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Czytaj książkę: «Friedrich v. Bodelschwingh: Ein Lebensbild», strona 6

Czcionka:

In dem Augenblick, wo ich diese einfachen Worte las, war es plötzlich, als ob mir in bezug auf meinen Lebensberuf die Schuppen von den Augen fielen. Ich hatte bis dahin niemals auch nur einen leisen Gedanken in meinem Herzen gehabt, noch hatten es weder Vater noch Mutter noch irgend ein anderer Mensch mir je von fern nahegelegt, daß ich Pastor werden möchte. In diesem Augenblick aber wurde es mir so vollständig gewiß, daß mir Gott diesen Beruf geschenkt habe, daß auch kein leiser Zweifel von der Stunde an über mich kam, und ich konnte Gott mit Freudentränen dafür danken.

Doch teilte ich zunächst keinem Menschen etwas von meiner Freude mit, auch nicht meiner Mutter, auch nicht meinem Freunde Mellin, sondern nahm mir vor, mir von Gott selbst weitere Fingerzeige geben zu lassen. Daran fehlte es dann auch nicht. Im Anschluß an jenes Büchlein hatten sich meine Gedanken zunächst auf die Arbeit unter den Heiden gerichtet. Dahin ging meine Sehnsucht.

Inzwischen war die Erntezeit hereingebrochen. Es war eine gewaltige Ernte, die in den fünf großen Gütern einzubringen war. Es trat anhaltende Hitze ein. Das Korn reifte schnell und gleichzeitig, sodaß es auch möglichst schnell hintereinander geerntet werden mußte. Es wurde mir sehr bange, wo ich die Arbeiter für die Ernte herbekommen sollte, damit sie nicht verdürbe.

Eines Tages hatte ich mich schon mit Tagesanbruch auf mein Pferd gesetzt, um in einem Nachbardorf Arbeiter für meine Ernte zu werben. Als ich damit fertig war, ritt ich hinüber nach dem kleinen Städtchen Bublitz, wo, wie ich wußte, eben ein Missionsfest gefeiert wurde. Die Feier neigte sich schon ihrem Ende zu. Ich band mein Pferd draußen an und trat, um doch noch einiges zu hören, in die Kirche ein. Ich merkte gleich, daß der Pastor den Text hatte: „Die Ernte ist groß, aber der Arbeiter sind wenige; bittet den Herrn der Ernte, daß er Arbeiter in seine Ernte sende!” Herzandringend schilderte er die Not hinsiechender, sterbender, verderbender Menschenseelen und des Herrn Jammer über sie, und zuletzt fragte er mit großem Ernst, ob denn unter der ganzen Gemeinde, unter allen, die im Gehorsam gegen den Befehl Christi um Arbeiter in seine Ernte bäten, nicht auch ein solcher wäre, der sich selbst für diesen Dienst stellen wollte. Da hieß es laut in mir: „Ja, ja, ich will gern kommen.” Fröhlich, ja, frohlockend jagte ich heimwärts, um zunächst die irdische Erntearbeit in Gang zu bringen.

In fliegender Eile gingen nun die letzten Monate meiner Gramenzer Zeit zu Ende. Mein Freund Ernst Senfft kam, um mich abzulösen. Die äußeren Verhältnisse hatten sich auch weiterhin entschieden gebessert. So konnte ich, da auch einige tüchtige Wirtschaftsinspektoren gefunden waren, meinem Freunde die Aufgabe getrost in die Hand legen. Am 11. Oktober nachts schnürte ich mein Bündel. Das Andachtsbuch meiner Eltern, der liebe Bogatzky, war inzwischen auch mein Freund geworden, und es war mir eine nicht geringe Stärkung meines Glaubens, was mir Bogatzky an diesem Abend mit auf den Weg gab, Apostelgeschichte 26, 17: „Ich will dich erretten von dem Volk und von den Heiden, unter welche ich dich jetzt sende.”

Als Student

1. In Basel. 1854–56

Die kleine Schrift, die die große Entscheidung für Bodelschwingh gebracht hatte, war aus Basel gekommen. Als es sich nun für den Beginn seiner theologischen Studien um die Wahl einer Universität handelte, fühlte er sein ganzes Herz nach Basel gerichtet. Da er aber nicht lediglich einem Gefühl folgen wollte, so fragte er in Berlin seinen alten Seelsorger Snethlage um Rat. „Gehen Sie nach Basel!” sagte dieser, schickte ihn aber zu seinem Kollegen, dem Domprediger Hoffmann, der bis vor kurzem Missionsinspektor in Basel gewesen war, um auch dessen Meinung einzuholen. Auch Hoffmann sagte: „Gehen Sie nach Basel!” Und so sah er seinen Weg entschieden.

