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Czytaj książkę: «Friedrich v. Bodelschwingh: Ein Lebensbild», strona 20

Czcionka:

Aber die örtliche Not, die hier gestillt wurde, war doch nur ein winziger Bruchteil der ungeheuren Wohnungsnot des Vaterlandes. Und die Aufgabe, die man hier auf kleinem Raum löste, mußte überall in Angriff genommen werden. Es galt, einen eigenen Mittelpunkt zu schaffen, von dem aus diese Not an alle herangetragen und diese Aufgabe allen zur Pflicht und Freude gemacht wurde. So entstand im April 1885 der „Deutsche Verein Arbeiterheim”. In besonderen Anschreiben setzte Vater den Zweck des Vereins auseinander, und bald meldeten sich aus allen Teilen des Vaterlandes die Mitglieder, teils einzelne Privatleute, teils Korporationen und Gemeinden. Die Kaiserin und später die Kronprinzessin Cecilie übernahmen das Protektorat zum Zeugnis, daß es sich hier um die wichtigste Grundlage alles Staats- und Volkslebens, die Erhaltung der Familie, handle.

„Mehr Luft, mehr Licht und eine ausreichend große Scholle für den Arbeiterstand!” war nun der Ruf, den Vater durch Wort und Schrift hinausgehen ließ in Stadt und Land. In schlichtesten, tief ergreifenden Worten brachte er alle Saiten des Herzens zum Schwingen. Herz, Gemüt, Verstand, Gewissen faßte er in gleicher Weise an. Die städtischen und ländlichen Behörden so gut wie die einzelnen Besitzer wies er auf diese entscheidende Aufgabe hin. Wir haben sein Herz beben gehört, zittern gefühlt über der Frage: Wird es noch gelingen, hier das deutsche Gewissen wachzurufen?

Und immer gingen Wort und Tat Hand in Hand. Die grundlegende Frage war: Wie kann dem Arbeiter das Geld zur Aufrichtung einer Heimstätte beschafft werden? Denn selten oder nie hatte er dazu ausreichendes eigenes Kapital in der Hand. Wohl hatte der Verein „Arbeiterheim” an seinem Teil den einzelnen Erwerbern als Rückhalt gedient und ihnen das nötige Kapital flüssig gemacht. Aber seine Schultern wären zur Durchführung im großen zu schwach gewesen. Es mußte stärkerer und weiterer Rückhalt geschaffen werden. Wo war er zu finden?

Die staatlichen Rentenbanken halfen größeren und mittleren Besitzern mit Darlehen, die in jahrzehntelanger Tilgungsfrist unter geringer Verzinsung zurückgezahlt wurden. Hier setzte Vater ein. Was dem größeren und mittleren Besitzer zugebilligt wurde, warum sollte es dem kleinen nicht auch gewährt werden?

„Es gibt kein Kapital, das sicherer angelegt wäre, als beim kleinen Mann, kein Kapital auch, das höhere Zinsen brächte.” In allen Tonarten, mit allen Beweismitteln hat Vater diesen Satz vertreten. Er kannte die nie zu erstickende Liebe des deutschen Familienvaters zur eigenen Scholle. Er vertraute mit größter Zuversicht, daß der deutsche Arbeiter überall, wo man ihm die Hand dazu böte, alles daran setzen würde, ein eigenes Heim nicht nur zu erwerben, sondern auch zu behalten und die, die ihm dazu verhalfen, nicht im Stich zu lassen. Er wußte auch, daß es unter allen irdischen Mitteln kein sichereres Gegengift gibt gegen Trunksucht, Unzucht und Prunksucht als das eigene Dach und den eigenen Herd.

