns »Kleine«. Wenn zum Beispiel eine Suppenschüssel leer war, hob man die Hand und schon kam eine Frau gerannt, holte die Schüssel oder brachte auch gleich eine gefüllte mit. So wurden wir zu jeder Mahlzeit bedient. In nehme an, dass diese Frauen auch unsere Zimmer reinigten, denn auch das mussten wir nicht erledigen.
Damals war ich zu klein, um zu begreifen, dass wir als die jungen Angehörigen der germanischen »Herrenrasse« bedient wurden. Vermutlich waren die Frauen zwangsverschleppt oder Gefangene. Einmal wurde erzählt, dass zwei größere Jungen der Schule verwiesen wurden, weil sie sich mit diesen Frauen eingelassen hatten. Ob das nur Erzählungen mit einem erzieherischen Hintergrund waren oder Tatsachen, habe ich nie erfahren.
Im Unterrichtsprogramm spielte Sport eine große Rolle. Wir spielten im Freien oder in der Turnhalle Fußball oder Völkerball, führten Hechtsprünge auf Matten durch oder nahmen an Nachtwanderungen durch den Wald teil, wo auch ein Gerippe mit Leuchtfarbe aufgestellt war. Vom Krieg wussten wir nur, dass Krieg war. Was das bedeutete, verstanden wir nicht.
Allerdings hörten wir ab einem bestimmten Zeitpunkt fast täglich dumpfes Motorengedröhn von vielen Flugzeugen am Himmel und manchmal sahen wir diese auch. Wir wussten nicht, woher sie kamen und wohin sie flogen. Die Tage verliefen gleichförmig.
Doch eines Morgens stand ein riesiger Panzer auf dem Schulhof. Darauf saßen Menschen mit schwarzen Gesichtern und schwarzen Händen, die Schokolade und Zigaretten verteilten. Die Größeren von uns sagten, das sei ein amerikanischer Panzer und die mit den schwarzen Gesichtern seien »Neger«. Ich hatte noch nie etwas von einem »Neger« gehört, von Amerika ebenfalls nicht. Woher die Großen Bescheid wussten, weiß ich nicht, wir hatten keine Radios, und Filme wurden nicht gezeigt.
Der Panzer stand mehrere Tage auf dem Schulhof. Wir Kinder hatten den gleichen Tagesablauf wie vor seinem Erscheinen. Dass er ein Zeichen des Kriegsendes war, realisierten wir nicht. Ich war gerade elf Jahre alt.
Und dann war der Panzer weg und die »Neger« auch. Irgendwann fuhren auf den Schulhof andere Soldaten, die ich auch noch nie gesehen hatte. Sie kamen mit Pferdewagen und kleinen Pferden. Die Größeren sagten, das seien Russen. Auch diese Soldaten waren freundlich, aber sie hatten weder Schokolade noch Zigaretten für die Größeren. Sie rauchten aber auch, doch ihr Zigarettenqualm roch anders als der von den Soldaten vom Panzer. Sie hatten eine Feldküche, wie die Größeren sagten. Das alles sah ich zum ersten Mal.
Mit dem Erscheinen der Pferdewagen waren wir plötzlich ohne Lehrer und ohne die gewohnten Abläufe. Auch hatten wir nichts zu essen. Wir waren plötzlich ganz allein und niemand wusste, wie es weitergehen sollte. Doch die Größeren, die Abiturienten, hatten mitbekommen, dass in Saalfeld, 12 Kilometer entfernt, eine Schokoladenfabrik bombardiert worden war. Und sie fuhren mit einem Pferdewagen und einem dieser fremden Soldaten nach Saalfeld und brachten von dort geschmolzene Schokolade und andere Lebensmittel mit. So ging es einige Tage. Schließlich bekamen wir plötzlich von »Russen in Zivil« handgeschriebene Fahrkarten für die Eisenbahn und sollten nach Hause fahren.
Es mag heute unglaublich klingen, aber was sollten die fremden Soldaten mit unserer Schule und täglich etwa 200 hungrigen Mündern anfangen? Sie gaben uns aus der Feldküche etwas ab, aber es war zu wenig. Mit den Fahrkarten bekamen wir Reiseproviant, einige Schnitten mit Aufstrich.
