Czytaj książkę: «Caromera»
H. G Götz
Caromera
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Der Rat
Spätes Treffen
Die Unterredung
Alles dahin
Auf der Flucht
Neues aus der Stadt
Stadt der Toten
Einsicht, Wut und Trauer
Der Plan
Flucht aus Prudencia
Hauptmans Vision
Aus allen Nähten
Rogners Zwiespalt
Überlaufen
San Sedrillo
Boca Blanca
Rückkehr nach Caromera
Die Boten
Hauptman
Impressum neobooks
Der Rat
Der Raum, in dem sie saßen, hatte schon bessere Tage gesehen. An den Wänden und der Decke blätterte die Farbe ab. Das Muster des Teppichs war an manchen Stellen nicht mehr zu erkennen. Dort wo die Holzdielen sichtbar waren, erkannte man mit einem Blick, dass auch die beste Politur nichts, an deren maroden Aussehen mehr hätte ändern können. So wie der Zustand des Raumes, in dem die kleine Gruppe von Männern saß, so war der Zustand des ganzen Gebäudes. Dieses einst stolze Gebäude, dass sich einst so prächtig inmitten des Zentrums dieses kleinen, aber feinen Landes ausgemacht hatte, glich, je mehr Zeit verging, einer
Ruine, die einer längst vergangenen Ära nachtrauerte. Einer Ära in der niemand zu hungern brauchte. Niemand der ohne ein Zuhause gewesen war.
Prudencia, die Umsichtige hatte man einst die heutige Hauptstadt des kleinen südamerikanischen Landes getauft, dass die Gründerväter mit dem eigenartigen Namen Caromera bedacht hatten, von dem niemand mehr wusste, wie er zustande gekommen war. Getauft von jenen Siedlern, die nach und nach eine Stadt aus dem Boden gestampft hatten, mit nichts anderem als ihren Händen, den Ressourcen, die das umliegende Land bot und den wenigen Werkzeugen die sie von der langen Fahrt, mitgebracht hatten. Und als umsichtig hatten sich die ersten Stadtväter und Siedler erwiesen. Geprägt von christlichen, wenn auch protestantischen Grundsätzen – etwas das ihnen die Kirche in Rom seit Ewigkeiten vorhielt-, präsentierte sich das einstige Dorf, das
sich schnell einen Namen zu machen wusste, bald in friedlich prächtigem, wenn auch bescheidenem Glanz. Tugenden wie Sparsamkeit, Ehrlichkeit und die Besorgnis um das Wohlergehen aller Bürger hatten sich die Bürger auf die Fahne geschrieben.
Aus allen Windrichtungen kamen sie. Jene, die in anderen Teilen dieser Welt nicht das gefunden hatten, was sie sich erhofft hatten. Frieden und bescheidenen Wohlstand behütet von einer Regierung, die darauf achtete, dass niemand zu kurz kam.
Frieden und den erhofften bescheidenen Wohlstand bekamen sie. In den unweit gelegenen Bergwerken war man auf Bernstein gestoßen, wofür sich weltweit Abnehmer fanden, sodass Arbeit im Übermaß vorhanden war. Die Landwirtschaft hatte sich dank des fruchtbaren Bodens zum zweiten wirtschaftlichen Standbein des Landes entwickelt. Bald wurden die Produkte des Landes zur begehrten Handelsware ob ihrer besonderen Qualität. Weder Hunger noch sonstige Not hatte die bescheidene
Nation jemals heimgesucht. Plagen, Krankheiten und Kriegswirren, waren zu Fremdwörtern verkommen. Wer hätte schon Interesse daran gehabt, mit einem Land Krieg zu führen, dass man an einem einzigen Tag durchqueren konnte?
So kam es, dass das einstige kleine Land bald aus allen Nähten platzte. Schnell, zu schnell hatte sich herumgesprochen das in diesem Land niemand Hunger zu leiden oder obdachlos zu sein hatte. Überall in dem kleinen Staat wurden Siedlungen gegründet, die sich regen Zulaufs erfreuten.
Trotz all dem war es dem Land gelungen, sich eine
Abgeschiedenheit zu bewahren, ein für sich selbst sein, dass stolz auf seine Errungenschaften war.
