Czytaj książkę: «Walpurgisnacht / Вальпургиева ночь. Книга для чтения на немецком языке»
Gustav Meyrink
Walpurgisnacht
© Антология, 2005
© КАРО, 2005
Der Schauspieler Zrcadlo
Ein Hund schlug an.
Einmal. Ein zweites Mal.
Dann lautlose Stille, als ob das Tier in die Nacht hineinhorche, was geschehen werde.
„Mir scheint, der Brock hat gebellt“, sagte der alte Baron Konstantin Elsenwanger, „wahrscheinlich kommt der Herr Hofrat.“
„Das ist doch, meiner Seel’, kein Grund nicht zum Bellen“, warf die Gräfin Zahradka, eine Greisin mit schneeweißen Ringellocken, scharfer Adlernase und buschigen Brauen über den großen, schwarzen, irrblickenden Augen, streng hin, als ärgere sie sich über eine solche Ungebührlichkeit, und mischte einen Stoß Whistkarten noch schneller, als sie es ohnehin bereits eine halbe Stunde hindurch getan hatte.
„Was macht er eigentlich so den ganzen lieben Tag lang?“ fragte der kaiserliche Leibarzt Thaddäus Flugbeil, der mit seinem klugen, glattrasierten, faltigen Gesicht über dem altmodischen Spitzenjabot wie ein schemengleicher Ahnherr der Gräfin gegenüber in einem Ohrenstuhl kauerte, die unendlich langen, dürren Beine affenhaft fast bis zum Kinn emporgezogen.
Den „Pinguin“ nannten ihn die Studenten auf dem Hradschin1 und lachten immer hinter ihm drein, wenn er Schlag 12 Uhr mittags vor dem Schlosshof in eine geschlossene Droschke stieg, deren Dach erst umständlich auf- und wieder zugeklappt werden musste, bevor seine fast zwei Meter hohe Gestalt darin Platz gefunden hatte. – Genauso kompliziert war der Vorgang des Aussteigens, wenn der Wagen sodann einige hundert Schritte weiter vor dem Gasthaus „Zum Schnell“ haltmachte, wo der Herr kaiserliche Leibarzt mit ruckweisen, vogelhaften Bewegungen ein Gabelfrühstück aufzupicken pflegte. —
„Wen meinst du“, fragte der Baron Elsenwanger zurück, „den Brock oder den Herrn Hofrat?“
„Den Herrn Hofrat natürlich. Was macht er so den ganzen Tag?“
„No. Er spielt sich halt mit den Kindern in den Choteks- Anlagen.“
„Mit ‘die’ Kinder“, verbesserte der Pinguin.
„Er – spielt – sich – mit – denen – Kindern“, fiel die Gräfin verweisend ein und betonte jedes Wort mit Nachdruck. Die beiden alten Herren schwiegen beschämt.
Wieder schlug der Hund im Park an. Diesmal dumpf, fast heulend.
Gleich darauf öffnete sich die geschweifte, dunkle, mit einer Schäferszene bemalte Mahagonitür, und der Herr Hofrat Kaspar Edler von Schirnding trat ein – wie gewöhnlich, wenn er zur Whistpartie ins Palais Elsenwanger kam, mit engen schwarzen Hosen angetan und den ein wenig rundlichen Leib in einen Biedermeiergehrock von hellem Braun aus wunderbar weichem Tuch gehüllt. Hastig wie ein Wiesel und ohne ein Wort zu verlieren, lief er auf einen Sessel zu, stellte seinen gradkrempigen Zylinderhut darunter auf den Teppich und küsste sodann der Gräfin zeremoniell die Hand zur Begrüßung.
„Warum er jetzt noch immer bellt?“ brummte der Pinguin nachdenklich.
„Diesmal meint er den Brock“, erläuterte die Gräfin Zahradka mit einem zerstreuten Blick auf Baron Elsenwanger.
„Herr Hofrat sehen so schweißbedeckt aus. Dass Sie sich nur nicht verkühlen!“ rief dieser besorgt, machte eine Pause und krähte dann plötzlich in arienhaften Schwingungen in das finstere Nebenzimmer, das sich daraufhin wie durch Zauberschlag erhellte:
„Bosena, Bosena, Bo-schenaah, bitt’ Sie, bring Sie, prosim, das Supperläh2!“
Die Gesellschaft begab sich in den Speisesaal und nahm um den großen Esstisch herum Platz.
Nur der Pinguin stolzierte steif an den Wänden entlang, betrachtete bewundernd, als sähe er sie heute zum ersten Mal, die Kampfszenen zwischen David und Goliath auf den Gobelins und betastete die prachtvollen, geschweiften Maria-Theresia-Möbel mit Kennerhänden.