Ich kann mich erinnern, dass ich die Fahrt nach Halle auf dem Trittbrett eines Zuges geschafft habe. Dann kam das nächste Problem auf mich zu: Mein Vater war noch im Krieg oder in der Gefangenschaft. Meine Stiefmutter hatte kein sonderliches Interesse an mir. Ich war nur ein unnützer Kostgänger. Wir sollten uns bei diesen Zeilen immer daran erinnern, dass es die Zeit unmittelbar nach dem Krieg war. Jeder hatte mit sich zu tun und kämpfte ums Überleben.
Ich ging auf eine Polizeistation in unserer Stadt, und von dort machte man meine leibliche Mutter irgendwie ausfindig. Dorthin ging ich nun. Sie wohnte im Ortsteil Silberhöhe. Als ich die Wohnung betrat, saß meine Mutter, die mir völlig unbekannt war, mit einem Mann und zwei kleinen Jungen an einem Tisch. Weinend umarmte sie mich, und ohne irgendwelche Fragen konnte ich am Tisch Platz nehmen und mitessen.
Im Ortsteil Silberhöhe, etwas außerhalb von Ammendorf, kam ich dann mit den Kindern anderer Familien zusammen. Wir spielten gemeinsam, was sollten wir auch sonst tun? Dort war ein kleiner Platz, den wir den Sportplatz nannten, er war von hohen Pappeln umgeben. Das war immer unser Treffpunkt. In der Nähe lag eine halbzerstörte Flakstellung aus dem Krieg, dort spielten wir meistens.
Eines Tages kam meine Mutter mit zwei Männern und sie nahmen mich einfach mit, sie hatten mich lediglich nach meinem Vor- und Nachnamen gefragt. So kam ich wieder nach Wickersdorf. Alle Häuser standen noch, aber über den Eingängen waren die Namensschilder verschwunden. Ansonsten war alles wie in einer normalen Schule. Wir hatten wieder Unterricht, aber nicht mehr vor dem Frühstück. Auch machten wir keinen Fahnenappell mehr und wir wurden im Speisesaal nicht mehr bedient, sondern mussten selbst Tischdienste erledigen. Aus irgendwelchen Gründen erinnere ich mich nur noch an den Namen des Russischlehrers: Herr Griebsch.
Ich habe in meinen spärlichen Unterlagen über diese Zeit einen Laufzettel in meinem Archiv, wonach ich am 19. Juli 1948 die Schule verlassen habe. Auf diesem Laufzettel haben mehrere Personen unterschrieben, so auch der Russischlehrer Griebsch für die Bücherei.
Ich habe später diese Zeit in Wickersdorf, also die Zeit nach Kriegsende bis 1948, immer als die Zeit meiner Entnazifizierung bezeichnet. Meine Rückführung in die Schule, in der so ungewöhnlichen Art und Weise, hatte vielleicht auch andere Gründe, aber ich habe sie immer als meine Entnazifizierung bezeichnet, denn die Lehrer bemühten sich, unsere Köpfe mit neuen Idealen zu füllen.
Ab 1948
Als ich nun 1948 von dieser Schule entlassen wurde, fuhr ich wieder zu meiner Mutter. Sie wohnte noch immer im Hallenser Stadtteil Silberhöhe. Ich spielte nun wieder mit den anderen Jugendlichen, wir waren nun bereits 14 Jahre alt, auf dem kleinen Sportplatz mit den vielen Pappeln.
Die zerstörte Flakstellung war noch da und so gingen wir oft dorthin. Nun schon etwas älter, waren wir neugieriger als vier Jahre zuvor. Wir suchten überall herum und fanden auch Verschiedenes. Am verlockendsten waren alte Pistolen, Gasmasken und irgendwelche alten Bekleidungsreste. Jeder von uns hatte irgendetwas mitgenommen. Ich war stolz auf meine Pistole, allerdings hatte ich nie ausprobiert, ob sie noch schießen konnte. Sie hätte auch eine Wende zum Schlimmen für mich werden können.