Darum gelang es ihm auch in unablässigem Bemühen um die Herzen der verantwortlichen Männer und Behörden in Provinz und Staat, in Schreibstuben und auf den Ministerstühlen, daß schließlich die Beleihungsgrenze bis zu den kleinsten Besitzungen ausgedehnt wurde. Im Jahre 1907 erfolgte der Ministerialerlaß über Zwergrentengüter, wonach auch die sogenannten Zwergsiedlungen von nicht mehr als einem halben Morgen Größe von den Rentenbanken bis zu drei Vierteln des Gesamtwertes beliehen wurden.

Damit war der Weg gebahnt zu umfassenden Siedlungen in städtischen und ländlichen Bezirken. Wenn nur weitherzige Baupolizeivorschriften, weitblickende Gemeindepolitik und weitgreifende Anleitung der Verwaltungsbehörden alle tätigen, sich selbst helfenden Kräfte des deutschen Vaterlandes künftig nicht eindämmten, sondern weckten und förderten, so zeigte sich jetzt die ungehinderte Aussicht auf eine Gesundung des gesamten Volkskörpers. Der Arbeiter war nicht mehr ausschließlich angewiesen auf die Barmherzigkeit von Privaten oder gemeinnützigen Vereinen, sondern es war ihm zu einem Recht verholfen an die materiellen Hilfsquellen des Staates.

Schwere Hemmungen blieben ja bestehen. Immer war es so, daß, wo irgend eine Arbeitersiedlung einsetzte, die Bodenpreise in der Umgebung der Siedlung in die Höhe schnellten und den nachfolgenden Siedlern die Erwerbung eines Eigentums erschwerten. Um hier grundlegende Wandlungen zu schaffen, hatten die Bodenreformer unter Damaschke eine unermüdliche Arbeit angegriffen. Aber dieses ganze große Gebiet ließ Vater unberührt. Ich fragte ihn einmal, wie er über die Frage der Bodenreform im Sinne Damaschkes dächte. Er antwortete: „Davon verstehe ich zu wenig.” Es lag nicht in seiner Natur, sich mit Fragen zu beschäftigen, deren Lösung erst in weiter Zukunft lag. Er fühlte sich auch auf diesem Gebiete nicht zum Reformer oder Reformator berufen. Die praktischen Aufgaben, die sich ihm mit zwingender Gewalt aufdrängten, griff er an und suchte er dadurch zu lösen, daß er die vorhandenen Hilfsmittel verwandte und diese Hilfsmittel so viel wie irgend möglich ausgestaltete.

Alles, was zunächst nur Theorie blieb, lag außerhalb seines Interesses. Die ganze immer mehr anwachsende Literatur über die sozialen Probleme blieb ihm fremd. Er las nichts davon. Nur das, was seine unmittelbar jetzt lösbare Aufgabe betraf und ihn darin förderte, bildete eine Ausnahme. Das griff er mit hellem Blick heraus und machte er sich zu eigen.

Als ihn zu einer Zeit, wo alle Welt mit der „sozialen Frage” als solcher beschäftigt war, der ihm befreundete Professor Riggenbach in Basel bat: „Sagen Sie mir einmal Ihre Gedanken über die soziale Frage!” antwortete er: „Ich spreche nicht gern über Dinge, von denen ich nichts verstehe.” Aber dann ließ er den Fragesteller in anschaulichster Weise hineinsehen in die Gebiete des sozialen Lebens, auf denen er nicht theoretisch, sondern praktisch gearbeitet hatte.

Vaters historischer Sinn, die Dankbarkeit für das, was geworden war, die Achtung vor einer jahrhundertealten treuen Arbeit des Staates ließen ihn nie in den Verhältnissen die Hauptschwierigkeiten erblicken. Deshalb griff er, wie verwickelt oder rückständig diese Verhältnisse oft auch sein mochten, immer mit großer Zuversicht hinein, indem er allem, was gesund in ihnen war, zur Fortentwicklung half, um dadurch ganz von selbst das Verkehrte absterben zu lassen. Nicht unter den Hemmungen, die von den Dingen ausgingen, litt er, wohl aber unter denen, die von den Menschen herrührten. Und gerade auf dem Gebiet der Arbeiterwohnungsfrage erlebte er es mit wachsendem Schmerz, wieviel hier durch Kurzsichtigkeit, Engherzigkeit, Hartherzigkeit und mangelnde Nächstenliebe unterlassen und versäumt wurde.