Er eilte zur Mutter. Sie stimmte der Wendung, die sein Lebensweg genommen hatte, aus tiefstem Herzen zu und sah darin die Erfüllung ihres verborgenen Herzenswunsches. Zugleich entdeckte sie ihrem Sohn, daß auch sein Vater, ohne es je seinem Kinde auszusprechen, die Hoffnung gehegt habe, daß einer seiner Söhne einmal das Studium der Theologie ergreifen möchte. Nur Ernst von Senfft war aufs tiefste erschüttert. Er hatte die geniale Begabung seines Freundes für das Praktische zur Genüge erkannt, und nun beschwor er ihn, bei dem alten Berufe zu bleiben. Er war überzeugt, daß der Entschluß seines Freundes nichts als das Aufwallen einer religiösen Stimmung sei, die ihn nur auf Abwege bringen könne.

Aber die Stimme des Freundes konnte nichts mehr ausrichten. Wichtiger als seine eigene Entscheidung war ihm die Gewißheit, daß Gott über ihn entschieden hatte. Und wenn es auch Jahre dauerte, so erlebte er es doch schließlich bei seinem Freunde Senfft, daß, wenn jemandes Wege Gott gefallen, er nicht nur seine Feinde, sondern erst recht seine Freunde mit ihm zufrieden macht.

So machte sich der im 24. Jahre stehende Student über Frankfurt a. M., wo sein Bruder Ernst stand, nach Basel auf.

„Der Aufenthalt bei meinem Bruder Ernst”, so heißt es in den Erinnerungen weiter, „brachte mir eine besondere Erquickung. Ich war ja so ganz mit ihm aufgewachsen, so viele Jahre lang hatten wir ein Wohn- und Schlafzimmer geteilt, so viele Wege hatten wir miteinander zur Schule gemacht. Aber nun erst konnten wir unsere Herzen ganz gegeneinander aufschließen. Ernst war von einem unbeschreiblich kindlichen Zutrauen zu mir. Wir gingen in der Nacht am Ufer des Mains auf und ab, und er erzählte mir von den schweren Kämpfen, die er habe, um seinem Versprechen nicht untreu zu werden, das er zusammen mit seinem Freunde von Oidtmann Gott gegeben hatte, daß sie in ihrem Soldatenleben nichts tun wollten, was ihr Gewissen befleckte. Er bat mich brüderlich und herzlich, ihn in diesem schweren Glaubenskampf zu unterstützen und gemeinsame Sache mit ihm zu machen. Er sagte mir auch, daß es ihm von ganz besonderem Segen sei, den lieben Vater, der an ihm, seinem Benjamin, wie er ihn zu nennen pflegte, mehr noch als an seinen andern Kindern gehangen hatte, im Himmel zu wissen; denn er könne sich vorstellen, daß der Vater erfahre, wie er, sein Sohn, auf Erden wandele. Und dies sei ihm eine Stärkung im guten Kampf. Auch bat er mich, ihm von Basel gute Schriften zu schicken, um mit ihnen den ihm unterstellten Soldaten zu dienen.

Am andern Tage – es war am 6. November 1854 – langte ich abends spät in Basel an, das mir nun für anderthalb Jahre eine ganz besonders reiche Segensstätte werden sollte. Ich stieg in einem kleinen Gasthof ab, der dicht am Rhein lag. Hier wurde ich gleich freudig überrascht, als ich auf meinem Nachttisch eine Bibel liegen fand, die sich als Eigentum des Wirtshauses herausstellte, und als ich von der alten Magd, die das Zimmer bediente, erfuhr, daß der Wirt in jedes Zimmer eine Bibel lege. Das war mir bis dahin auf meiner Pilgerreise noch nicht vorgekommen.

Ich fand auf dem Petersplatz bei ein paar alten Fräulein ein gar freundliches Zimmer, das ich auch die anderthalb Jahre nicht wieder verlassen habe. Die beiden alten Damen hatten eine württembergische Magd, die auch schon bei Jahren war. Sie hieß Rösli Schwarz. Es war für mich, der ich nach ernster Sammlung und stillem Studium verlangte, eine große Wohltat, durch diese Magd alle Mahlzeiten im Hause bekommen zu können, auch mein Mittagbrot. Ich hatte aber auch außerdem manchen Segen durch diese treue Person. Sie hatte eine Schwester, die an einen Missionar in Afrika verheiratet war, und sie trug die Heidenmission, die ja auch mir so sehr anlag, unablässig auf betendem Herzen. Sie war eine von den Verborgenen und Stillen im Lande, durch die Gott gewiß nicht die kleinsten Taten tut.