Nachdem mein Stiefvater, der sich immer sehr um mich gekümmert hatte, mir 1950 eine Lehrstelle in der Waggonfabrik in unserer Stadt besorgt hatte, lief ich nun täglich mit den anderen Lehrlingen auf einem Trampelpfad über einen großen Acker zu diesem Betrieb. Meine Pistole hatte ich immer dabei. Und legte sie im Werk in meinen Schrank. Über diese Dummheit habe ich mir damals keine Gedanken gemacht.
Erst später, als Kriminalist, erfuhr ich etwas von den »Werwölfen« und dass sie, wenn sie erwischt wurden, in Straflager in die Sowjetunion abtransportiert wurden. Mir läuft es heute noch eiskalt den Rücken herunter, wenn ich daran denke, durch welchen Zufall ich einem furchtbaren Schicksal entgangen bin. Aber so war das damals: Die Verlockungen für uns waren groß und niemand hat uns kontrolliert. Dass ich mit meiner Pistole nicht als »Werwolf« entdeckt wurde, ist für mich noch heute der größte Glücksfall meines Lebens.
Damals, ich lernte von 1950 bis 1952, war die Waggonfabrik ein großes Werk mit Tausenden Erwachsenen und etwa 200 Lehrlingen. Man konnte Schlosser, Tischler, Polsterer, Schmied lernen, eben alles, was ein Werk benötigte, das Schnellzugwaggons baute. Jeder Waggon war über 20 Meter lang, hatte gepolsterte Sitze in den Kabinen, die zu Schlafgelegenheiten umgebaut werden konnten, sowie eine kleine Küche und einen Dienstraum für das Personal. Wir bauten damals zwei Waggons pro Woche, später sogar fünf Waggons täglich. Die meisten wurden in die Sowjetunion und auch nach China exportiert. In das Werk kamen auch Lastkraftwagen mit einer geschlossenen Ladefläche, auf die dann Werkzeugmaschinen wie Hobelbänke, Drehbänke, Schweißgeräte und anderes aufgebaut wurden. An die Zahl dieser Werkstattwagen habe ich keine Erinnerung, da ich schon als Lehrling, aber auch nach der Gesellenprüfung beim Bau der Schnellzugwaggons eingesetzt wurde. Nach der Wende erfuhr ich, dass unser Werk damals der weltgrößte Hersteller solcher Weitstreckenwaggons war.
Das Werk hatte nicht nur Arbeitsplätze, sondern auch ein großes Klubhaus mit Großküche, Speisesaal, Tischtennisplatten, Tanzsaal und Billardraum. Auch existierte ein Fanfarenzug mit etwa vierzig Akteuren, eine Fußball- und eine Handballmannschaft, in der ich als Torwart spielte.
Nach der Wende wurde das Werk abgewickelt, wie es hieß, das Klubhaus abgerissen und eine kleine Stadt, die einst mit und von diesem Werk gelebt hatte, blieb mit der üblichen Arbeitslosenrate zurück. Die verkündeten »blühenden Landschaften« waren damals in meiner Heimatstadt Ammendorf nicht angekommen.
In unserer Handballmannschaft gab es auch werksfremde Spieler, und eines Tages sprach mich einer von diesen Sportkameraden an und stellte sich als Angehöriger der Kriminalpolizei von Halle vor. Er meinte: »Wir brauchen solche Männer wie dich, komm doch mal zu einem Vorstellungsgespräch«. Und da er mich löcherte, ging ich eines Tages mit ihm dorthin.
So nahm ich im Herbst 1952 bei der Kriminalpolizei in Halle an einem Vorstellungsgespräch teil. Mir wurde zunächst ein längerer Vortrag über die Notwendigkeit der Arbeit in der Kriminalpolizei gehalten, und schließlich willigte ich zu einem Probedurchgang von sechs Monaten als Praktikant ein. Ich durchlief die Arbeitsgruppen Einbruch, Sitte, Verkehrsunfälle, Leben und Gesundheit sowie Allgemeines. Nach sechs Monaten wurde ich für tauglich befunden und trat am 1. Juni 1953 im Präsidium Halle, wie es damals hieß, meinen Dienst als Angehöriger der Kriminalpolizei an.