Am meisten schmerzte ihn die Stellung der landwirtschaftlichen Kreise; denn bei ihnen lag die eigentliche Entscheidung. Je mehr die Städte sich dem Gedanken öffneten, in ihrem Umkreise für die Ansiedlung des Arbeiters zu sorgen, desto mehr Arbeiter wurden doch wieder aus dem Lande in den Bannkreis der Stadt gelockt. Darum mußte das Land seine bisherige Stellungnahme aufgeben. Wohl gab es auch hier eine langsam zunehmende Einsicht. Aber sie war doch nicht allseitig genug. „Wir werden uns keine Laus in den Pelz setzen dadurch, daß wir unsere Arbeiter selbständig machen”, mußte er immer wieder hören. In einer der besten Gemeinden des Ravensberger Landes sagte er in einer Predigt, daß die Besitzer alle im Grunde nicht Besitzer, sondern nur Verwalter ihres Gutes seien und daß sie, um als Verwalter bestehen zu können, wenn Gott einmal Rechenschaft von ihnen forderte, die Pflicht hätten, dem kleinen Mann zu einem Haus und Stück Land zu verhelfen, das dieser dann wieder als selbständiger Verwalter innehaben könne. Der Bauer müsse sich endlich von dem Gedanken freimachen, als sei es unrecht, wenn er von dem von den Vätern ererbten Besitz etwas abgebe für den kleinen Mann. Aber Vater stieß auf kühle Ablehnung und wurde auf lange Zeit hinaus nicht wieder in diese Gemeinde eingeladen.

Ähnlich ging es ihm weiten Kreisen der Großgrundbesitzer gegenüber. Er hat es nie verkannt, wieviel von manchen unter ihnen für den Landarbeiter geschah, wie die Wohnungen in wachsendem Maße verbessert wurden und der Landarbeiter sich, wenn er seine Einkünfte berechnete, vielfach weit besser stand als der freie Industriearbeiter der Großstadt. Aber eng und starr hielten vielfach auch die besten Besitzer an dem Grundsatz fest: „Alles für den Arbeiter, nichts durch ihn”, d. h. sie waren bereit, für den Arbeiter und die Verbesserung seiner Lage in jeder Hinsicht nach dem Maße ihrer Kräfte zu sorgen, aber nur, solange er als Mietsmann in abhängiger Stellung dem Gute gegenüber blieb. Sobald es sich aber darum handelte, den Arbeiter auf eigene Füße zu stellen, sodaß er auf eigener Scholle durch eigene Arbeitskraft sich sein Heim schuf und dann durch freien Entschluß in ein neues Dienstverhältnis zum Gute trat, hielten die Besitzer mit ihrer helfenden Hand zurück. Man wollte ihn in der Hand behalten, und gerade so verlor man ihn.

Durch die immer mehr gesteigerte Tätigkeit der Volksschule wurde der Gesichtskreis auch des Landarbeiters erweitert, sein Selbstbewußtsein gehoben, all seine Kräfte geweckt. Aber man gab diesen Kräften kein Feld eigener Betätigung, eigener Entfaltung. Das mußte schließlich zu einer Katastrophe führen. „Zwanzig Jahre habt ihr noch Zeit,” hörte ich Vater zu einem Großgrundbesitzer sagen; „wenn ihr dann nicht Ernst gemacht habt, habt ihr die Revolution.” Und ein anderes Mal: „Vor den Russen und Franzosen ist mir gar nicht bange. Aber bange ist mir vor der Unzufriedenheit und Gottentfremdung im eigenen Volk. Wenn ihr helfen wollt, dann helft, dem Deutschen die eigene Scholle wiederzugeben.” Dabei ging für ihn die Lösung der sozialen und der religiösen Frage immer Hand in Hand. So sagte er auf dem Kongreß für Innere Mission in Kassel im Jahre 1888: „Um reif zu werden für die himmlische Heimat und Heimweh nach dem Vaterhause droben zu haben, ist es nötig, daß man zuerst einmal ein irdisches Vaterhaus liebgewonnen hat. Diejenigen, die nichts mehr von einem Verlangen nach einem irdischen Vaterhause wissen, sind meist auch für das Verlangen nach einem ewigen Vaterhause abgestorben.”