„Ich war unten! In der Welt!“ platzte der Hofrat von Schirnding heraus und betupfte seine Stirn mit einem riesigen, rot-gelb-gefleckten Taschentuch. „Und bei der Gelegenheit hab’ ich mir die Haare schneiden lassen.“ – er fuhr sich mit dem Finger hinter den Kragen, als jucke ihn der Hals.
Derartige auf einen angeblich nur schwer zu bändigenden Haarwuchs abzielende Bemerkungen pflegte er jedes Vierteljahr zu machen, in dem Wahn, man wisse nicht, dass er Perücken trage – einmal langlockige, dann wieder kurzgeschorene – , und immer bekam er auch in solchen Fällen staunenerfülltes Gemurmel zu hören. Aber diesmal blieb es aus: Die Herrschaften waren zu verblüfft, als sie vernahmen, wo er gewesen sei.
„Was? Unten? In der Welt? In Prag? Sie?“ Der kaiserliche Leibarzt Flugbeil war erstaunt herumgefahren. „Sie?“
Den beiden anderen blieb der Mund offen. „In der Welt! Unten! In Prag!“
„Da – da haben Sie ja ieber die Brücke missen!“ brachte die Gräfin endlich stockend heraus. „Was denn, wenn sie eingestirzt wäre?!“
„Eingestirzt!! No servus!“ krächzte Baron Elsenwanger und wurde blass. „Unberufen“ – er ging zittrig zur Ofennische, vor der noch aus der Winterszeit her ein Scheit Holz lag, nahm es, spuckte dreimal darauf und warf es in den kalten Kamin – „Unberufen.“
Bosena, das Dienstmädchen, in zerlumpten Kittel, ein Kopftuch um und barfuß, wie es in altmodischen Prager Patrizierhäusern üblich ist, brachte eine prunkvolle Schüssel aus schwerem getriebenem Silber herein.
„Aha! Wurstsuppe!“ brummte die Gräfin und ließ befriedigt ihre Lorgnette fallen. – Sie hatte die Finger des Mädchens, die in viel zu weiten, weißen Glacéhandschuhen staken und in die Brühe hineinhingen, für Würste gehalten. —
„Ich bin mit – der Elektrischen gefahren“, stieß der Herr Hofrat gepresst hervor, immer noch voll Aufregung des überstandenen Abenteuers eingedenk.
Die anderen wechselten einen Blick: Sie fingen an, seine Worte zu bezweifeln. Nur der Leibarzt zeigte ein steinernes Gesicht.
„Ich war vor dreißig Jahren das letzte Mal unten – in Prag!“ stöhnte der Baron Elsenwanger und band sich kopfschüttelnd die Serviette um; die beiden Zipfel standen hinter seinen Ohren hervor und verliehen ihm das Aussehen eines furchtsamen, großen, weißen Hasen. „Damals, als mein Bruder selig in der Teinkirche beigesetzt wurde.“
„Ich war ieberhaupt mein Lebtag noch nicht in Prag“, erklärte Gräfin Zahradka schaudernd. „Das könnt mich so haben! – Wo sie meine Vorfahren auf dem Altstädter Ring hingerichtet haben!“
„Nun, das war damals im Dreißigjährigen Krieg, Gnädigste“, suchte sie der Pinguin zu beruhigen. „Das ist schon lange her.“
„Ach was – ich denk’ es noch wie heite. Ieberhaupt die verfluchten Preißen!“ – Die Gräfin starrte geistesabwesend in ihren Suppenteller, befremdet, dass keine Würste darin waren; dann funkelte sie durch ihre Lorgnette über den Tisch, ob die Herren sie ihr vielleicht weggeschnappt hätten.
Einen Augenblick lang versank sie in tiefes Nachdenken und murmelte vor sich hin: „Blut, Blut. Wie das herausspritzt, wenn man einem Menschen den Kopf abhaut. – Dass Sie sich nicht gefirchtet haben, Herr Hofrat?! Was, wenn Sie unten in Prag den Preißen in die Hände gefallen wären?“ fuhr sie laut, zu dem Edlen von Schirnding gewendet, fort.
„Den Preißen? – Wir gehen doch jetzt Hand in Hand mit den Preißen!“
„So? Ist der Krieg also endlich aus! No ja, der Windischgrätz, der hat’s ihnen halt wieder amal gegeben.“
„Nein, Gnädigste, wir sind mit die Preißen“ – meldete sich der Pinguin – „will sagen: mit ‘denen’ Preißen – schon seit drei Jahren gegen die Russen verbündet und – “ („Ver- bin-dät!“-bekräftigte der Baron Elsenwanger. -) „– und kämpfen Schulter an Schulter mit ihnen. – Er ist – “ Er brach höflich ab, als er das ironische, ungläubige Lächeln der Gräfin bemerkte.