Doch waren die Vorzüge des Landes auch jenen zu Ohren gekommen, denen es in der Hauptsache darum ging, ihren eigenen Vorteil in allem zu sehen. Jene, denen weder der Sinn nach den Mühen stand, welche auch den braven Leuten von Prudencia nicht erspart geblieben war, um zu ihrem bescheidenen Wohlstand zu kommen, noch daran andere an ihren Errungenschaften teilhaben zu lassen. So kam es, dass nicht nur die Hauptstadt Prudencia bald zu einem begehrten Ankunftsziel von Einwanderern von überall her geworden war. Überall im Land siedelten sich Menschen aller Nationen an. Waren es anfangs Farmer und Handwerker allen Couleurs, die sich bald als die Säulen des kleinen Staates erwiesen, zog es nach und nach auch jene an, deren Bildung dazu beitrug das Land kulturell zu bereichern und es politisch, so auch international wenig beachtet, auf stabile soziale und wirtschaftliche Beine zu stellen.
Technische Errungenschaften wie das Internet wurden nur soweit verwendet und geduldet wie es dem Land und den Bürgern zugutekam und guttat. Neuankömmlinge wähnten sich in eine andere Zeit versetzt und waren alsbald verwundert, wie glücklich, friedlich und gesund sich das Land trotz alledem präsentierte. Doch zeigte sich bald, dass es nicht alle gut mit ihnen meinten. Allen voran Unternehmen, die in der Hauptsache daran interessiert waren, sich die Ressourcen des Landes unter den Nagel zu reißen. So war es diesen schnell gelungen, unter dem Vorschicken von gerissenen Brokern, die in Scharen in das Land eingefallen waren, sich die einfach geformte Mentalität der biederen Nation zunutze zu machen. Wider den Warnungen jener, die die Gefahr hatten kommen sehen, als Beute von Raubtieren zu enden, schien es den Landesvätern unmöglich sich dem vehementen Eindringen derjenigen, die das Land ausbeuteten, etwas entgegensetzen zu können. Bald zeigten sich Risse, in der einst so harmonisch orientierten Verwaltung des Landes. Risse die tiefer wurden, als sich die wirtschaftliche Lage des Landes zu verschlechtern begann. Risse, die von jenen genutzt wurden, die an den verbliebenen Ressourcen mehr interessiert waren, denn an der Stabilität des Landes und damit am Wohlergehen desselben.
Zwei Lager hatten sich gebildet die in ihren Auffassungen, wie das Land zu führen sei, nicht unterschiedlicher hätte sein können. Hingen die einen jener Zeit nach, in denen christlich-humanistische Werte als das Höchste galten und von denen sie nicht gewillt waren, abzulassen, waren andere weniger christlich orientierte Gruppen, daran interessiert den marktwirtschaftlichen Gedanken oberste Gültigkeit zu verschaffen.
Über Jahrzehnte war es der ersten Gruppe gelungen, die Verwaltung des Landes in ihren Händen zu halten, indem sie die Bevölkerung davon überzeugten, dass jene Gedanken, jenes Handeln, das dem Land von Beginn an gedient hatte, als alleiniges Gut taugen würde.
Bis zu jener Zeit, als sich mehr und mehr Menschen des Landes mit der Tatsache konfrontiert sahen, dass christliches Gedankengut allein sie nicht satt machen würde. Dass die Dächer ihrer Häuser damit nicht gedeckt werden konnten.
Gehälter von Staatsbediensteten wurden eingefroren oder nur teilweise ausbezahlt. Das Gesundheitssystem des Landes war nur mehr für jene zugänglich, die es sich leisten konnten.
War das Land vorher noch stolz darauf, jedem ein Dach über den Kopf und Essen auf den Tisch stellen zu können, sah es sich alsbald gezwungen, den Gürtel enger zu schnallen. Bis man am letzten Loch desselben angekommen war und sich nichts mehr enger hätte schnallen lassen.
Jüngere wanderten ab, gingen in Länder, in denen sie sich ein besseres Leben erhofften. Zurück blieben jene, die sich nicht vorstellen konnten nochmals von vorne, von neuem beginnen zu können, oder es nicht wollten. Dass wenig Verbliebene das noch produziert und abgebaut wurde, entsprach nach und nach nicht mehr dem Qualitätsstandard der Abnehmer.
Die Ackerböden, die über viele Jahre hinweg, reichste Ernte garantiert hatten, hatten aufgehört, fruchtbar zu sein. Zurück blieben Böden, die kaum das Nötigste hergaben, um das eigene Volk zu ernähren.