Es muß ehrlicherweise zugegeben werden, daß Vater manchen Großgrundbesitzer befremdete, weil er bei der Glut, mit der er seinen Gedanken vertrat, bei manchem den Eindruck erwecken konnte, als wollte er alles Bestehende auf den Kopf stellen. Aber im Grunde hatte er nie daran gedacht, daß die vorhandenen Mietsverhältnisse sämtlich aufgelöst werden sollten, damit jeder Arbeiter sein eigener Herr würde auf eigener Scholle. Er wollte nur, daß dem Arbeiter die Möglichkeit dazu verschafft und daß seiner drängenden Kraft Ventile geöffnet würden. Es war ja klar, daß viele das sorgenfreie Leben im Mietshause der Verantwortung für ein eigenes Besitztum vorziehen würden. Aber denen, die nach dieser Verantwortung sich sehnten, sollte der Weg dazu offen stehen.

Mit der freien Bahn, die dem Landarbeiter geöffnet werden sollte, ging freilich Hand in Hand, daß auch der Industrie Möglichkeit gewährt wurde, sich auf dem Lande niederzulassen. Nur so würde das Wachstum der Großstädte unterbunden werden. Namentlich die Kanäle sollten nach Vaters Gedanken dazu dienen, die Industrie auf das Land zu ziehen. Unermüdlich war er auch für diesen Gedanken eingetreten.

Mit der Industrialisierung des Landes würde ja auch mehr und mehr dem Mißverhältnis gesteuert werden, daß die Bodenpreise in der Nähe der Städte übertrieben hoch, auf dem Lande unverhältnismäßig gering waren. Und denjenigen Landwirten, denen die ganze Frage nicht so sehr eine Angelegenheit der sozialen Gerechtigkeit, sondern des Geldbeutels war, zeigte Vater, wie auch sie bei ganz nüchterner Berechnung sich sagen mußten, daß das Festhalten des Arbeiters auf dem Lande, auch rein vom rechnerischen Standpunkte angesehen, ihr eigenster Vorteil sei. Durch die Rente, die der Landarbeiter für den erworbenen Grund und Boden zahlte, konnte der Großgrundbesitz einen Teil seiner Schulden abstoßen. Durch die Zunahme der Landbevölkerung war das Absatzgebiet für die Landwirtschaft bereichert und die Möglichkeit zur Erlangung geeigneter Arbeitskräfte nicht gemindert, sondern vermehrt.

Hat Vater vergeblich gearbeitet? Als die Revolution ausbrach und Bielefeld im Norden Deutschlands eine der wenigen großen Städte war, in denen sich der Umschwung der Dinge verhältnismäßig ruhig vollzog, wurde als letzte Ursache dieser erfreulichen Erscheinung zweierlei genannt: die verständige Hand eines maßvollen sozialdemokratischen Führers und die soziale Arbeit Vater Bodelschwinghs. Das will freilich, auf das Ganze des Vaterlandes gesehen, nicht viel sagen. Aber wenn der praktische Ertrag auch verhältnismäßig gering war, – denn was bedeutete die Ansiedlung von einigen tausend Arbeitern auf eigenem Grund und Boden im Einfamilienhaus gegenüber der großen Masse, die in die Städte gepfercht blieben und auf dem Lande keine Entwicklungsmöglichkeit vor sich hatten! – Vater ist durch alle Hindernisse und alle schmerzhaften Enttäuschungen nicht abgeschreckt worden, den Gedanken selbst immer wieder hinauszurufen: „Mehr Luft, mehr Licht und eine ausreichend große Scholle für den Arbeiterstand!”