Das Gespräch stockte, und man hörte eine halbe Stunde lang nur noch das Klappern der Messer und Gabeln oder das leise klatschende Geräusch, wenn Bosena mit ihren nackten Füßen um den Tisch herumging und neue Speisen auftrug. —
Baron Elsenwanger wischte sich den Mund: „Herrschaften! Wollen wir jetzt zum Whist – ?“
Ein dumpfes, langgezogenes Geheul klang durch die Sommernacht aus dem Garten herauf und schnitt ihm die Rede ab – :
„Jesus, Maria – ein Vorzeichen! Der Tod ist im Haus!“ – „Brock! Mistvieh, verfluchtes. Kusch dich!“ hörte man die halblaute Stimme eines Dieners unten im Park schimpfen, als der Pinguin die schweren Atlasvorhänge beiseite geschoben und die Glastür dahinter, die auf die Veranda führte, geöffnet hatte. —
Eine Flut von Mondlicht ergoss sich in das Zimmer, und kühler Luftzug voll Akazienduft machte die Kerzenflammen in den gläsernen Kronleuchtern flackern und schwelen.
Auf dem kaum handbreiten Sims der hohen Parkmauer, hinter der ein Dunstmeer aus dem tief unten jenseits der Moldau schlummernden Prag rötlichen Dunst empor zu den Sternen hauchte, schritt langsam und aufrecht ein Mann, die Hände tastend vorgestreckt wie ein Blinder – bald gespenstisch halb verdeckt durch die silhouettenhafte Schlagschatten der Baumäste, dass es schien, als sei er aus glitzerndem Mondlicht geronnen, dann wieder grell beschienen, wie frei schwebend über dem Dunkel.
Der kaiserliche Leibarzt Flugbeil traute seinen Augen nicht: Eine Sekunde lang glaubte er, er träume, dann brachte ihn das plötzliche, wütende Aufbellen des Hundes zur Besinnung – er hörte einen gellenden Schrei, sah die Gestalt auf dem Sims schwanken und, wie von einem lautlosen Windstoß weggeweht, verschwinden.
Das Prasseln und Brechen von Zweigen und Gebüsch verriet ihm, dass der Mann in den Garten gefallen war. —
„Mörder, Einbrecher! – Man muss die Wache holen!“ zeterte der Edle von Schirnding, der auf den Schrei hin mit der Gräfin aufgesprungen und zur Tür geeilt war.
Konstantin Elsenwanger hatte sich wimmernd auf die Knie geworfen, das Gesicht in den Sitzpolstern seines Lehnstuhls vergraben, und betete, in den gefalteten Händen noch ein gebratenes Hühnerbein, das Vaterunser.
Auf die schrillen Befehle des kaiserlichen Leibarztes, der wie ein riesiger nächtlicher Vogel mit federlosen Flügelstümpfen von der Verandabrüstung hinab in die Finsternis gestikulierte, kam die Dienerschaft aus dem Portierhäuschen in den Park gelaufen und durchsuchte mit Windlichtern, wild durcheinanderrufend, die dunklen Bosketts. Der Hund schien den Eindringling gestellt zu haben, denn er bellte laut und anhaltend in regelmäßigen Intervallen.
„No alsdann, was ist denn, habts den preißischen Kosaken endlich?“ zürnte die Gräfin, die von Anfang an nicht die Spur von Aufregung oder Angst gezeigt hatte, durch ein offenes Fenster hinunter.
„Heilige Muttergottes, er hat den Hals gebrochen!“ hörte man das Dienstmädchen Bosena jammernd aufkreischen; dann trugen die Leute den leblosen Körper eines Menschen von dem Fuß der Mauer her in den Lichtschein, den das helle Zimmer hinaus auf den Rasenplatz warf.
„Bringt ihn herauf! Rasch! Bevor er verblutet“, befahl die Gräfin kalt und ruhig, ohne auf das Gewinsel des Hausherrn zu achten, der entsetzt dagegen protestierte und verlangte, man solle den Toten über die Mauern den Abhang hinunterwerfen – ehe er wieder lebendig werden könne.
„Bringt ihn wenigstens hier hinein ins Bilderzimmer“, flehte Elsenwanger, drängte die Greisin und den Pinguin, der einen der brennenden Armleuchter ergriffen hatte, in den Ahnensaal und verschloss die Tür hinter ihnen.