Innerhalb des obersten Rates des Landes begannen sich Kräfte, die den christlich-humanistischen Grundgedanken als gescheitert ansahen daran, eine ganz andere Lösung ins Auge zu fassen.
Der oberste Rat trat seit seiner Gründung, auch an diesem Dienstagnachmittag zusammen. Die Unruhe war in dem kleinen Versammlungssaal mit Händen zu greifen. Allen 14 Anwesenden stand im Gesicht geschrieben, dass sie sich auch von dieser Versammlung nicht viel erwarteten. 14 Anwesende, die das Amt von ihren
Vorvätern geerbt hatten. So schrieb es das Gesetz vor.
Nur, wenn eine der Familien keine Kinder bekommen
hatte, ging dessen jeweiliger Platz an einen Außenstehenden über.
„Ich getraue mich, schon nicht mehr auf die Straße zu gehen“, sagte der momentane Vorsitzende des Rates, der alle 3 Jahre neu bestimmt werden musste.
„Die Gebäude in der Stadt verfallen zusehends, an allen
Ecken und Enden lungern Menschen herum. Unsere Lagerhäuser werden mit jedem Tag leerer, wenn in diesen überhaupt noch etwas ist, dass verteilt werden kann. Es ist kaum noch genug vorhanden, um die Ärmsten mit Lebensmitteln zu versorgen!“ Der Vorsitzende schüttelte betroffen den Kopf.
„Beim Herkommen habe ich Menschen gesehen, die in der
Mülltonne nach Essen gesucht haben.“
Die 13 anderen die sich um den abgeschabten Tisch befanden, der schon Generationen zuvor als Versammlungstisch gedient hatte sahen betroffen auf denselben, kratzten sich verlegen am Kinn oder wo es sie sonst noch juckte. Seife war mittlerweile zu einem seltenen Gut geworden.
„Wir müssen zu Mitteln kommen, die es uns gestatten das Land wiederaufzurichten“, fügte der Vorsitzende, Kleiner hinzu.
„Wir haben alle Ressourcen ausgeschöpft“, entgegnete Vizepräsident Bogwin der ihm gegenüber, am anderen Ende des Tisches saß.
„Kein Land dieser Erde ist gewillt, uns noch einen
Kredit zu gewähren“, sagte er mit leiser, kaum hörbarer Stimme. Zu sehr lastete auch auf ihm der Zustand des Landes und seiner Bevölkerung.
„Das, was wir noch aus den Bergwerken holen verwenden wir zur Abzahlung der Schulden“, ließ der Verantwortliche für Finanzen, Lampert hören. „Die Produkte aus der Landwirtschaft benötigen wir für unsere eigenen Leute so dass uns kaum etwas bleibt, um es auf dem internationalen Markt verkaufen zu können.
Und das ist kaum der Rede wert.“ Wieder wurde es still im Raum.
Was hätten sie auch sagen sollen? Seit Monaten hatte sich die Lage zugespitzt. Weitere Hilfe von außen, so hatten sie schmerzlich erfahren müssen, würde keine mehr eintreffen. Zu viel schuldete das Land jenen, die darauf gehofft hatten, dass sich bald wieder Ressourcen zum Ausschlachten finden würden. Eine Hoffnung, die sich nicht erfüllt hatte.
„Wir haben den Irrtum begangen, den fast alle Staaten auf diesem Planeten begangen haben. Wir haben zu viel ausgegeben. Haben alles und jeden unterstützt der an die Tür geklopft hat. Egal ob derjenige etwas dafür getan hat oder nicht. Nun sind wir am Ende“, sagte das Ratsmitglied Lampert.
„Und was hätten wir ihrer Meinung nach tun sollen,
Ratsmitglied Lampert“, fragte ihn Präsident Kleiner. „Hätten wir all jene ohne Obdach und Essen lassen sollen, die danach gefragt haben? Oder… sollen wir das jetzt tun?“ Die Frage hing im Raum wie eine Wolke, die sich nicht lichten wollte.
Nicht zum ersten Mal war diese Frage aufgeworfen worden.
„So wie ich das sehe“, meldete sich das 11 Ratsmitglied Hauptman zu Wort, „...sehe ich keine andere Möglichkeit als diese!“
Kleiner sah auf.