So oft eine frohe Nachricht aus den Heidenländern kam, konnte ich es ihr gleich anmerken; denn dann glänzte ihr Angesicht vor Freude. So oft aber auf dem Missionsfelde etwas Schmerzliches vorgefallen war, ging sie gebeugt einher als eine, die selbst an solcher Niederlage mit schuld war, weil sie, wie sie sich selbst anklagte, im Wachen und Beten nachgelassen habe. Es ist selbstverständlich, daß ich bei solchem Herzenszustande an ihr eine mütterliche Pflegerin hatte, und bis auf diese Stunde (1887), wo sie als eine bald 80 jährige Pfründnerin zu Fellbach bei Stuttgart lebt, bekomme ich von ihr alljährlich die rührendsten Gaben und Liebeszeichen. Durch sie wurde ich auch mit manchen Württemberger Zuständen näher bekannt, namentlich mit dem lieben Korntal, wo sie längere Zeit ihres Lebens gewohnt hatte.

Ebenso angenehm wie mein kleines Zimmer und meine häusliche Verpflegung war auch die Umgebung meiner Wohnung. Dicht vor meinem Fenster ragten die schönen hohen Ulmen und Linden des großen Petersplatzes empor. An der linken Seite, von der die Treppe nach der Unterstadt hinabführte, lag die Peterskirche, an der der würdige Pfarrer La Roche stand. Schaute ich rechts zu meinem Fenster hinaus, so begrenzte hier der alte Wall meine Aussicht. Ich brauchte aber nur den Kamm des Walles zu übersteigen, so sah ich auf der andern Seite des Wallgrabens den großen Friedhof der Stadt liegen und darüber hinweg die Vogesen. Wenn ich quer über den Petersplatz ging, so hatte ich von der andern Seite des Platzes aus nur noch ein kurzes Gäßchen zu durchschreiten, dann stand ich an dem schönsten Tor der Stadt, dem alten Spalentor, vor dem jetzt das neue Missionshaus liegt. Damals war jenseits des Tores noch freies Feld. So suchte ich mir dort in der Frühlings- und Herbstzeit jeden Morgen zwischen den grünen Matten die schönsten Wege auf, um in der Stille ein Kapitel in meinem griechischen Neuen Testament zu lesen. Da habe ich unbeschreiblich köstliche Feierstunden zugebracht.

Die alte Universität von Basel lag dicht über dem Rhein, oberhalb der Rheinbrücke. Die Hörsäle blickten fast sämtlich vom steilen Abhang herunter in den lieben Rheinstrom hinein, der in einem prachtvollen Bogen die Stadt durchströmt. Ein wenig oberhalb der Universität liegt das herrliche Münster von Basel, aus rotem Sandstein gebaut, in das ich oft und gern eintrat und in dem ich manche wertvolle Predigt gehört habe.

Es war damals gute Zeit in Basel, so gut, wie sie vorher und nachher Studenten vielleicht kaum erlebt haben. Ein kleiner Kreis frommer Männer hatte seit längerer Zeit aus freiwilligen Mitteln dafür gesorgt, daß immer ein entschieden biblischer Theologe an der Universität angestellt war. Als Nachfolger des trefflichen Beck, der nach Tübingen gegangen war, stand damals Professor Auberlen in seiner vollen Liebesglut. Er war einer von denen, die, wie Woltersdorf und Hofacker, ihre Kraft im Dienste ihres Herrn verzehrten. Denn nur bis in den Anfang seiner dreißiger Jahre hat er seine Pilgerschaft geführt, und man merkte es ihm an, daß er seinen Lehrerberuf nahe vor den Toren Jerusalems trieb. Unangetastet von allen kritischen Grübeleien, ließ er die ganze Schrift von Anfang bis zu Ende in herzlichster Freude stehen, wie sie stand. Er hatte eine ungemein einfältige biblische Belesenheit, und seine frischen, warmen Vorträge fanden lebendigen Widerhall in den Herzen seiner Zuhörer.