Außer ein paar geschnitzten Stühlen mit hohen vergoldeten Lehnen und einem Tisch standen keinerlei Möbel in dem langgezogenen, gangartigen Raum – der dumpfe morsche Geruch und die Staubschicht auf dem Steinboden verrieten, dass er nie gelüftet wurde und seit langem nicht mehr betreten worden war.
Die lebensgroßen Gemälde darin waren ohne Rahmen in die Täfelungen der Wände eingelassen: Porträts von Männern in Lederkollern, Pergamentrollen gebieterisch in den Händen haltend – Frauen dazwischen mit Stuartkragen und Puffen an den Ärmeln – ein Ritter in weißem Mantel mit Malteserkreuz, eine aschblonde junge Dame im Reifrock, Schönheistpflästerchen auf Wange und Kinn, ein grausames, wollüstig-süßes Lächeln in den verderbten Zügen, mit wundervollen Händen, schmaler, gerader Nase, feingeschnittenen Nüstern und feinen, hochgeschwungenen Brauen über den grünlichblauen Augen – eine Nonne im Habit der Barnabiterinnen – ein Page – ein Kardinal mit asketischen, mageren Fingern, bleigrauen Lidern und versunkenem, farblosem Blick. So standen sie in ihren Nischen, dass es aussah, als kämen sie aus dunklen Gängen herbei ins Zimmer, aufgeweckt nach jahrhundertelangem Schlaf infolge des flackernden Glanzes der Kerzen und der Unruhe im Haus. – Bald schienen sie sich heimlich verbeugen zu wollen voll Vorsicht, dass nicht ein Rascheln der Kleider sie verrate – schienen die Lippen zu bewegen und lautlos wieder zu schließen, mit den Fingern zu zucken oder die Mienen hochzuziehen, um sofort in Starrheit zu versinken, als hielten sie den Atem an und ließen ihr Herz stillstehen, wenn der Blick der beiden Lebenden sie flüchtig streifte.
„Sie werden ihn nicht retten können, Flugbeil“, sagte die Gräfin und sah wartend unverwandt zur Tür. „Es ist wie damals. Wissen Sie! Er hat den Dolch im Herzen stecken. – Sie werden wieder sagen: Hier ist leider jede menschliche Kunst am Ende.“
Der kaiserliche Leibarzt verstand im ersten Moment nicht, was sie meinte. Dann begriff er mit einemmal. – Er kannte das an ihr. Sie verwechselte die Vergangenheit mit der Gegenwart – pflegte dergleichen zuweilen zu tun.
Dasselbe Erinnerungsbild, das ihr Gedächtnis verwirrte, wurde plötzlich auch in ihm lebendig: Vor vielen, vielen Jahren hatte man in ihrem Schloss auf dem Hradschin ihren Sohn erstochen ins Zimmer hineingetragen. Und vorher ein Schrei im Garten, das Bellen eines Hundes – alles genau wie heute. Wie jetzt hier im Raum waren auch damals Ahnenbilder an den Wänden gehangen und war ein silberner Armleuchter auf dem Tisch gestanden. – Einen flüchtigen Augenblick lang war der Leibarzt so verwirrt, dass er nicht mehr wusste, wo er war. Die Erinnerung hielt ihn so gefangen, dass es ihm gar nicht wie Wirklichkeit vorkam, als man den Verunglückten zur Tür hereinbrachte und vorsichtig niederlegte. Er suchte unwillkürlich nach Worten des Trostes für die Gräfin wie einst, bis ihm mit einem Schlag klar bewusst wurde, dass es doch nicht ihr Sohn war, der hier lag, und dass statt ihrer jugendlichen Erscheinung von damals eine Greisin mit weißen Ringellocken am Tisch stand. —
Eine Erkenntnis, schneller als ein Gedanke und schneller, als dass er sie richtig hätte erfassen können, durchzuckte ihn und ließ das dumpfe, rasch verdämmernde Gefühl in ihm zurück, dass die „Zeit“ nichts als eine diabolische Komödie sei, die ein allmächtiger unsichtbarer Feind dem menschlichen Gehirn vorgaukelt.
Nur die einzige Furcht blieb ihm als Ernte: dass er blitzartig mit dem inneren Empfinden einen Moment lang begriffen hatte – was er früher niemals richtig zu verstehen fähig gewesen war – , nämlich die seltsamen befremdlichen Seelenzustände der Gräfin, die bisweilen sogar historische Ereignisse aus der Zeit ihrer Ahnen als gegenwärtig empfand und mit ihrem Alltagsleben unentwirrbar zu verknüpfen pflegte.