Ihm war dieser Mann zuwider. Schon wie sein Vater vor ihm hatte, er sich zunehmend als Stachel im Fleisch vieler anderer Ratsmitglieder entpuppt. Diese Familie, die wie die meisten der anderen Ratsmitgliedsfamilien auch, hatten ihren Sitz aufgrund von Erbnachfolge einen Platz im obersten Rat des Landes erhalten.
Schon frühzeitig hatten sich die Mitglieder dieser
Familie dem christlichen Grundgedanken als alleiniges Gut widersetzt. Hatten darin eine potenzielle Gefahr gesehen, die das Land eines Tages in den Abgrund führen würde. Nun, da das Land bereits mit einem Bein über diesem schwebte, fühlten sie sich in ihrer Meinung bestätigt. Eine Meinung die auch andere Mitglieder, zu teilen begann. Zuerst stumm, dann mit leisen vorsichtigen Einwänden hatten sich andere dessen Ansichten angeschlossen. Nun, da das Land dabei war auch noch den letzten Tropfen lebendigen Blutes zu verlieren, wurden diese Stimmen zusehends lauter.
Doch noch gab es Ratsmitglieder, die sich gegen deren Idee mit der ihnen verbliebenen Energie stemmten. „Dann sagen sie uns doch mal, wie das vonstattengehen soll“, forderte Kleiner ihn auf.
„Die Gewinne, die wir aus dem Bergbau und der Landwirtschaft ziehen, reichen doch ohnehin kaum aus, um die Leute nicht auf den Straßen verhungern zu lassen. Was macht es da für einen Unterschied, wenn wir und auch um jene kümmern die es für sich selbst nicht mehr schaffen?“
Kleiners Stimme war zunehmend lauter geworden. Etwas, das seit seinem Antritt höchst selten passiert war. Er wusste, worauf dieser Mann aus war. Wieder wollte er seiner Meinung Nachdruck verleihen, dass nur jene das Recht haben sollten von den Gütern des Landes zu profitieren, die auch dafür Leistung erbrachten. Alle anderen waren in seinen Augen nur Schmarotzer, die den christlichen Grundgedanken mit Füßen traten, ihn ausnutzten.
Die gegenwärtige Situation, die nun schon geraumer Zeit anhielt diente ihm als Ansporn seiner Meinung mehr Gewicht zu verleihen.
„Als wenn dir das Christ-Sein jemals etwas bedeutet hätte“, dachte sich Kleiner, der sich schwer zurückhalten musste, um den Gedanken nicht laut auszusprechen.
Hauptman, Taktiker der er war, wartete geduldig ab, bis sich die Stimmung durch das momentane Aufbrausen Kleiners wieder beruhigt hatte.
„Fest steht, dass unser Land, unsere Bürger nicht in der Situation wären, in der sie nun mal sind, wenn wir nicht jeden und alle seit Ewigkeiten mit durchgefüttert hätten.“
Sein Blick war starr auf Kleiner gerichtet, dem das Lautwerden zu viel Energie gekostet hatte. Er fand gerade noch Kraft dafür, den Einwand Hauptmans mit einem müden Winken abzutun.
Wie lange würde er sich noch gegen diesen Hauptman und seinen Ideen behaupten können? Wie lange würde er noch die Energie haben, sich gegen diesen aufzulehnen? Er wusste, dass auch manch andere der Ratsmitglieder den Ideen Hauptmans nicht mehr ganz so entschlossen entgegentraten, wie sie es zu Beginn getan hatten. Kleiner sah, den Blick den Hauptman ihm zuwarf. Dessen spöttische Kälte, die in seinen Augen lag. So sehr er sich auch darum bemühte und es ihm leid um die Energie tat, es musste gesagt werden.
„Wir alle wissen, welche Gedenken, welche ungeheuerlichen Gedanken sie mit sich herumtragen. Doch seien sie versichert, dass ich keinen Mord an auch nur einem unserer Bürger zulassen werde!“
„Aber, aber, wer wird denn gleich von Mord sprechen“, sagte Hauptman mit gespielt belustigter Stimme. Hauptman lehnte sich leger in seinem wackeligen Stuhl zurück. Jenen den er hasste und von dem er überzeugt war, dass man ihm diesen bewusst überlassen hatte. Schon immer sah er sich seiner Meinung nach diesen kleinen unwürdigen Schikanen der anderen ausgesetzt. Demütigungen, die er nur deswegen zu erdulden hatte, weil er sich nicht damit abfinden wollte das dieses Land, sein Land, von ein paar Weichlingen in den Ruin getrieben wurde. Von Weichlingen, die sich Idealen verschrieben hatten, die jenseits aller Vernunft lagen. Von schwachen Männern, die es nicht verdient hatten, diesem Rat anzugehören!