Leiter der Abteilung war Major Hausmann. Er war ein ruhiger, väterlicher Vorgesetzter. Sein Stellvertreter war Hauptmann Apelt. Beide waren in ihrem Handeln gute Vorbilder für einen jungen Kriminalisten. Ich wurde Oberleutnant Hackemesser zugeteilt. Er war in den nächsten Jahren mein Vorgesetzter und führte mich in die Kriminalistik ein. Er weckte auch die Neugier in mir, ohne die ein guter Kriminalist nicht erfolgreich sein kann. Damals war ich der Jüngste in der Abteilung.
Die Tätigkeit als Kriminalist war ungleich schwerer als die Arbeit in der Waggonfabrik. Endlose Überstunden, und sonnabends und sonntags zu arbeiten, war normal. Wollte ich auf einem Aktenbestand von etwa 20 Vorgängen bleiben, musste ich neben der Ermittlungsarbeit täglich zwei Schlussberichte schreiben, da der Arbeitsgruppenleiter jeden Tag neue Vorgänge brachte und mit wenigen Worten auf den Tisch legte.
1954 heiratete ich meine Sissi. Amtlich Sigrid, nannten sie ihre Eltern »Sissi«, und so habe ich nicht nur ihre Tochter übernommen, sondern auch den Kosenamen. Bis zu ihrem Tod 2017, nach langer schwerer Krankheit, war sie meine Frau, und auch das Pflegepersonal des Heimes, wo sie lange Jahre ans Bett gefesselt lebte, nannte sie so; ich war jeden Nachmittag bei ihr. Unser Sohn Udo war bereits 2009 gestorben.
Als wir am 23. Oktober 1954 heirateten, wohnte ich bei ihren Eltern und schlief auf dem Sofa. Wir hatten ein herzliches Verhältnis zueinander. Die Wohnung befand sich in einem Haus aus den dreißiger Jahren und bestand aus Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche und Toilette. Es waren kleine Räume, und jeweils drei Mietparteien hatten im Keller ein gemeinsames Badezimmer mit Kohleofen.
Sissi arbeitete als Feinmechanikerin in den Chemischen Werken Buna, wo sie diesen Beruf auch erlernt hatte.
Es war schwer, eine eigene Wohnung zu bekommen. Aber in den Chemischen Werken Buna wurde 1954 eine Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft (AWG) gegründet, in welcher jeder im Werk Beschäftigte eintreten konnte. Es gab Standorte, also Baugebiete in Halle, Schkopau und Merseburg. Es konnte sich jeder für »seine« Wohnung eintragen lassen, also nicht schlechthin für eine Wohnung. Dafür musste er eine von der Mitgliederversammlung beschlossene Geldsumme einzahlen und eine festgelegte Zahl von Arbeitsstunden leisten. Diese Leistungen waren abhängig von der Wohnungsgröße und von der Lage der Wohnung im Gebäude. Es kam nicht auf die Dauer der Betriebszugehörigkeit an, man konnte auch dort anfangen zu arbeiten und sich am nächsten Tag bei der AWG anmelden.
Jede Wohnung hatte einen Balkon, ein Badezimmer mit Kohleofen und Toilette, im Wohnzimmer Parkettfußboden, im Kinderzimmer und im Wohnzimmer einen Kachelofen. Es waren herrliche Wohnungen, und da alle im Werk beschäftigt waren, kannte man sich in der AWG auch untereinander.
Wir mussten für unsere Wunschwohnung – drei Zimmer, Küche und Bad – 2.500 Mark einzahlen und 250 Arbeitsstunden leisten: beim Ausschachten von Fundamenten oder beim Abladen von Materialien. Alle benötigten Materialien wurden vom Werk geliefert, auch die Baubrigaden und der Bauleiter kamen aus dem Werk. Unser Vorstand Reinhold Voigt war der unermüdliche Motor auf der Baustelle »Am Rosengarten«, es handelte sich um die Jahre 1954 bis 1957. Wir kannten ein Paar, die Modelleisenbahner waren und sich für eine Vier-Raum-Wohnung eintragen ließen, obwohl sie keine Kinder hatten. Gegenüber unserer Wohnung hatte sich eine Familie für eine Vier-Raum-Wohnung eintragen lassen, weil sie Platz für zwei große Hunde benötigte. Das waren Chow-Chow, und aus deren Wolle wurden Pullover gestrickt. Alles war nur eine Frage des Geldes und der zu leistenden Arbeitsstunden.