Er empfand es wie einen unwiderstehlichen Zwang, dass er sagen musste: Wasser bringen! Verbandsseug! – dass er sich wieder, wie damals, herabbeugte und nach den Aderlassschnepper in seiner Brusttasche griff, den er aus alter, längst überflüssig gewordener Gewohnheit immer bei sich trug.
Erst als der Atemhauch aus dem Munde des Ohnmächtigen seine prüfenden Finger traf und sein Blick zufällig auf die nackten, weißen Schenkel Bosenas fiel, die mit der den böhmischen Bauernmädchen eigentümlichen, schamfreien Ungeniertheit sich mit emporgerutschtem Rock niedergekauert hatte, um besser sehen zu können – kam er wieder völlig ins Gleichgewicht: Das Bild der Vergangenheit löste sich angesichts der fast schreckhaften Gegensätze zwischen blühendem jungem Leben, der Totenstarre des Bewusstlosen, den schemenhaften Gestalten der Ahnengemälde und den greisenhaft gefurchten Zügen der Gräfin wie ein verdunstender Schleier von der Gegenwart.
Der Kammerdiener stellte den Leuchter mit den brennenden Kerzen auf den Boden, und ihr Schein erhellte das eigentümlich charakteristische Gesicht des Verunglückten, der – die Lippen unter dem Einfluss der Ohnmacht aschfarben und widernatürlich abstechend von den grellrot geschminkten Wangen – eher der wächsernen Figur einer Schaubude als einem Menschen glich.
„Heiliger Wenzel, es ist der Zrcadlo!“ rief das Dienstmädchen und zog – wie unter der Empfindung, als habe das Pagenporträt in der Wandnische infolge des Lichtflackerns plötzlich ein begehrliches Auge auf sie geworfen – züchtig ihren Rock über die Knie.
„Wer ist s?“ fragte die Gräfin erstaunt.
„Der Zrcadlo – der „Spiegel’“, erklärte der Kammerdiener, den Namen Zrcadlo aus dem Tschechischen ins Deutsche übersetzend, „mir nennt ihn so hier heroben auf dem Hradschin, aber mir weiß nicht, ob er wirklich so heißt. – Er ise sich Aftermieter bei der – “ er stockte verlegen, „bei der – no, halt bei der ‘böhmischen Liesel’.“
„Bei wem?“
Das Dienstmädchen kicherte in den vorgehaltenen Arm, und auch das übrige Gesinde verbiss mühsam das Lachen. Die Gräfin stampfte mit dem Fuße auf:
„Bei wem, will ich wissen!“
„Die „böhmische Liesel“ war in früheren Jahren eine berühmte – Hetäre“, nahm der Leibarzt das Wort und richtete sich an dem Verunglückten auf, der bereits die ersten Lebenszeichen von sich gab und mit den Zähnen knirschte. „Ich wusste gar nicht, dass sie noch lebt und sich auf dem Hradschin herumtreibt; sie muss ja uralt sein. Sie wohnt wohl – “ – „in der Totengasse, da, wo die schlechten Madeln alle beisamm’ sind“, bekräftigte Bosena eifrig.
„So geh sie das Frauenzimmer holen!“ befahl die Gräfin. Dienstbeflissen eilte das Mädchen hinaus.
Inzwischen hatte sich der Mann aus seiner Betäubung erholt, starrte eine Weile in die Kerzenflammen und stand dann langsam auf, ohne die geringste Notiz von seiner Umgebung zu nehmen.
„Glaubt ihr, dass er hat einbrechen wollen?“ fragte die Gräfin halblaut das Gesinde.
Der Kammerdiener schüttelte den Kopf und tupfte sich vielsagend auf die Stirn, um anzudeuten, dass er ihn für wahnsinnig halte.
„Meines Erachtens handelt es sich um einen Fall von Schlafwandeln“, erklärte der Pinguin. „Solche Kranke pflegen bei Vollmond von einem unerklärlichen Wandertrieb befallen zu werden, in dem sie dann, ohne sich dessen bewusst zu sein, allerhand seltsame Handlungen begehen, Bäume, Häuser und Mauern erklettern und oft auf den schmalsten Stegen und in schwindelnder Höhe, zum Beispiel auf Dachrinnen, mit einer Sicherheit einherschreiten, die ihnen bestimmt mangeln würde, wenn sie wach wären. – Holla, Sie, Pane Zrcadlo“, wandte er sich an den Patienten, „glauben Sie, sind Sie jetzt so weit bei sich, dass Sie nach Hause gehen können?“
Der Mondsüchtige gab keine Antwort; trotzdem schien er die Frage gehört, wenn auch nicht verstanden zu haben, denn er drehte langsam den Kopf nach dem kaiserlichen Leibarzt und blickte ihm mit leeren, unbeweglichen Augen ins Gesicht.