Als darum während des Krieges der Gedanke entstand, jedem deutschen Kämpfer seinen freien Anteil am deutschen Lande zu sichern, da fand er überall lautes Echo. Großgrundbesitzer des Ostens stellten damals weite Gebiete ihres Besitztums zur Verfügung, damit der Gedanke in die Tat umgesetzt würde. Hätten sie es zwanzig Jahre früher getan, wie viel wäre verhütet worden!

Zu spät ist es auch jetzt noch nicht. Die Gedanken des Vereins „Arbeiterheim” haben sich inzwischen überall durchgesetzt. Das ganze Vaterland ist zu einem Verein Arbeiterheim geworden. So könnte sich der Verein in die Stille zurückziehen. Doch besteht er noch fort, damit er überall, wo es gilt, den Gedanken in die Tat umzusetzen, mit seinen Erfahrungen helfen kann.

Das Kandidaten-Konvikt

Der Überschuß an Kandidaten der Theologie war in den achtziger Jahren groß. Manche von ihnen mußten jahrelang auf feste Anstellung warten und fragten in Bethel um Arbeit an. Vater ergriff diese Gelegenheit, um dafür zu sorgen, daß die brach liegenden Kräfte während der Wartezeit nicht müßig blieben, sondern eine gründliche Schulung erhielten. Er bat den damaligen Kultusminister Goßler, ihm zur Ausbildung einer kleineren Anzahl zukünftiger Pastoren für den Dienst der inneren und äußeren Mission die erforderlichen Geldmittel darzureichen. So entstand 1888 das Kandidaten-Konvikt. Zunächst für vier, später für acht Kandidaten wurden seitens des Ministers die Mittel gewährt. Ein Nebengebäude des Hauses Hermon, Klein-Hermon, wurde ihre Heimat und ist es bis heute geblieben.

Die Arbeit der Kandidaten wurde so geteilt, daß sie des Vormittags auf den verschiedenen Stationen der Anstalt tätig waren, während der Nachmittag der besonderen Ausbildung auf den zukünftigen Beruf vorbehalten blieb. Einer arbeitete auf der Männerstation des Diakonissenhauses, wo er unter der Anleitung der Kandidaten-Mutter, Schwester Riekchen, das Reinmachen der Krankenstuben, das Bettenmachen und dann die eigentliche Krankenpflege lernte und auch an den Operationen teilnahm; ein anderer hatte seinen Posten in Zoar bei den geistesschwachen epileptischen Knaben, der dritte in Hebron, der Landstation der epileptischen Männer, der vierte auf dem Arbeitszimmer des Vaters. Alle acht bis zwölf Wochen wurde gewechselt, sodaß jeder die verschiedenen Arbeitsgebiete kennenlernte. Mit der Zunahme der Kandidaten nahmen auch die Tätigkeitsfelder zu: Arbeiterkolonie, Herberge zur Heimat, Trinkerheilstätte, Pflege der Geisteskranken, Unterricht der Brüder und der epileptischen Kinder usf.

Es verstand sich für Vater von selbst, daß ein zukünftiger Diener des Wortes Jesu Christi, des Freundes und Helfers der Armen, Kranken und Schwachen, zum geringsten Dienst an den Elenden willig sei. Darum stellte er sofort mit einer Selbstverständlichkeit, gegen die es gar kein Widerstreben gab, die ersten Kandidaten, die sich meldeten, in die Arbeit an den Kranken. Ganz von selbst banden sie sich gleich den Schwestern und Brüdern, die ihnen vorarbeiteten, die blaue Schürze um. Sie wurde ihnen schnell zum Ehrenkleid, das sie nach einem Jahr nur mit Wehmut ablegten. Und mancher von ihnen hat die blaue Schürze unendlich leichter und lieber getragen als den Talar.

