Czytaj książkę: «Ein Schlüssel zur inneren Biografie»

Czcionka:

Günther Dellbrügger

EIN SCHLÜSSEL
ZUR INNEREN BIOGRAFIE


INHALT

EINLEITUNG: UNTERWEGS ZU SICH SELBST

1WER BIN ICH?

Zukunftsaspekte der Kindheit

Stufen der Abnabelung

Erste Ich-Erfahrungen

Anruf aus der Zukunft

Entwicklung durch Begegnung

Stufen der Gewissensbildung

2RELIGION IM ICH

Die innere Kraft von Natascha Kampusch

Im Ringen um die innere Freiheit

Vertrag mit dem zweiten Ich

Vertrauen: eine Religion im Ich

3DIE FREIE KRAFT IM MENSCHEN

Das Schwert: Bild des Ich

Das Schwert neu schaffen

Mitleid wird zu Freiheit

Entschluss, zu lieben

4MIT MIR IM DIALOG

Juan Ramón Jiménez, Yo no soy yo

5DAS GEHEIMNIS DES ICH – JOHANN GOTTLIEB FICHTE

Idealismus

Biografische Streiflichter

Lebenskrise

Professor in Jena

Religions-Erkenntnis

Ursprung des Gewissens

»Nicht ich ...«

Ein Funke kann überspringen

6MENSCHEN-ICH UND STERNEN-ICH. EIN DICHTERISCHER SCHULUNGSWEG

Ein Stern singt

Kosmisches Präludium

Weihe dich einer Gefahr

7TREUE ZU SICH SELBER

Sterben – eine Reifeprüfung

Fragen an uns selber

Von der Wichtigkeit des Gesprächs

Das Beispiel der Beichte

8URBILDER DER INNEREN BIOGRAFIE

Die Himmelsleiter

Auf den Hindernissen erscheinen die Engel

»Ihr müsst von Neuem geboren werden«

Stirb und werde!

9»ICH BIN DER STERNENWANDERER«

Lazarus im Werk Dostojewskis

»Lazarenische Literatur« (Jean Cayrol)

Der Archipel Gulag

Schwellenerfahrungen

Einsamkeit und Gemeinschaft

»Die Welt ist ein einziges Durchgangslager«

Das Lager: Ort der Wahrheit

10WEGE ZUR STÄRKUNG DES ICH

Wache auf, der du schläfst!

Geisteskampf

ABSCHLUSS: ÜBER DEN TOD HINAUS

ANHANG

ANMERKUNGEN

Warten können

heißt warten wollen.

Geduld haben

heißt Geduld üben.

Selbstbeherrschung erlangen

heißt dem eigenen Selbst

die Beherrschung

zu ermöglichen.

Gelassen werden

heißt innerlich loslassen,

weil man den Halt

im Ich gefunden hat.

Till von Grotthuss1

EINLEITUNG UNTERWEGS ZU SICH SELBST

»Die Würde des Menschen ist unantastbar.«

So steht es in unserem Grundgesetz. Dieses Bekenntnis zum Menschen, zu allen Menschen, ist den Gräueln des »Dritten Reichs« abgerungen. Die Wertschätzung des Einzelnen als »Geschöpf Mensch« ist ein großes Ideal, das in geistigen Sphären urständet. Die Würde des Menschen ist eine geistige Tatsache. Doch Tatsache ist auch, dass die Würde des Menschen weltweit täglich missachtet wird. Was folgt daraus? Dass wir erst am Anfang stehen, dieses Menschheits-Ideal zu verwirklichen, und in unseren Bemühungen nicht nachlassen dürfen, wenngleich der Weg vom Ideal zur Tat ein weiter ist und den einzelnen Menschen in seinem innersten Kern fordert.

An diesem inneren Kern lässt uns beispielsweise der ehemalige UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld in seinem posthum veröffentlichten Tagebuch Zeichen am Weg2 teilnehmen. Seine Aufzeichnungen legen Zeugnis ab von dem Ernst und dem Ringen um seine innere Biografie.