Wie sehr er diesen Rat doch hasste. Dessen Unvernunft, dessen ineffektive Art, das Land zu führen. „Auf christlichen Werten basierend!“ Wie oft hatte er diesen Satz mit Verachtung ausgespien? Unwürdig waren sie all diese Narren, die sich erdreisteten, jedem daher gelaufenen Schmarotzer Obdach und Nahrung zu geben. Diesen unproduktiven Abschaum, welche zu nichts anderem taugten als der Allgemeinheit zur Last zu fallen!
Hass, der sich über viele Jahre in ihm aufgestaut hatte, machte sich wieder in ihm breit. Aber auch diesmal wusste er diesen Hass tief in sich zu verbergen. Er musste nur warten. Warten bis diese Narren an diesem Tisch einsahen, dass sein Weg der einzige richtige war, um das Land zu retten.
Sein Land!
Vielleicht war das, was dieser Hauptman vorschlug – wenn er es bisher auch noch nie direkt ausgesprochen hatte, tatsächlich die einzige Lösung, um wenigstens den jämmerlichen Rest dieses einstig schönen und friedlichen Landes am Leben zu erhalten.
„Was denkst du nur“, fragte Kleiner sich selbst.
„Wie kommst du nur auf den Gedanken …?“
Er spürte, wie die Scham ihm das Gesicht heiß werden ließ.
Doch geschehen musste etwas. Hauptman hatte recht. Ihre kleine einst so zufriedene kleine Nation war kurz vor dem Zugrundegehen. Allerorts sah man nichts als Zerfall. Menschen, die Hunger litten, Kinder, die das Lachen verlernt hatten.
Mit sich selbst hadernd, schlurfte Bogwin seinem Zuhause entgegen.
Selbst in seinem eigenen Leben, dass seiner Familie hatte sich so etwas wie Verzweiflung breitgemacht. Etwas, dass er als Oberhaupt der Familie und als Mitglied des obersten Rates nicht zulassen konnte. Doch musste er es sich selbst eingestehen, dass es auch für ihn immer schwerer wurde, Haltung zu bewahren. Aber wie lange noch. Wie lange noch würde es ihm gelingen? „Ich muss morgen mit Lampert reden“, sagte er sich, als er in die kleine Straße einbog, die zu seinem Haus führte. „Etwas muss geschehen. Etwas muss sich ändern, bevor alles zu spät ist.“
Mit diesem Gedanken kam er vor seinem Haus an. Langsam steckte er den Schlüssel ins Schloss, drehte den Schlüssel zweimal um und trat in den stillen dunklen Flur. Es war bereits spät. Verwundert hatte er festgestellt, dass es bereits nach 21 Uhr war, als er das Ratsgebäude verlassen hatte. Mit leisen Schritten ging er den Flur entlang. Er lauschte in das Haus hinein.
War da etwas?
Er musste sich verhört haben.
Seine Frau schien bereits im Bett zu sein.
„Gut“, dachte er sich.
Als er sich von seinen Schuhen und seiner Jacke befreit hatte, ging er in die Küche. Ihm war nach einem Glas Wein. Einer jener Selbstverständlichkeiten, die in diesen Tagen zu einem Luxus verkommen waren. Vorsichtig nahm er ein Glas aus dem Schrank, darauf achtend keinen Lärm zu machen, und goss sich ein halbes Glas davon ein.
Der Wein beruhigte ihn. Doch nicht so sehr, als das er behaupten könnte, dass es gut wäre.
Nein, etwas musste geschehen.
„Morgen“, sagte er sich. „Morgen rede ich mich
Lampert.“
„Er weiß sicher Rat!“
Stumm saß Bogwin seinem Freund und Amtskollegen in dessen Büro gegenüber. In diesem Büro, das vor nicht allzu langer Zeit vor Geschäftigkeit gebebt hatte. Doch nun, inmitten dieser Situation, in der sich das Land befand, schien der Raum, etwas von der Befangenheit, die im ganzen Land herrschte, abbekommen zu haben. Selbst das Licht, das durch die bunten Mosaikfenster fiel und das dem Raum einst eine lebendige Fröhlichkeit verliehen hatte, konnte nichts mehr dazu beitragen dem einstig gediegenen Raum seine Lebendigkeit zurückzugeben.