Es ging allerdings nicht jedem so. Einige kamen, die schon nach kurzer Zeit wieder verschwanden, weil ihnen der Anblick der Kranken zu schwer, der Dienst zu niedrig und entsagungsvoll war. Aber die allermeisten blieben. Ihnen wurde es zur großen Wohltat, daß sie einmal die Gedankenarbeit mit der gründlichen Praxis vertauschen konnten. Das alte Wort „Praxis epibasis theorias” (der Weg der Gewißheit führt durch die Tat) wurde hier immer wieder zur Wahrheit. Über der tätigen Hilfe, die er leisten konnte, vergaß mehr als ein Kandidat die Gedankengrübelei. Im Zusammenleben mit manchen Brüdern und Schwestern des Diakonen- und Diakonissenhauses merkte er, daß Jesus Christus die eigentliche Großmacht in der Welt sei, von der noch heute Wandlungen und Wirkungen ausgehen, die sonst in keines Menschen Macht stehen, und der kindliche Glaube eines am Geiste schwachen Knaben von Zoar oder eines epileptischen Ackerbauers von Hebron wurde ihm zu einem Erlebnis, das alles übertraf, was die Universitätszeit geboten hatte.

Dazu kam dann der persönliche Dienst als Gehilfe unseres Vaters. Die Post kam schon früh, und Vater ließ jede Sendung durch seine Hand gleiten, um an der Handschrift zu prüfen, ob die Rücksicht auf den Briefschreiber es erfordere, daß er allein den Brief öffnete. Alle übrigen Briefschaften übergab er dem Kandidaten. Natürlich kam es vor, daß auch unter dessen Augen Geheimnisse kamen, die den Briefschreiber und Vater allein angingen. Aber nie ist solches Geheimnis ausgeplaudert worden. Das große Vertrauen, das Vater vom ersten Augenblick an in seine Mitarbeiter setzte und das die zartesten und tiefsten Kräfte im Herzen zur Mitarbeit wachrief, wurde heilig gehalten.

War die Post durchgesehen, so berichtete der Kandidat über die einzelnen Schriftstücke, und Vater gab Anleitung zur Erledigung. Je klarer und kürzer der Bericht ausfiel, je größer war für Vater bei seiner gedrängten Zeit natürlich die Wohltat. So berichtete einer, der es besonders knapp machen wollte: „Junger Mann, Offizier gewesen, Schulden gemacht, Abschied, sucht Stellung.” Da sagte Vater nur, aus tiefster Seele heraus: „Arme Mutter.” Der Kandidat hat nachher erzählt, von welch unauslöschlichem Eindruck diese zwei Worte auf ihn gewesen seien.

Die einen Briefe bekam der Kandidat zur Erledigung, mit andern ging er in die einzelnen Häuser, um sie dort zu besprechen oder auf den Schreibstuben abzugeben. Was übrig blieb, beantwortete Vater selbst, und zwar am liebsten immer sofort, indem er seinem Sekretär, der stets die Vormittagsstunden ebenfalls auf dem Arbeitszimmer war, diktierte. „Nur nichts aufschieben” war seine Losung. „Aufschieben macht Qual.” Dann hörte der Kandidat zu, welche Antworten gegeben wurden, und die tiefe Liebe, die bei aller Kürze aus jedem Briefe sprach, den Vater diktierte, konnte nicht ohne stärksten Einfluß bleiben und wurde zu einer Saat, die in der Erinnerung haften blieb und bei manchem Kandidaten, der inzwischen längst zu Amt und Würden gekommen war, Jahr um Jahr neue Früchte trug.