Aber als entschlossener Freund biblischer einfältiger Theologie stand er nicht einsam da. Da war unser lieber Professor Joh. Riggenbach, der vorher während seines neunjährigen Pfarramtes sich auf dem Boden der Praxis aus den Irrgängen des Rationalismus zum fröhlichen Glauben durchgerungen hatte, eine rechte Johannesnatur, nicht streitbar, aber reich an Liebe und Demut. Da war der alte Preiswerk, unser Hebräer, den wir Levi nannten. (Da ich auf dem Gymnasium kein Hebräisch getrieben hatte, so wurde ich ihm zu besonderem Dank verpflichtet, weil er mich fast allein in die hebräische Grammatik einführte.) Er war neben seiner Professur Prediger an St. Leonhard und predigte damals stets über das Alte Testament, kurz und kernig und immer so, daß er zum Schluß mit wenigen Worten von der Weissagung auf die Erfüllung hinwies und aus dem Schatten des Alten Bundes in das Licht und die Helligkeit des Neuen Testamentes eintrat. Da war Hagenbach, der ausgezeichnete Kirchenhistoriker, und schließlich der Lizentiat Stockmeyer, später Antistes der Baseler Kirche, dessen scharfsinniger und gewissenhafter Auslegung paulinischer Briefe ich manches verdanke.

Außerdem war gerade damals ein junger Philosoph Steffensen aus Kiel nach Basel gekommen, fast noch ein Jüngling mit wallendem Haar und ausdrucksvollem, schönem Gesicht. Er war von seinem Beruf durch und durch ergriffen und trug die Geschichte der Philosophie mit einer Glut der Begeisterung vor, daß man aus den verschiedenen Fakultäten in sein Kolleg lief. Dabei hatte er eine prachtvolle Diktion, sprach völlig frei und oft mit solcher Anstrengung, daß er am Schluß ganz erschöpft war. Doch hatte ihn keineswegs seine Philosophie so berückt, daß er sich nicht hätte gefangen geben können unter den Gehorsam des Glaubens. Mit einigen von uns ging er gelegentlich spazieren, wobei wir über dies und jenes Problem disputierten.

Aber wieviel gesunde Speise damals auch die Universität bot, noch lieber war mir das Missionshaus. Auf die Fürsprache von Hoffmann in Berlin, dem früheren Missionsinspektor, war es mir gestattet worden, an dem Unterricht der Missionszöglinge teilzunehmen. Da ging es dann freilich weniger gelehrt, aber doch noch inniger und zutraulicher zu als auf der Universität. Es war besonders der Pfarrer Geß, später Generalsuperintendent in Posen, der uns mit seiner Tiefe und Einfachheit in die Heilige Schrift einführte. Wir lasen das Alte und Neue Testament im Urtext, und zwar so, daß wir nicht nur selbst übersetzten, sondern auch selbst auszulegen versuchten, Geß uns aber verbesserte.

Später nahm ich an den Predigtübungen teil, die Inspektor Josenhans leitete. Aber auch zu allen andern Gelegenheiten stand mir das Missionshaus offen. Besonders lieb waren mir immer die Abschiedsfeiern der ausziehenden Missionare. Ich lernte hier mit steigender Freude die Seligkeit eines Dienstes in der Nachfolge Christi kennen, in der man um seinetwillen Vater und Mutter, Vaterland und Freundschaft verlassen kann und dabei in der Gewißheit eines beständigen Beisammenseins vor seinem Angesicht kurze irdische Scheidestunden nicht zu achten braucht. Wenn ich an solche Feiern und überhaupt namentlich an meine Sonntage im lieben Basel denke, so fällt mir ein, daß ich oft am Abend so voll Freude über alles Erlebte war, daß ich mit Jauchzen und Springen in meine Wohnung eilte und über dem, was Gott schon auf Erden schenkt, manchmal in der Nacht vor Freude nicht schlafen konnte.

Unter denen, die zu dieser meiner Freude beitrugen, steht mir besonders das Angesicht des lieben alten Missionars Graf Zaremba vor Augen. Wir pflegten wohl zu sagen, daß, wenn man ihn ansehe, man unmittelbar in den Himmel hineinsehe. Sodann war es Dr. Ostertag, der Bibelmann, der, schon an seinen Augen erblindend, sich doch noch am Unterricht der Missionszöglinge beteiligte und mit seinen köstlichen Predigten viel dazu beitrug, daß uns die Augen aufgeschlossen wurden für die Herrlichkeiten des Reiches Gottes. Unter den Lehrern am Missionshaus war auch noch ein junger Kandidat Haug, bei dem ich zwar keinen Unterricht hatte, der mich aber oft aufsuchte und mit mir spazieren ging. Einmal an einem Pfingstmorgen sagte er mir: „Heute vor vier Jahren habe ich mein Augenlicht wiederbekommen, und zwar auf das Gebet des lieben Pfarrers Blumhardt.” Durch Haug wurde ich auf solche Weise zuerst auf Blumhardt aufmerksam.”