Obwohl in unserer Zeit der Individualismus angepriesen wird wie nie zuvor, sind die Attacken auf die Persönlichkeit massiv und treten aus ihrer Verschleierung mehr und mehr in das Licht unseres Bewusstseins. Wird die weltweite Gemeinde/Global Community durch unsere Stärke hergestellt, oder durch die Technik? Sind unsere Empathie, unser Wille zur Tat, unsere Erkenntnisse entsprechend mitgewachsen? Was ist konkret unter dem Begriff »Individualität« zu verstehen? Entwickelt sich Individualität auf ein Ziel hin? Haben wir dieses Ziel, Individualität zu sein, schon erreicht?

In diesem Buch umkreisen wir die Suche des Menschen nach seiner ureigenen Bestimmung und auch die Suche nach der eigenen unverwechselbaren Bestimmung des Menschen als Person. So finden sich in den einzelnen Kapiteln sehr verschiedene Motive zu dieser Suche. Immer zeigt sich in der inneren Biografie des Einzelnen das Ringen um einen Einklang mit sich selbst. Wer will nicht am Ende seines Lebens das Gefühl haben: Ich bin mir treu geblieben, ich habe mich von meinen Idealen leiten lassen.

1WER BIN ICH?

Der Angriff auf den Menschen und seine Entwicklung beginnt heute schon im frühen Kindesalter und hört bis zum Lebensende nicht auf. Wir wissen viel über die ersten drei Jahre des Kindes, sein Aufgehoben-Sein in einer geistigen Kraft, aus der heraus es die Grundfähigkeiten als Mensch entwickelt, bis hin zu dem ersten zarten »Ich-Erleben«.

Die Jahre der mittleren Kindheit und deren Mitgift für die innere Biografie des Menschen leben weniger deutlich in unserem Bewusstsein. Sie sind jedoch entscheidend für den weiteren Verlauf der Entfaltung und Selbstfindung des Menschen. Die Umbrüche dieser Lebensperiode sind ein Schlüssel für die innere Biografie. Aus diesem Verständnis heraus, zu dem das erste Kapitel einen Beitrag leisten möge, lassen sich die darauf folgenden Kapitel in einem neuen Licht sehen. Der Stern des Menschen, sein höheres Wesen, sein zweites Ich als Schlüssel seines Lebensweges erreicht den Einzelnen auf den unterschiedlichsten Bahnen. Von diesem Weg legen die weiteren Kapitel in je eigener Weise Zeugnis ab.

ZUKUNFTSASPEKTE DER KINDHEIT

Die Mitte der Kindheit3 ist eine Wendezeit. Abstand nehmen und »Reflexion« (Umwendung) üben, sich heraussondern und als eigenes Wesen erleben – das ist in dieser Phase des Lebens von Bedeutung. Der so gewonnene Abstand, das Wahrnehmen erster Veränderungen werden durchlebt und zugleich durchlitten. Die Frucht dieser Lebensperiode ist eine Wegzehrung, die wie Sternensamen in den kommenden Jahren immer wieder aufblitzt und auf dem weiteren Lebensweg voranleuchtet.

STUFEN DER ABNABELUNG

Betrachten wir unter diesem Gesichtspunkt genauer die Lebensstufen, die jeder Mensch durchläuft, so macht er schon vor der Geburt tiefe Erlebnisse von Aussonderung und Trennung durch – nur weniger bewusst. Schauen wir zunächst auf den Anfang des Erdenlebens, auf die Geburt. Wir als Eltern, als Erwachsene und Geschwister, freuen uns, wenn ein Kind das Licht der Welt erblickt. Ein altes Kinderlied spricht vom Stern, der jeden Geburts-Tag überleuchtet.

Im Erleben des Kindes sieht der Geburtsvorgang möglicherweise sehr anders aus. Man spricht von der Gefahr eines »Geburtstraumas«. Was ist damit gemeint? Der österreichische Anatom Joseph Hyrtl (1810–1894), der sich sein Leben lang für das Wohl von Waisen und Kindern aus bedürftigen Familien eingesetzt hat und ein vehementer Gegner einer einseitig materialistischen Weltanschauung war, versuchte, sich ganz in den vorgeburtlichen, lebensreifen Embryo zu versetzen und aus dessen Erleben den Geburtsvorgang zu schildern. Denn es gibt neben der Freude der Familie und den Schmerzen der gebärenden Mutter auch den Schmerz des zur Welt kommenden Kindes!