Am Nachmittag wurde unter der Leitung des Seniors der Kandidaten und später eines Inspektors die Auslegung des Alten und Neuen Testamentes nach dem Grundtext getrieben, an der Hand von Vorträgen und Ausarbeitungen der Mitglieder wurden theologische Fragen besprochen und außerdem die Geschichte der Inneren und Äußeren Mission behandelt.

Die Übungen in der Katechese und in der Predigt leitete Vater selbst. Aber eigentlich konnte man die kurzen Stunden, die jeden Mittwochnachmittag um halb drei Uhr im Krankensaal des Kinderheims gehalten wurden, nicht katechetische Übungen nennen. Wie schon einmal erwähnt, war Vater in der Tat kein Schulmeister, darum erwartete er auch von den Kandidaten keine katechetische Kunstleistung. Was Vater verstand, war etwas anderes: er konnte erzählen. In der Weise, wie er die biblischen Geschichten in höchster Anschaulichkeit darstellte, hat manche seiner Schwestern es zu einer Kunst des Erzählens gebracht, die Kinder und Kranke aufs tiefste fesselte und die bis in den Grund nicht nur des Gemütes, sondern auch des Gewissens ging. Dieses Erzählen, nur durch gelegentliche Fragen unterbrochen, hat er auch mit den Kandidaten geübt und ihnen selbst vorgemacht.

So besinne ich mich, wie er einmal vor den Kindern, die zum Teil in ihren Betten lagen, zum Teil auf kleinen Stühlen vor und zwischen den Kandidaten saßen, die Geschichte von der königlichen Hochzeit erzählte. Als er an die Stelle kam, wie der König hineinging, die Gäste zu besehen, und Vater nun seine Augen von einem zum andern wandern ließ, da ging ein Beben durch uns hindurch, und als er vollends darstellte, wie der König den einen Gast traf, der kein hochzeitliches Kleid anhatte, da schlug jeder unwillkürlich die Augen nieder in der Sorge, er selbst könne vielleicht der eine sein. Es war gar keine Mache dabei, nichts Theatralisches, nichts Eingeübtes; es war ein wirkliches Ergriffensein von der Schönheit, Größe und Gewalt des Wortes Jesu.

Auch die alttestamentlichen Geschichten wurden so behandelt. Alle nicht in Hast, aber in möglichster Kürze. Länger als höchstens eine Viertelstunde hatte meistens der einzelne Kandidat nicht. Dann kam noch ein zweiter an die Reihe, um irgend eine andere Geschichte aus dem Leben daheim oder in der Heidenwelt zu erzählen.

Am Freitag um fünf Uhr war die Predigt der Kandidaten in der kleinen Kapelle von Sarepta. Sie war den Kandidaten so leicht und zugleich so schwer gemacht wie nur möglich. So leicht, weil das Publikum, vor dem sie zu sprechen hatten, nicht zum Fürchten war. Die Fenster, die nach rechts und links in die Krankensäle führten, waren geöffnet, und von ihren Betten lauschten die Kranken nicht auf hohe Töne der Weisheit, sondern auf ein einfaches Wort der Erquickung; und auf den Bänken in der Kapelle selbst saß für gewöhnlich nur eine einzige Station von epileptischen Mädchen unter der mütterlichen Führung der alten Schwester Christiane. Auch sie stellten keine hohen Ansprüche, sondern waren um so dankbarer, je einfacher das Wort war, das zu ihnen gesprochen wurde.

Aber gerade hierin lag nun auch die große Schwierigkeit der Aufgabe. Über die höchsten Dinge ganz kindlich zu sprechen, sodaß Leidende, Sterbende und am Geiste Schwache sich daran aufrichten können, das war die Kunst, die hier gelernt werden konnte, nicht an hohen menschlichen Vorbildern, sondern an dem Vorbilde dessen, der die tiefsten Geheimnisse des Reiches Gottes in so schlichte Bilder und Gleichnisse fassen konnte, daß sie allen Völkern der Welt in ihren einfältigsten und ihren weisesten Gliedern zugleich faßlich und unergründlich sind.