Neben den Vorlesungen auf der Universität und im Missionshaus benutzte Bodelschwingh jede Gelegenheit, um mit seinen Lehrern in persönliche Berührung zu kommen. Namentlich auf ihren Spaziergängen begleitete er sie und besprach sich mit ihnen. Auf peinlich nachgeschriebene Kollegienhefte legte er keinen Wert. Dagegen faßte er zu Hause den Ertrag des Hörsaals und der Besprechungen, die er mit seinen Lehrern gehabt hatte, in eigener Bearbeitung zusammen. So begann er schon in Basel die selbständige Ausarbeitung einer Glaubenslehre.

Dazu kam nun ein reiches Freundschaftsleben. „Mit der jüngeren Generation”, schreibt er, „hatte ich damals schon bemoostes Haupt nicht sehr viel Umgang, weil ich niemals den Tabaksdunst der Pfeife vertragen konnte und darum die studentischen Versammlungen gern mied. Doch gab es in der Studentenverbindung „Schwyzer Hüsli” eine Anzahl lieber frischer junger Leute. Sie nahmen mich, wie es in der Studentensprache hieß, als Konkneipant bei sich auf, und mit einigen von ihnen knüpfte ich ein enges Freundschaftsband.

Ganz besonders aber zog mich ein Student an, der nicht diesem Kreise angehörte. Er stand, wie ich, im ersten Semester und hieß Jakob Riggenbach. Er gehörte einer alten Baseler Kaufmannsfamilie an, hatte sich zunächst dem Kaufmannsstande gewidmet und war erst später, ebenso wie ich, zur Theologie übergegangen. Er war eine hohe, Achtung gebietende Gestalt, noch fünf Jahre älter als ich. Heiße Kämpfe des Leibes und der Seele standen in seinem Angesicht geschrieben. Da er in der reformierten Kirche die persönliche Seelsorge vermißte und namentlich den Gebrauch der Löseschlüssel in der Privatbeichte, so hatte er sich eine Zeitlang zur irvingianischen Gemeinde geflüchtet; doch hatte er auch dort nicht gefunden, was er suchte, und sich mit großem Mut wieder von ihr getrennt. Schließlich hatte der Friede Gottes aber die Oberhand bei ihm gewonnen, und sein freundliches, mildes Auge hatte etwas besonders Anziehendes für mich. Er konnte es nicht viel und lange in den Kollegien aushalten, und mir ging es ebenso. Deswegen streiften wir miteinander oft in den nahen Bergen umher, manchmal mehrere Tage ausbleibend, wobei wir auch befreundete Pfarrhäuser in der Landschaft besuchten. Immer führten wir die Schrift mit uns und besprachen sie gegenseitig.

Bei einer solchen Wanderung kehrten wir auch einmal bei einem Pfarrer ein, in dessen Gemeinde viel geistiges Leben war. Der Pfarrer selbst aber hatte einen großen Schmerz, der damals schon anfing, sein Vaterherz zu zerreißen. Er hatte einen 15 jährigen Sohn, der sich auf das entschiedenste gegen den Geist des Elternhauses auflehnte. Da der Sohn die höhere Schule in Basel besuchte, so bat mich sein Vater, ihm doch nachzugehen. Ich wußte, daß der Sohn Wege ging, die ihm sein Vater verboten hatte. Aber ich war auch nicht einverstanden mit dem Vater, daß er dem Sohn mehr verbot, als er halten konnte.

Der Junge hatte einen glühenden Zug zum Theater und verwandte darauf jeden Groschen, den er erübrigen konnte. Sein Vater aber hatte ihm den Theaterbesuch verboten. Nun stellte ich mich eines Abends in der Nähe des Theaters auf, wo der Junge durchkommen mußte. Und richtig, es dauerte nicht lange, da kam er mit scheuen, hastigen Schritten dahergestürzt. Er erschrak, als ich ihn beim Arm faßte. Flehentlich bat er, ich möchte ihn doch nicht zurückhalten; er müsse ins Theater. Ich sagte ihm dagegen, daß er nichts gegen das klare Verbot des Vaters tun dürfe, versprach ihm aber, mich bei seinem Vater zu verwenden, damit er die Erlaubnis bekäme, mitunter einmal mit gutem Gewissen ins Theater zu gehen. Der Junge heulte laut, gab aber endlich doch nach.