Die Gemütlichkeit, die dem Raum einst zu eigen war, war verflogen. Die alten aus edlem Eichenholz und nach Maß angefertigten Möbel atmeten düstere Stimmung.
Die Tatsache, dass eine Frage im Raum stand, ein Gedanke, den ihr Kollege Hauptman schon vor langer Zeit aufgeworfen hatte, erfüllte den Raum.
Beide gehörten sie zu jenen, die mit der
Ungeheuerlichkeit des angestimmten Gedankens Hauptmans in Wahrheit nichts zu tun haben wollten. Diese Idee, die Hauptman als die einzige und wahre Lösung dargestellt hatte. Allein der Gedanke daran verursachte ihnen Übelkeit. Doch, was war, wenn dieser Gedanke, diese Idee, so ungeheuerlich sie auch war, tatsächlich die einzige Lösung war?
„Ich weiß nicht mehr was ich denken soll“, gestand Bogwin seinem Freund.
Er schüttelte den Kopf, suchte nach Worten, die er verwenden konnte.
„Seit der Gründung unseres Landes haben wir es uns zur
Aufgabe gemacht, einem christlichen Leitbild zu folgen. Einem das besagt das niemand Armut, Not und Hunger zu leiden haben wird. Auf diesen Gedanken ist unsere ganze Nation aufgebaut. Und nun sitzen wir hier und denken über ..., nach!“ Er suchte nach einem Wort, das er verwenden konnte. Ein Wort, das die Tatsache weniger abscheulich klingen lassen würde, fand aber keines.
Lampert hob seine Hand, wollte einen Einwand vorbringen.
„Nein, nein lassen sie nur lieber Freund. Nichts anderes als eine menschenunwürdige Abscheulichkeit wäre es. Oder wie sollten wir es nennen, wenn wir diejenige die, nur weil sie nichts mehr zur Produktivität des Landes beitragen können, das Recht zu leben versagen würden!“
Beiden schien es eine endlos lange Zeit zu sein, in der sie ein weiteres Wort zu sagen wussten.
„Hauptman meint, dass dies die einzige Lösung sei, um das Land zu retten“, sagte Lampert.
„Hauptman und dessen ganze Sippschaft waren von jeher ein Haufen profitgeiler Aasgeier“, entgegnete Bogwin empört.
„Ich frage mich heute, wie es ihnen jemals gelingen konnte einen Sitz im Rat zu bekommen.“ „Wie wir beide wissen, steht ihnen ein Platz im obersten Rat aufgrund der Erbnachfolge zu, welches in unserer Verfassung verankert ist.“
„Ja, ich weiß“, entgegnete Lampert. „Und trotzdem …!“ Bogwin stand auf, ging an eines der Fenster, verschränkte seine Hände hinter dem Rücken und sah auf die Straße.
Lampert konnte nur zu gut sehen, dass sein Freund mit jeder Sekunde angespannter wurde.
„Fest steht, dass etwas geschehen muss bevor Leute sich wegen eines Stück Brotes gegenseitig umbringen“, meinte Bogwin.
Wieder schüttelte er den Kopf.
„Wie konnte es nur so weit kommen“, fragte er in hörbar erschüttertem Ton.
„Wie sie wissen waren auch meine Vorfahren unter denen, die die Konstitution des Landes mitgestaltet haben.
Auch meine Ahnen haben sich den christliche-humanitären
Werten verschrieben, worauf unser Land aufgebaut ist.“ „Ja, natürlich weiß ich das“, antwortete Bogwin ihm.
„Sonst säßen wir jetzt nicht hier zusammen.“ Er klang ungehalten.
Lampert ließ sich davon nicht beirren. Jetzt war keine Zeit, um sich mit Kleinigkeiten oder einem verwundeten Ego aufzuhalten.