In der kleinen Brüderstube der Männerstation von Sarepta, in der der alte Heermann gewohnt hatte und gestorben war, fand dann im unmittelbaren Anschluß an die Predigt die Kritik statt. Erst kam die Nachmittagsstunde bei den Kindern des Kinderheims zur Besprechung, dann die Predigt. „Wer sagt ihm etwas?” fragte dann Vater die versammelten Kandidaten. „Bitte, sagt ihm etwas!” Zum Schluß kam dann Vater selbst. Er ließ sich das Konzept nicht vorher geben, aber er hörte sehr genau der Predigt zu.

Auch das Äußere ließ er sich nicht entgehen. Es war damals die Zeit der langen Schnurrbärte. „Sieh mal,” sagte er zum Träger eines derartigen Schmuckes, „die Kranken fürchten sich, wenn du mit solch einem langen Schnurrbart daherkommst, als wärest du ein Unteroffizier.” So traf er, ohne zu verletzen, die verborgene Eitelkeit.

An der Einteilung der Predigt rüttelte er, wenn es nötig war, mit kräftigen Stößen. Aber ihren Inhalt behandelte er immer mit der größten Zartheit. Denn hier handelte es sich ja jedesmal um das Opfer des Heiligsten, was ein Mensch besitzt, das um so größerer Schonung bedurfte, je zarter die Pflanze noch war, die die Früchte ihres Glaubens und ihrer Erfahrung der kleinen Zuhörerschaft dargeboten hatte. Den glimmenden Docht nicht auszulöschen, sondern durch freundliche Ermunterung zu entfachen, und das zerstoßene Rohr nicht zu zerbrechen, sondern zu stärken, das übte Vater in diesen kurzen Feierstunden. Und wenn er weder Lob noch Tadel sparte, so war es so, daß das Lob ermunterte, aber zugleich demütigte, und der Tadel befreite und darum zugleich getrost machte. Einem Kandidaten, dessen Predigten er schon wiederholt zugehört hatte, sagte er: „Wenn du predigst, dann wird mir immer so bange. Du zeigst immer wieder so scharf das sündige Herz. Ich mache das anders. Ich meine, man muß erst in der Gnade stehen und dann von der Gnade aus sich mit den Händen und Armen hinunterneigen und sie heraufheben.”

Sooft wie möglich ließ er sich von den Kandidaten auf die Feste im Ravensberger Lande begleiten. Bei der Rückkehr von solch einem Feste stellte es sich heraus, daß die Kandidaten, die in einem zweiten Wagen saßen, an zwei Frauen, die zu Fuß gingen, vorübergefahren waren, ohne sie zum Mitfahren einzuladen. Er ließ sie alle aussteigen und den Wagen zurückfahren, um die Frauen aufzunehmen.

Sieben Jahre hat Vater in dieser Weise die Konviktsarbeit geleitet. Zwei Gehilfen, Wilm und Hild, die aus den Kandidaten selbst hervorgegangen waren, haben ihn dabei wie Söhne unterstützt. Schließlich zeigte sich die Berufung einer besonderen Kraft zur Leitung dieser wichtigen Arbeit als das Gewiesene.

Pastor Rahn war in der Zeit, wo er in Amsterdam in größtem Segen an der deutschen lutherischen Gemeinde stand und das dortige Diakonissenhaus ins Leben rief, zu Vater in nächste Beziehung getreten. Er übernahm im Jahre 1895 die Führung der Kandidaten, denen er, bis seine Kräfte zusammenbrachen, ein väterlicher Freund und wissenschaftlicher Berater von nie versagender Gründlichkeit, Treue und Hingabe geworden ist.