Leider erreichte ich beim Vater nichts. Die Schule in Basel schickte schließlich den Jungen fort; und nun ging es immer mehr mit ihm bergab. Ich hörte lange nichts von ihm, bis er mir eines Tages aus einem jener schrecklichen Lazarette schrieb, in denen die Soldaten der afrikanischen Fremdenlegion untergebracht sind. Als ich den Brief an seinen Vater weitergab, antwortete er mir mit einem durchdringenden Schmerzensschrei. Aus Haß gegen das Christentum ging der unglückliche Mensch schließlich so weit, daß er Mohammedaner wurde. Er ist dann gestorben und verschollen – ich weiß nicht, wo. Dies Erlebnis aber war mir ein schmerzliches Warnungszeichen dafür, daß christliches Leben niemals gewaltsam aufgepreßt werden darf, wie es bei diesem unglücklichen Sohn seitens des Vaters geschehen war.

Unter den jüngeren Freunden, mit denen ich in Basel zusammen studierte, war auch Theodor Zahn, der, während Riggenbach mir um fünf Jahre voraus war, mir um sieben Jahre nachstand, denn er war damals erst 17 Jahre alt. Er wohnte ganz in meiner Nähe, und wir arbeiteten öfters zusammen. Doch war er mir an Tüchtigkeit weit überlegen, und ich konnte ihm in der Schnelligkeit seiner Auffassung auf wissenschaftlichem Gebiete nicht folgen. Auch gingen unsere Anschauungen, nicht sowohl über das Eine, was not ist, – denn er war ein lieber, entschieden gläubiger Jüngling – wohl aber über die Art der Vorbereitung auf das Predigtamt weit auseinander. Ihm war es in Basel nicht wissenschaftlich genug. Wir sind später zusammen nach Erlangen gezogen, haben dort in einem Hause gewohnt und an einem Tisch gegessen. Aber auch hier war mir sein wissenschaftlicher Flug zu hoch. Er ist denn auch in der Tat nach den ihm von Gott verliehenen Gaben einen andern Weg gegangen als ich. Er ist jetzt Professor in Erlangen und steht als ein treuer biblischer Theologe in rechtem Ansehen.

Auch mein Freund Gustav Bossart, der zuletzt an meinem Krankenbett in Berlin gesessen hatte, stellte sich in den ersten Baseler Sommerferien zu einer Fußwanderung ein. Er hatte sein Assessor-Examen gemacht und von seinem Vater das Geld zu einer Reise in die Schweiz und nach Italien bekommen. Unsere Wege waren inzwischen weit auseinander gegangen; nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich. Als wir das Aare-Tal hinaufwanderten, fragte ich ihn, ob er mir erlaube, jeden Morgen und Abend ein Kapitel aus dem Neuen Testament mit ihm zu lesen. Er bat aber, daß ich ihm diese Qual nicht antun möge; er habe mit allem, was die Schrift enthielte, völlig gebrochen. Dagegen gelobe er, daß er seinerseits während unserer Wanderschaft sein Kneipenleben aufgeben wollte.

Auf dem Wege nach dem Rhonegletscher hinauf hatten wir unter emsigem Gespräch nicht genau auf den Weg geachtet und uns verirrt. Umkehren wollten wir nicht, weil wir weiter oberhalb einen Richtweg zu erreichen hofften. Aufwärtssteigend und an den Büschen uns festhaltend, schien uns der Weg nicht zu gefahrvoll. Aber bald kamen wir an eine Stelle, an der ein weiteres Vorwärtsdringen ganz unmöglich war. Als wir rückwärts blickten, fing uns an zu schwindeln. Denn unter uns gähnte der Abgrund, den wir beim Hinaufklimmen übersehen hatten. Da klebten wir nun an der Felswand und wußten weder vorwärts noch rückwärts zu kommen. In diesem Augenblick fing mein Freund an zu fluchen. Ich gewann den Mut, ihn ernstlich zu strafen. Es sei kein Augenblick zum Fluchen, sondern es gälte, zu Gott zu rufen. Mein Freund ließ sich meine Strafe gefallen, und Gott ließ es uns gelingen, ohne daß unser Fuß glitt, die sichere Straße wieder zu gewinnen.