»Der Embryo im Mutterleib müsste, sofern er Selbstbewusstsein hätte und im Voraus wüsste, was beim Vorgang der Geburt mit ihm geschehen wird, diesen Vorgang zweifellos für seine absolute Vernichtung halten.«4

Warum? Die schützenden Hüllen werden zerreißen, das Fruchtwasser wegfließen, in dem das Kind bisher sein Lebenselement hatte! Dann muss es sich durch eine »würgende Enge« zwängen, wie durch einen zu klein erscheinenden Höhlenausgang. Schließlich wird die Nahrung bringende Nabelschnur durchtrennt. Aus dieser Sicht erscheint ein Überleben der Geburt höchst unwahrscheinlich ...

Aber zum Glück eröffnet die physische Geburt eine andere Zukunft. Ist der Geburtsschmerz überwunden und findet das Neugeborene eine liebevolle, umhüllende Aufnahme, kann es schnell gedeihen. In den ersten Jahren ist das Kind vollständig auf den anderen Menschen angewiesen. Wie anders ist das bei den hochentwickelten Säugetieren, bei denen das Jungtier schon voll ausgereift zur Welt kommt! Demgegenüber braucht das kleine Kind eine Schutzhülle, vergleichbar dem Uterus der Mutter, um im ersten Jahr leben und sich entwickeln zu können. Deshalb spricht man vom »extra-uterinen Frühjahr« (Adolf Portmann), in dem auch das Geburtstrauma durch Erfahrung von Geborgenheit, Nähe und Sicherheit überwunden werden kann. So bildet die physische Geburt eine erste Stufe im Selbstständig-Werden des Menschen. Es ist die Abnabelung, die sich jetzt im Physischen, später im Bereich der Lebensprozesse und Lebenskräfte und – beginnend mit der Mitte der Kindheit – im Seelischen fortsetzen wird.

Die Entwicklung des Kindes in den ersten drei Jahren ist ein Wunder, das nicht oft genug bestaunt werden kann. Nie im Leben später ist der Mensch wieder so tätig und »erfolgreich«. Als Kinder lernen wir, unsere Leiblichkeit im Raum zu orientieren, uns selber in die Gesetzmäßigkeiten des Raumes hineinzustellen und die Schwerkraft zu ordnen. Wir lernen, an der Sprache Geistiges zu erfassen, zu verstehen und selber ins Wort zu bringen. Wir nennen das Denken-Lernen. Wir gehen in der Nachahmung über die Nachahmung hinaus und erwerben uns denkend einen eigenen Zugang zur Welt geistiger Vorgänge, Inhalte und Wesen. Die Fähigkeiten von Stehen und Gehen, der Spracherwerb und das aufkeimende Denken werden ohne ein bewusstes Lernen erworben.

ERSTE ICH-ERFAHRUNGEN

Diese ersten Kindes-Jahre kulminieren in einer Erfahrung, die vermutlich jedes Kind macht – mehr oder weniger bewusst. Es ist die Erfahrung: »Ich bin ein Ich.« Es gibt eine Reihe von Erinnerungsberichten über diese Erfahrung, besonders von Schriftstellern. Die plastische Anschaulichkeit und individuelle Verschiedenheit in der Schilderung dieses gleichen Erlebnisses ist erstaunlich. So erzählt Jacques Lusseyran (1924–1971) von einer Erinnerung an seinen vierten Geburtstag – so klar wie ein Bild, das an der Wand hängt: Er lief auf dem Gehweg auf ein Dreieck aus Licht zu, das sich wie auf eine Meeresküste öffnete. Während er noch mit Armen und Beinen ruderte, sagte er sich: »Ich bin vier Jahre alt, und ich bin Jacques.« Er erlebte diesen Moment als »Geburt der Persönlichkeit«, als einen Moment großer freudiger Erregung: »... der Strahl allumfassender Freude hatte mich getroffen, ein Blitz aus wolkenlosem Himmel.«5

Der Schriftsteller Jean Paul (1763–1825) hat ebenfalls seine erste bewusste Ich-Erfahrung in Form einer kleinen, kostbaren Erzählung geschildert:

»Eines Tages an einem Vormittag stand ich als ein sehr junges Kind unter der Haustür und sah links nach der Holzlage, als auf einmal das innere Gesicht ›Ich bin ein Ich‹ wie ein Blitzstrahl vom Himmel vor mich fuhr und seitdem leuchtend stehen blieb. Da hatte mein Ich zum ersten Mal sich selber gesehen und auf ewig.«6

In diesen beiden stellvertretend genannten Schilderungen ist das Ich-Erleben verbunden mit einem Licht-Erleben von außen im Raume. Das Licht kommt von vorn oder von oben – »wie ein Blitzstrahl« – und trägt das Ich-Erleben. Wie schön, dass das Wort »ich« auch in »L-ich-t« enthalten ist!