Für die meisten war die zu zahlende Geldsumme kein Problem, Jeder hatte Arbeit, auch die meisten Ehefrauen arbeiteten im Werk, und damals galt das Gesetz: »gleicher Lohn für gleiche Arbeit«. Auch die zu leistenden Arbeitsstunden waren meistens kein Problem, da viele im Drei-Schicht-System arbeiteten und so immer planbare Zeit hatten. Die Angestellten der Verwaltung hatten es noch besser.
Bei Sissi und mir war das Geld auch erschwinglich, obwohl ich nur 560 Mark als Kriminalmeister bekam. Unser Problem allerdings waren die Arbeitsstunden: Ich kam aufgrund der vielen Überstunden immer erst spät und dann auch noch im Dunklen in der Wohnung der Schwiegereltern an. Und so war die zu leistende Arbeit für uns ein echtes Problem, sie konnten auch nicht mit Geld abgegolten werden. Eines Tages kam Sissi aus dem Werk nach Hause und erzählte, dass ihre Brigade für uns Arbeitsstunden leisten würde. Und tatsächlich kamen am Samstag und Sonntag acht bis zehn Männer ihrer Brigade unter Leitung des damals sechzigjährigen Obermeisters Knauthe und leisteten für uns Arbeitsstunden. Ich war wie immer mit Überstunden im Dienst unabkömmlich, und so konnten wir uns nur dadurch bedanken, dass Sissi Bratwürste grillte. Uns war meine Abwesenheit sehr unangenehm, aber alle hatten Verständnis für meine Situation. Damals half jeder jedem.
Am 1. Oktober 1957 erhielten wir unsere Wohnung in der Bunasiedlung »Rosengarten«. Die Freude war groß. Schon die Übergabe der leeren Wohnung feierten wir gemeinsam mit den neuen Bewohnern unseres Wohnblockes in der Emil-Fischer-Straße. In der AWG trugen alle Straßen Namen von bedeutenden Chemikern.
In dieser Wohnung wohnten wir bis zu unserem Umzug nach Berlin. In Berlin erhielten wir auch eine Neubauwohnung in der Höchste Straße im Stadtzentrum. Die Wohnung war räumlich größer, aber ich erinnere mich auch heute noch gern an unsere Wohnung in der AWG, an die Jahre des Baues und des Zusammenlebens.
Fast hätte ich vergessen, dass es in dieser AWG ein Klubhaus gab. Natürlich mit Getränkeausschank in den Abendstunden und einem kleinen Imbissangebot. Dort konnten auch Zusammenkünfte bei Familienfeiern abgehalten werden. Das Tollste aber war der Waschsalon im Keller des Gebäudes: Dort standen elektrische Waschmaschinen. Jedes Mitglied der AWG konnte sich dort für die Benutzung einer Waschmaschine einen Termin geben lassen, ging dann mit seiner Schmutzwäsche dorthin, wusch und trocknete sie und ging dann nach zweieinhalb Stunden mit der trockenen Wäsche unterm Arm wieder in seine Wohnung. Heute mag das alles nach Mittelalter klingen, aber für die damalige Zeit war es eine ungeheure Erleichterung. Wir zahlten 38,00 Mark monatlich an Miete.
Später hatten wir eine Waschmaschine in der Wohnung und eine Wäscheschleuder. Diese stand auf einem luftgefüllten Gummiring und das Wasser lief unten heraus. Man trocknete dann die Wäsche im Bad mit Standtrocknern, wie sie auch heute noch gebräuchlich sind oder hatte sich nach eigener Erfindung Wäscheleinen im Bad gespannt. Das war bei uns auch noch so, nachdem wir im Herbst 1969 in unsere Berliner Wohnung umgezogen waren.