Wir kamen auf diese Weise bis Mailand und Genua, wo wir von einem kleinen Boot aus, das wir uns gemietet hatten, im Mittelländischen Meer badeten. Der Rückweg führte uns ins Engadiner Land, wo mein Freund Riggenbach in Vertretung eines Pfarrers einer kleinen einsamen Gebirgsgemeinde in einem stillen Dörfchen zu dienen hatte. Mit großer Herzlichkeit wurden wir aufgenommen, und mit großer Unbefangenheit hielt Riggenbach seine einfachen köstlichen Andachten, bei denen er auf den Knien zu beten gewohnt war. Ich merkte, daß mein Freund sich hiervon nicht abgestoßen fühlte; denn es kam kein Wort des Widerspruchs über seine Lippen. Nachts schliefen wir zusammen in einem Bett, denn Riggenbach hatte nur eins.

Riggenbach begleitete uns bis ins Rheintal und erzählte unterwegs ergreifend von einem Sterbenden, der noch etwas Schweres auf dem Gewissen hatte und zum Frieden kam, als er es glücklich über seine Lippen gebracht hatte.

Als Bossart und ich in Zürich am schönen Seeufer entlang schlenderten, traf mein Freund einen alten Bekannten aus Berlin, der mit dem Züricher Leben und Treiben genau vertraut war. Dieser bat ihn, ihn doch den Abend zu besuchen. Ich ahnte nichts Gutes. Und wie ich es gefürchtet, so kam es. Mein Freund hatte versprochen, bald wiederzukommen. Aber er blieb aus. Da ich mancherlei zu lesen und zu schreiben hatte, legte ich mich nicht schlafen, sondern blieb auf. Endlich um drei Uhr morgens polterte es die Treppe herauf. Ein Mensch in jämmerlicher Verfassung kam herein, dem ich sogleich zu Bett helfen mußte, ohne daß ich ihm natürlich ein Wort des Vorwurfs sagte. Den andern Tag lag tiefe Scham auf seinem Angesicht; ja, mehr als das.

Als wir abends in Basel ankamen, hörten wir, daß die Cholera, die schon bei unserer Abreise geherrscht hatte, noch immer neue Opfer fordere. Trotzdem wollte mein Freund nicht gleich weiterreisen, sondern noch einige Tage bei mir bleiben. So überließ ich ihm mein Bett und machte das meine auf meinem Sofa. Als ich mich niederlegen wollte, sagte er: „Friedrich, gib mir eine Bibel!” Und er las lange darin, während ich mich schon zum Schlafen anschickte. Der andere Tag war ein Sonntag. „Ich gehe mit dir in die Kirche,” sagte er gleich. Auch bat er mich, jetzt abends und morgens die Schrift mit ihm zu lesen, ging auch einige Male mit mir ins Kolleg zu Professor Auberlen.

Bei seinem Abschied geleitete ich ihn eine halbe Tagereise weit in den Schwarzwald hinein. Dann trennten wir uns. Es war ein stiller, hoffnungsreicher Abschied, nicht mit viel Worten, aber voll inniger, dankbarer Freude, daß wir uns endlich wiedergefunden hatten. Er besuchte noch einmal meine liebe Mutter in Velmede und brachte einige stille Tage bei ihr zu. Bald danach starb er an einer kurzen Krankheit, und ich habe auf Erden sein Angesicht nicht wiedergesehen.

Auf der Reise, die mich mit meinem Freunde Bossart durch die Schweiz nach Italien führte, waren wir eines Tages infolge eines schweren Gewitters ganz durchnäßt worden, sodaß wir uns, in unser Quartier gelangt, gleich zu Bett legen mußten, um unsere Kleider am Herde trocknen zu lassen. Da hatte denn die Magd in meiner Tasche mein kleines Neues Testament entdeckt, und ich hatte es ihr auf ihre Bitte geschenkt. Wir waren mittlerweile bis zur Isola Bella im Lago Maggiore gelangt. Während sich mein Freund mit andern Reisenden, deren Bekanntschaft er gemacht hatte, unterhielt, ruhte ich im Schatten der Lorbeeren aus. Da ich nun mein Neues Testament nicht mehr bei mir hatte, so zog ich ein anderes Buch heraus, das ich noch in meiner Wandertasche bei mir führte. Es war ein kleines Buch von Dichtungen eigenen Fabrikats, die ich jetzt auf der Wanderschaft hatte vermehren wollen. Aber als ich eine Weile hineingesehen hatte, kamen mir im Vergleich zu dem, was Gott an köstlichen geistlichen Liedern geschenkt, meine Lieder elend vor. Auch erschien mir die Gefahr, mich in solchen eigenen Erzeugnissen zu sonnen, so groß, daß ich einen Stein suchte, einen Bindfaden darum band und das Machwerk in die Tiefe des Sees schleuderte. Ich war froh, wieder ein Stück des alten Adams abgetan zu haben und leichter weiterpilgern zu können.