„Ich denke, wir müssen einfach zugeben, dass wir es mit unseren christlichen Werten zu weit getrieben haben. Viele sind in unser Land gekommen, haben wenig oder nichts, zum Erhalt oder dem Aufbau beigetragen und dennoch die Vorteile zu genießen gewusst. Etwas, wofür wir nun die Rechnung serviert bekommen. Sie haben uns ausgeblutet, ausgenutzt!“ Bogwin war im Laufe seiner Rede lauter geworden. Das Thema setzte ihm zu, erregte ihn und sorgte dafür, dass er, der gemeinhin dafür bekannt war immer ruhigen Blutes zu sein, in Zorn geriet.
Er drehte sich zu ihm um, sah ihn verwundert an. Beschwichtigend hob er die Hand.
„Immer mit der Ruhe“, sagte Lampert. „Es bringt nichts, wenn wir uns gegenseitig aufreiben!“
Bogwin setzte sich wieder, atmete tief durch und sagte nach einer kleinen Weile.
„Es stimmt schon, was unser werter Amtskollege sagt“, meinte Bogwin.
„Ein nicht geringer Teil der Bevölkerung, die Pensionäre, jene die aus gewissen gesundheitlichen Gründen einer geregelten Beschäftigung nicht mehr nachgehen können, sie alle kosten unserem Land viel, ja sehr viel Geld. Gleichzeitig verfügen wir nicht über die Einnahmen, die wir benötigen, um weiterhin für alle sorgen zu können. Wenn wir nicht wollen, dass Menschen sich, wie sie richtig gesagt haben, sich wegen eines Stück Brotes gegenseitig umbringen, müssen wir Schritte setzen die es uns erlauben, jene am Leben zu erhalten die dazu in der Lage sind, das Land wiederaufzubauen.“
Bogwin sah seinen Freund und Amtskollegen an. Lampert kannte seinen Freund nur zu gut. Er wusste, dass er zu jenen gehörte die abwarteten, die sehen wollten, wie das von ihm gesagte ankommen würde. Schließlich war es Lampert, der wieder zu sprechen begann. Dieser sah zu Boden, so als würde er dort auf den Dielen jene Worte suchen, die er gebrauchen konnte. „Dann müssen wir wohl das tun, was unser Kollege zwar nie ausgesprochen, wir aber trotzdem alle verstanden haben“, sagte Bogwin.
Kaum hatte er den Satz beendet, machte sich eine Kälte im Raum bemerkbar, die beide frösteln ließ.
„Ich kann nicht glauben, dass wir wirklich hier sitzen und uns erdreisten uns als Gott aufzuspielen. Wer gibt und das Recht darüber zu entscheiden, wer leben und wer sterben soll?“
Kaum hatte er den Satz beendet, wurde die Atmosphäre im Raum noch düsterer, als sie ohnehin schon war.
Betroffen sahen sie zu Boden, schämten sich ihrer Gedanken und Worte.
„Dennoch, wir müssen uns eingestehen, dass wir Fehler begangen haben“, fuhr Bogwin fort. „Fehler, die vielen Menschen das Leben kosten wird, wenn wir nicht etwas unternehmen.“
„Schon jetzt, leiden Menschen Hunger. Viele können sich nicht mehr das Nötigste leisten und wir, die wir einen Eid geschworen haben, sich um diese Menschen zu kümmern, sind dazu nicht mehr in der Lage.“
„Wie also sollen wir das Problem angehen“, fragte Lampert.
Bogwin schüttelte den Kopf.
Schließlich sagte er: „Wir sollten uns zuerst mit
Hauptman treffen. „Vielleicht hat er ja wirklich eine Lösung parat. Eine, die ganz anders aussieht, als wie wir sie verstanden haben.“
Wieder fixierte er den Dielenboden zu seinen Füßen. „Ich denke, wir wissen beide, was er gemeint hat“, entgegnete Lampert.
Bogwin blieb eine Reaktion auf das Gesagte schuldig. „Fest steht, dass wir etwas unternehmen müssen. Ich schicke ihm eine Nachricht und lass ihn wissen, dass wir uns mit ihm unterhalten wollen.“
„Dann muss es wohl sein“, sagte Lampert seufzend.
Lampert sah, dass sein Kollege begonnen hatte, einen Brief aufzusetzen.
So weit war es schon gekommen. Nun waren sie wieder beim Briefe schreiben angekommen. „Wie im Mittelalter“, dachte sich Bogwin spöttisch.
Erschöpft lehnte dieser sich danach zurück, schloss die
Augen und sagte: „Dafür kommen wir in die Hölle!“