Der Pinguin fuhr unwillkürlich zurück, strich sich ein paarmal nachdenklich über die Stirn, als stöberte er in seinen Erinnerungen, und murmelte: „Zrcadlo? Nein. Der Name ist mir fremd. – Aber ich kenne diesen Menschen doch! – Wo hab’ ich ihn nur gesehen?!“
Der Eindringling war hochgewachsen, hager und dunkelhäutig; langes, trockenes, graues Haar hing ihm wirr um den Schädel. Das schmale, bartlose Gesicht mit der scharfgeschnittenen Hakennase, der fliehenden Stirn, den eingesunkenen Schläfen und dem verkniffenen Lippen, dazu die Schminke auf den Wangen und der schwarze, abgetragene Samtmantel – alles das wirkte durch die Schroffheit des Widerspiels, als habe ein wüster Traum und nicht das Leben selbst diese Gestalt in den Raum gestellt.
„Er sieht aus wie ein Pharao der alten Ägypter, der die Verkleidung eines Komödianten gewählt hat, um zu verbergen, dass seine Mumie unter der Maske steckt“, schoss dem kaiserlichen Leibarzt ein krauser Gedanke durch den Kopf. „Unbegreiflich, dass ich mich nicht entsinnen kann, wo ich diesen doch so auffallenden Zügen begegnet bin?“
„Der Kerl ist tot“, brummte die Gräfin, halb für sich, halb zu dem Pinguin gewendet, und studierte furchtlos und ungeniert, als handle es sich um die Betrachtung einer Statue, in unmittelbarster Nähe durch ihre Lorgnette das Antlitz des aufrecht vor ihr stehenden Mannes – „solche verschrumpelte Augäpfel kann nur eine Leiche haben. – Mir scheint, er kann sie ieberhaupt nicht bewegen, Flugbeil! – So fircht Er sich doch nicht, Konstantin, wie ein altes Weib!“ rief sie laut zur Speisezimmertür, in deren langsam sich öffnender Spalte die bleichen, erschreckten Gesichter des Hofrats Schirnding und des Barons Elsenwanger aufgetaucht waren, „kommen Sie doch beide herein, Sie sehen ja: Er beißt nicht.“
Der Name Konstantin wirkte wie eine seelische Erschütterung auf den Fremden. Er zitterte einen Augenblick heftig von Kopf bis Fuß, und der Ausdruck seiner Züge wechselte blitzartig gleich dem eines Menschen, der, in unglaublicher Weise Herr seiner Gesichtsmuskeln, vor einem Spiegel Fratzen schneidet. – Als seien die Nasen-, Backen- und Kinnknochen unter der Haut plötzlich weich und biegsam geworden, verwandelte sich sein Mienenspiel aus der soeben hochmütig dreinblickenden starren Maske eines ägyptischen Königs, eine ganze Reihe sonderbarer Phasen durchlaufend, nach und nach in eine unverkennbare Ähnlichkeit mit dem Familientypus der Elsenwanger.
Kaum eine Minute später hatte eine gewisse bleibende Physiognomie sein bisheriges Aussehen derart verdrängt und sich in seinen Zügen festgesetzt, dass die Anwesenden zu ihrem größten Staunen momentelang glaubten, einen völlig anderen vor sich zu haben.
Den Kopf auf die Brust gesenkt und die eine Wange wie von einer Zahngeschwulst zum linken Auge, das darunter klein und stechend erschien, emporgezogen, trippelte er eine Weile mit krummen Knien, die Unterlippe vorstreckend, unschlüssig auf dem Tisch herum, tastete dann an seinem Körper nach Taschen und wühlte scheinbar darin.
Endlich erblickte er den Baron Elsenwanger, der sich, sprachlos vor Entsetzen, an den Arm seines Freundes Schirnding geklammert hielt, nickte ihm zu und meckerte: „Konstantindl, gut, dass du kommst, den ganzen Abend hab’ ich dich schon gesucht.“
„Jezis, Maria und Josef“, heulte der Baron und floh zur Tür, „der Tod ist im Haus. Hilfe, Hilfe, da ist ja mein seliger Bruder Bogumil!“
Auch der Edle von Schirnding, der Leibarzt und die Gräfin, die alle drei den verstorbenen Baron Bogumil Elsenwanger bei dessen Lebzeiten gekannt hatten, waren bei dem Ton der Stimme des Schlafwandlers zusammengezuckt, so überaus ähnlich klang sie der des Verblichenen.