Mehr als einmal bin ich mit meinen Baseler Freunden den Weg zum lieben Vater Zeller nach Beuggen am Rhein gepilgert. In den Franzosenkriegen vor hundert Jahren war das Schloß von Beuggen Kriegslazarett gewesen, und der Lazarett-Typhus hatte in furchtbarer Weise darin gehaust. Zuletzt hatte man keine Wärter mehr bekommen können, die sich in das entsetzliche Todeshaus hineinwagen wollten. So hatte man schließlich den Sterbenden nur noch das Essen in die Tür hineingeschoben und sie sich selbst überlassen. Noch lange Zeit hatten in einzelnen Teilen des Hauses Knochengerippe umhergelegen. So war das Schloß eine Stätte des Grauens, in die sich niemand hineintraute, bis Zeller, getrieben von der Liebe Christi, es wagte, sich vom Großherzog von Baden das Schloß auszubitten, um hier mit verwahrlosten Kindern seinen Einzug zu halten. Da ist denn an der Stätte des Todes ein fröhliches, frisches Leben aufgesproßt, das bis auf diesen Tag nicht versiegt ist.

Auf seinem Arbeitspult hatte Zeller ein großes Corpus juris stehen, daneben Goethes Faust und die Bibel. „Ich habe”, sagte er mir, „diese Bücher neben einander stehen lassen, um beständig zum Dank gegen Gott ermuntert zu werden, daß ich von dem toten Buchstaben des irdischen Gesetzes zum ewig lebendigen Gesetzbuch des Wortes Gottes geführt wurde und von den verführerischen Gärten des menschlichen Geistes in ihrer höchsten Blüte, wie wir sie in Goethes Faust finden, zu dem einfältigen Evangelium von Christo.”

Besonders erinnerlich ist mir ein Sommerabend, an dem ich mit meinem mir vertrautesten Freunde aus dem Missionshaus, Hendrichs, von Beuggen nach Basel heimkehrte. Wir saßen, unter dem Schatten eines Baumes ausruhend, am Ufer des Rheines, und mein Freund sprach von dem unbeschreiblichen Glück und der Sicherheit, die er genieße, seit er an den Heiland glaube. Es könne ihm nun gar nichts widerfahren, als was ihm nötig und selig sei. Denn auch jeder Widersacher, der ihm etwas anhaben wolle, helfe ihm nur dazu, sich selbst zu verleugnen und sich zum Heiland zu flüchten, und jeder Stoß, den sein alter Adam bekomme, sei ihm lieb, weil dadurch der neue Adam desto mehr Luft bekomme. Es war mir dieses Gespräch von besonderem Segen und ist mir unvergeßlich geblieben in Erinnerung an meinen treuen Freund, der nun schon lange Jahre in Indien an der Küste von Malabar schläft, wo er seinen Lauf mit Freuden vollendet hat.

Neben Hendrichs stand mir ein anderer angehender Missionar sehr nahe: Gottfried Hauser. Daß ich mit ihm verbunden wurde, hatte seine besondere Veranlassung. Es bestand nämlich im Missionshause zu Basel die Einrichtung, daß die Missionare in dem letzten Jahre vor der Ausreise auf das Missionsfeld zu zwei und zwei auszogen, um in den Dörfern des Baseler und badischen Landes Bibelstunden zu halten oder auch die Kinder zu sammeln in der Weise der heutigen Sonntagsschulen, die man damals aber noch nicht kannte. So war mir mit Gottfried Hauser zusammen das Dorf Birsfelden, südlich von Basel, zugeteilt worden. Eine Witwe, eine fromme alte Bauersfrau, hatte hier ihr Haus für die Versammlung geöffnet. Es waren vor allem Kinder, die hier zusammenkamen und die von Hauser und mir in der Weise von Frage und Antwort unterwiesen wurden, während einige ältere Personen zuhörten. Mit welchem Zittern und Zagen habe ich mich auf diese Stunden vorbereitet, zumal dabei auch öffentlich gebetet zu werden pflegte! Aber wie manchen Segen habe ich auch aus diesen Stunden mitgebracht für meine eigene Seele!