ANRUF AUS DER ZUKUNFT

Etwa im neunten bis zehnten Lebensjahr beginnt im Kind eine Doppelbewegung zu wirken. Was in den ersten Lebensjahren überpersönlich am Menschenkind sich vollbringt – gehen, sprechen, denken –, erlebt jetzt in einem großen Umbruch seinen Abglanz. Das Kind erwirbt in einer Doppelbewegung ein persönliches Verhältnis zu den Gesetzmäßigkeiten von Raum und Zeit und den geahnten Dimensionen einer spirituellen Welt. In dieser Zeit taucht das Erleben »Ich bin ein Ich« auf neue Weise wieder auf, wie eine Oktave zum früheren Erleben, aber wie eine Oktave nach unten! Denn es ist nun kein Licht-Erleben, das die Ich-Erfahrung dem Kind zuträgt, unvermittelt wie ein Blitz aus heiterem Himmel, sondern in diesem Lebensalter taucht die Ich-Erfahrung aus den Tiefen der eigenen Seele herauf. Sie »taucht auf« – ganz wörtlich zu nehmen! – aus dem Meer des eigenen Seins, in das sie wie »untergetaucht« war.

In einem neuen Erwachen erlebt das älter werdende Kind tiefe Fragen: Wer bin ich? Wo bin ich? Was ist das für eine Welt? Alles wird frag-würdig, neu und rätselhaft. Ein hellerer Bewusstseinszustand führt das Kind in eine weitere Distanzierung zu seiner Umwelt und zu einem Erleben von Einsamkeit und Sehnsucht. Auch für dieses Erleben seien einige Zeugnisse angeführt. Sie schildern das Ich-Erwachen an der Schwelle zur mittleren Kindheit, sie schildern dasselbe, aber in charakteristisch verschiedener Weise. Hier leuchtet schon ein großes Geheimnis unseres Menschseins auf: Als Menschen ist uns gemeinsam, dass jedem von uns ein Ich eignet. Aber diese Gemeinsamkeit ist gerade der Grund unserer Verschiedenheit. Denn jeder lebt sein Ich auf andere Weise!

Der schon genannte Jean Paul erzählt aus seinen Knabenjahren, wie dieses neue Erleben anders ist als beim kleinen Kind, wie es von Sehnsucht durchtränkt ist. Auf dem Heimweg von den Großeltern mittags gegen zwei Uhr schaut er auf die sonnig glänzenden Bergabhänge und die ziehenden Wolken. Da überkommt ihn ein »gegenstandsloses Sehnen«. In diesem Sehnen erlebt er mehr Pein als Lust, ein »Wünschen ohne Erinnern«. Man merkt dieser Schilderung an, wie sie um Worte ringt, um dieses aus dem »tiefen Dunkel des Herzens« aufsteigende Empfinden adäquat auszudrücken:

»Ach, es war der ganze Mensch, der sich nach den himmlischen Gütern des Lebens sehnte, die noch unbezeichnet und farblos im tiefen Dunkel des Herzens lagen, und die sich unter den einfallenden Sonnenstrahlen flüchtig erleuchteten.«7

Aus dem tiefen Dunkel des Herzens steigt eine neue Ich-Erfahrung auf. Ähnlich spricht der Philosoph Karl Jaspers (1883–1969) in seiner Autobiografie über eine Sehnsucht, die ihn als Zehnjährigen beim Lesen einiger Gedichtzeilen ergriffen hat. Es sind die Gedichtzeilen von Friedrich Rückert (1788–1866), die er in seinem Schulbuch aufschlägt, die ihn finden und treffen:

»Aus der Jugendzeit, aus der Jugendzeit

klingt ein Lied mir immerdar,

ach, wie liegt so weit, ach wie liegt so weit,

was mein einst war ...«

Bei diesen Zeilen ergreift ihn eine »hinreißende Sehnsucht«, die die »schmerzvolle, gleichsam totale Erinnerung des unergründlichen Gelebt-Habens« in ihm aufruft. In der Seele steigt ein Ahnen auf von einer unendlichen Fülle, die ihm einmal gegeben war, aber jetzt verloren ist. Die »Seligkeit des mir Unerreichbaren« droht ihm das Herz zu brechen.8