Ohne sich im geringsten um sie zu kümmern, eilte Zrcadlo jetzt geschäftig im Zimmer hin und her und rückte an eingebildeten Gegenständen, die offenbar nur er sah, die aber vor dem geistigen Auge der Zuschauer leibhaftige Gestalt anzunehmen schienen, so plastisch und eindringlich waren seine Bewegungen, mit denen er sie anfasste, hob und wegstellte.
Als er dann plötzlich aufhorchte, die Lippen spitzte, zum Fenster trippelte und ein paar Takte einer Melodie pfiff, als säße dort ein Star in einem Käfig – aus einer imaginären Kassette einen ebenso unsichtbaren Mehlwurm nahm und ihn seinem Liebling hinhielt, standen bereits alle so unter dem Bann des Eindrucks, dass sie vorübergehend ganz vergaßen, wo sie waren und sich in die Umgebung zurückversetzt wähnten, in der der tote Baron Bogumil noch hier gehaust hatte.
Erst als Zrcadlo, vom Fenster zurückkommend, wieder in den Lichtschein trat und der Anblick seines schäbigen schwarzen Samtmantels die Illusion für einen Augenblick zerstörte, fasste sie das Grauen an, und sie warteten stumm und widerstandslos, was er weiter beginnen werde.
Zrcadlo überlegte eine Weile, während der er wiederholt aus einer unsichtbaren Dose schnupfte, rückte sodann einen der geschnitzten Sessel in die Mitte des Zimmers vor einen eingebildeten Tisch, setzte sich und begann, vorgebeugt und den Kopf schief gelegt, in der Luft zu schreiben, nachdem er vorher eine imaginäre Gänsefeder genommen, geschnitten und gespalten hatte – wiederum mit so erschreckend das Leben nachahmender Deutlichkeit, dass man sogar das Knirschen des Messers zu hören vermeinte. Mit angehaltenem Atem sahen ihm die Herrschaften zu – das Gesinde hatte bereits vorher auf einen Wink des Pinguins das Zimmer auf Zehenspitzen verlassen – ; nur von Zeit zu Zeit unterbrach ein angstvolles Stöhnen des Barons Konstantin, der von seinem „toten Bruder“ den Blick nicht zu wenden vermochte, die tiefe Stille.
Endlich schien Zrcadlo mit dem Brief, oder was er sonst zu schreiben sich einbildete, fertig zu sein, denn man sah ihn einen komplizierten Schnörkel – offenbar unter seinen Namenszug – setzen. Geräuschvoll schob er den Stuhl zurück, ging zur Wand, suchte lange in einer Bildernische, in der er tatsächlich einen – wirklichen Schlüssel fand, drehte an einer Holzrosette an der Täfelung, sperrte ein dahinter sichtbar werdendes Schloss auf, zog ein Fach heraus, legte seinen „Brief“ hinein und drückte die Schublade in die Wand zurück.
Die Spannung der Zuschauer hatte sich so gesteigert, dass niemand die Stimme Bosenas hörte, die draußen vor der Tür halblaut rief: „Milostpane! Gnä’ Herr! Dirfen wir herein?“
„Haben – haben Sie’s gesehen? Flugbeil, haben Sie’s auch gesehen? War das nicht eine wirkliche Schublade, was mein Bruder selig da aufgemacht hat?“ brach Baron Elsenwanger stockend und schluchzend vor Aufregung das Schweigen; „ich hab’ doch gar nicht geahnt, dass da eine Schublad ist.“ Jammernd und die Hände ringend, brach er los: „Bogumil, um Gottes willen, ich hab’ dir doch nichts getan! Heiliger Vaclav, vielleicht hat er mich enterbt, weil ich seit dreißig Jahren nicht in der Teinkirche war!“
Der kaiserliche Leibarzt wollte zur Wand gehen und nachsehen, aber ein lautes Klopfen an der Tür hielt ihn davon ab.
Gleich darauf stand eine hohe, schlanke, in Fetzen gehüllte Weibsperson im Zimmer, die von Bosena als die „böhmische Liesel“ vorgestellt wurde.
Ihr Kleid, ehemals kostbar und mit Schmelz besetzt gewesen, verriet noch immer durch seinen Schnitt und wie es sich um Schultern und Hüften legte, welche Sorgfalt auf seine Herstellung verwandt worden war. Der bis zur Unkenntlichkeit zerknüllte und von Schmutz starrende Besatz an Hals und Ärmeln bestand aus echten Brüsseler Spitzen.
Das Frauenzimmer mochte hoch in den Siebzigern sein, aber immer noch wiesen ihre Züge trotz der grauenhaften Verwüstung durch Leid und Armut die Spuren einstiger großer Schönheit auf.
Eine gewisse Sicherheit im Benehmen und die ruhige, beinahe spöttische Art, mit der sie die drei Herren ansah – die Gräfin Zahradka würdigte sie überhaupt keines Blickes – ließen darauf schließen, dass ihr die Umgebung in keiner Weise imponierte.
Sie schien sich eine Zeitlang an der Verlegenheit der Herren, die sie offenbar aus ihrer Jugendzeit her genauer kannten, als sie vor der Gräfin merken lassen wollten, zu weiden, denn sie schmunzelte vielsagend, kam aber dann dem kaiserlichen Leibarzt, der etwas Unverständliches zu stottern begann, mit der höflichen Frage zuvor:
„Die Herrschaften haben nach mir geschickt; darf man wissen, worum es sich handelt?“
Verblüfft über das ungewöhnlich reine Deutsch und die wohlklingende, wenn auch ein wenig heisere Stimme, nahm die Gräfin ihre Lorgnette vor und musterte mit funkelnden Augen die alte Prostituierte. Aus der Befangenheit der Herren schloss sie mit richtigem weiblichem Instinkt sofort auf die wahre Ursache und rettete die peinlich gewordene Situation mit einer Reihe rascher, scharfer Gegenfragen:
„Dieser Mann dort“ – sie deutete auf Zrcadlo, der, das Gesicht zur Wand gekehrt, regungslos vor dem Bildnis der blonden Rokokodame stand – ist vorhin eingedrungen. Wer ist er? Was will er? Er wohnt, här’ ich, bei Ihnen? – Was is mit ihm? Is er wahnsinnig? Oder besoff – ?“ – sie brachte das Wort nicht heraus – bei der bloßen Erinnerung, was sie vor kurzem mit angesehen, packte sie wieder das Grausen. – „Oder – oder, ich meine – hat er Fieber? – Ist er vielleicht krank?“ milderte sie den Ausdruck.
Die „böhmische Liesel“ zuckte die Achseln und drehte sich langsam zu der Fragerin; in ihren wimpernlosen, entzündeten Augen, die in die leere Luft zu schauen schienen, als stünde dort, woher die Worte gekommen waren, überhaupt niemand, lag ein Blick, so hochfahrend und verächtlich, dass der Gräfin unwillkürlich das Blut ins Gesicht stieg.
„Er ist von dem Gartentor heruntergefallen“, mischte sich der kaiserliche Leibarzt schnell ein. „Wir glaubten anfangs, er sei tot, und haben deshalb nach Ihnen geschickt. – Wer und was er ist“ – fuhr er krampfhaft fort, um zu verhindern, dass sich die Sachlage weiter unangenehm zuspitze, „tut ja nichts zur Sache. Allem Anschein nach ist er ein Schlafwandler. – Sie wissen doch, was das ist? – Nun, sehen Sie, ich hab’ mir gleich gedacht, dass Sie wissen, was das ist. – Ja. Hm. – Und da müssen Sie halt des Nachts auf ihn ein bissel achtgeben, damit er nicht wieder ausbricht. – Vielleicht haben Sie die Güte, ihn jetzt wieder heimzubringen? Der Diener oder die Bosena kann Ihnen dabei behilflich sein. Hm. Ja. – Nicht wahr, Baron, Sie geben doch die Erlaubnis?“
„Jaja. Nur hinaus mit ihm!“ wimmerte Elsenwanger. „O Gott, nur fort, nur fort.“
„Ich weiß bloß, dass er Zrcadlo heißt und wahrscheinlich ein Schauspieler ist“, sagte die „böhmische Liesel“ ruhig. „Er geht des Nachts in den Weinstuben herum und macht den Leuten etwas vor. – Freilich, ob er“ – sie schüttelte den Kopf – „ob er selber weiß, wer er ist, hat wohl noch keiner herausgebracht. – Und ich kümmere mich nicht darum, wer und was meine Mieter sind. – Ich bin nicht indiskret. – Pane Zrcadlo! Kommen Sie! So kommen Sie doch! – Sehen Sie denn nicht, dass hier keine Gastwirtschaft ist?“
Sie ging zu dem Mondsüchtigen und fasste ihn an der Hand. —
Willenlos ließ er sich zur Tür führen.
Die Ähnlichkeit mit dem verstorbenen Baron Bogumil war vollständig aus seinen Zügen gewichen; seine Gestalt schien wieder größer und straffer, sein Gang sicher und das normale Selbstbewusstsein halb und halb zurückgekehrt – trotzdem nahm er noch immer keine Notiz von den Anwesenden, als seien alle seine Sinne für die Außenwelt verschlossen wie die eines Hypnotisierten.