Nüchterner und mit dem ihm eigenen Humor berichtet der Philosoph Ernst Bloch (1885–1977) vom Auftauchen seines Ich-Erlebens. Auf einer Bank im Wald fährt es in ihn: »... und ich spürte ›mich‹ als den, der sich spürte ..., von dem man nie mehr loskommt, so schrecklich wie wunderbar, der ewig in der eigenen Bude ... sitzt. Den man immer vorrätig hat, ... und der zuletzt einsam stirbt.«9

Ich kann mir nicht entkommen, bin mir wie ausgeliefert – das ist die Nuance, die hier bei Ernst Bloch auftritt, ähnlich dem Jugendlichen, der auf einen Zettel schreibt, den er sich an den Spiegel klebt: »Heute bekommst du es wieder mit mir zu tun!« Als letztes Zeugnis zum Ich-Erwachen im neunten bis zehnten Lebensjahr seien Erinnerungen des Dirigenten Bruno Walter (1876–1962) erwähnt. Über die schon bei den bisherigen Schilderungen beschriebenen Elemente der Sehnsucht und der Einsamkeit hinaus, spricht er von einem inneren »Anruf«, der ihm als ein Unbekanntes, Mächtiges ans Herz griff. Er ist allein in der Schule und betritt den großen Hof, der ihm ohne spielende und tobende Kinder doppelt leer und verlassen erscheint. Er ist überwältigt von dieser Stille, lauscht dem leichten Wind und fühlt, wie ihm »aus der Einsamkeit ein Unbekanntes, Mächtiges ans Herz greift«. Er versteht diese neue Erfahrung als eine erste ahnende Empfindung, »dass ich ein Ich war, mein erstes Aufdämmern, dass ich eine Seele hatte und dass sie von irgendwo her – angerufen wurde«.10

Es ist der Ruf aus der Zukunft, einer unbekannten, aber mächtig wirkenden Zukunft. Das ältere Kind tritt in die Spannung ein, die zwischen dem »Nicht-mehr« und dem »Noch-nicht« besteht. Das »Paradies« der Kindheit ist endgültig verloren, das Tor zurück ist verschlossen. Sehnsuchtsvoll wird die Zukunft erwartet. Ein Zehnjähriger bringt es auf die knappe Formel: »Ich bin zu Hause, aber ich habe immer Heimweh.«

Heimweh nach der Zukunft! Das Kind sucht den Leitstern seiner eigenen Biografie. Das innere Gespräch mit dem eigenen höheren Ich beginnt. Das Verhältnis zum Erwachsenen ändert sich – und damit dessen Aufgabe: Kann er als Gegenüber zur Brücke werden, über die das suchende Kind zu sich selbst gelangen kann?

Über diesen etwa drei Jahren vor den Stürmen der Pubertät liegt noch die Ruhe einer keimhaften Selbst-Entwicklung. Körper- und Seelengleichgewicht schenken dem Menschen eine Vorahnung dessen, was er einmal werden kann und will. Der innere Dialog mit der eigenen Zukunft ist Hoffnung und Aufforderung zugleich. Die Stimme des höheren Ich zwingt nicht, ist aber unabweisbar. Sie ist Licht auf dem Weg in einen neuen Entwicklungsraum. Die Sehnsucht nach dem Grund des Lebens erwacht und wird den Menschen von nun an nicht mehr verlassen. Und er bedarf des Erwachsenen, der das Kind führt – nicht zu sich hin, sondern über sich hinaus!

ENTWICKLUNG DURCH BEGEGNUNG

Alle Entwicklung im Menschen geschieht durch Begegnung und Teilhabe. Besonders das Kind braucht die Wahrnehmung des anderen Menschen als Partner, in dem sich das eigene dumpfe Ich-Gefühl durch das Ich des Erwachsenen erweitert. Es ist auf Dialog angewiesen. Das Ich des anderen Menschen spiegelt das eigene Ich als Potenz, als Zukunft. Es wirkt als Lebenswirklichkeit, durch die der Mensch zu seinem eigenen wahren Ich-Wesen ahnend aufwacht.

Auch die Sprache wird als Medium neu erlebt, Erfahrungen werden geschildert und werfen Fragen nach Verarbeitung auf: Warum war das so? Das Kind, getragen von der Sprache, in der es aufgewachsen ist, findet zum bewussten Sprechen. Gleichzeitig vertieft sich das Hören zu einer neuen Haltung. Es werden die Intentionen des anderen ertastet und durchleuchtet: Ist der andere ehrlich, meint er es gut, erlebe ich von ihm Respekt?

Die Suche nach einer neuen Identität kann sich in jedem Fall nur am wahrnehmenden, sprechenden und agierenden Gegenüber entfalten. Das Kind braucht den Erwachsenen wie eine Brücke. Denn die Urverbundenheit des Kleinkindes mit der Welt (»Vater bin ich, Mutter bin ich, Sonne bin ich, alles bin ich« – so ein etwa vierjähriges Kind) ist verschwunden wie ein Regenbogen. Jetzt ist das Kind darauf angewiesen, die Welt zunächst als Inhalt des Lebens des Erziehers kennenzulernen. In dessen Verantwortung liegt es, ob das Kind später durch ihn zum guten Gebrauch der eigenen Freiheit finden kann. Indem der Erwachsene für sich selber nach dem Sinn seines Lebens sucht, zündet er ein Licht an. Dieses Licht kann dem älteren Kind ein Spiegel werden. Indem es das Licht des Erwachsenen erlebt, erwächst in ihm Lebensmut.

STUFEN DER GEWISSENSBILDUNG

Die Vorstufe zum eigenen Handeln ist die Einfühlung, die Empathie. Das Kind will – sich damit identifizierend – hingebungsvoll in den anderen eintauchen und miterleben, »wie Handeln geht«. Es erlebt menschliches Handeln mit, um es daran selber zu lernen. Doch das geht keineswegs reibungslos. Denn um das zehnte Lebensjahr beginnt eine Krise. Das Kind erfährt sein Willensleben neu: als »Nacht«, als Labyrinth, als hinter einer verschlossenen Tür, für das Bewusstsein unzugänglich.

In dieser Phase braucht das Kind Leitbilder, die Wirklichkeit eines anderen sprechenden und handelnden Ich, um dem »dunklen Grund« etwas entgegenzusetzen. Das Kind sucht im anderen Ich Quellen des Handelns, aus denen heraus es selber sein Verhalten mehr und mehr lenken kann. Darin liegt der hohe Auftrag und die Würde der Erziehung. Denn der Begegnungsraum zwischen Kind und Erwachsenem kann Zukunft vorbereiten und eröffnen. In den Jahren ab dem 9. Lebensjahr möchte der Stern des Kindes neu aufleuchten, bevor er zumeist in den Jahren der Pubertät noch einmal verschwindet. Das Gewissen als Zukunftspfand wird in diesen Jahren veranlagt.

Dieses Kapitel sei abgerundet mit Auszügen aus einem Brief, den der Arzt Hans-Müller Wiedemann aus der Seele des Kindes in der Mitte der Kindheit intuitiv an die Erwachsenen schreibt, »von Herz zu Herz«:

»Erzieht mich nicht nach dem Muster, nach dem euch eure Eltern erzogen haben. Denn ich bin anders, als ihr damals gewesen seid ... Ich möchte verstehen lernen, wie ein Mensch dem anderen helfen kann, und was einer dem anderen bedeutet. Denn ich ahne jetzt, dass der Mensch einsam sein kann ... Ich ahne, dass es hinter dem Fühlbaren und Sichtbaren meines Leibes ... noch etwas gibt, was ich auch bin und fühlen möchte. Ich hoffe, dass ihr von dort her zu mir sprechen lernt, wo der unsichtbare Mensch seine Heimat hat und wo sein Stern leuchtet ... Macht euch kein Bild von mir, aber habt Vertrauen in mich ...

... sucht den Sinn eures Lebens. Dieses Licht in euch wird wie ein Spiegel sein. Ich kann darin euren Sinn in meinen Mut verwandelt sehen ...

Die Welt ist nicht immer schön, aber sie ist wichtig für mich. Auch jede menschliche Beziehung in ihr ist wichtig ...«11

Diese Zeilen sind der Versuch einer Annäherung an das, was in der Seele des heranwachsenden Kindes lebt, das das Herz in sich entdeckt. Er könnte auch unterschrieben sein: Natascha Kampusch.