Czytaj książkę: «Der Schoppenfetzer und der Tod des Nachtwächters»
Günter Huth
Der Schoppenfetzer undder Tod des Nachtwächters
Günter Huth wurde 1949 in Würzburg geboren und lebt seitdem in seiner Geburtsstadt. Er kann sich nicht vorstellen, in einer anderen Stadt zu leben. Von Beruf ist er Rechtspfleger (Fachjurist). Günter Huth ist verheiratet und hat drei Kinder.
Seit 1975 schreibt er in erster Linie Kinder- und Jugendbücher sowie Sachbücher aus dem Hunde- und Jagdbereich. Außerdem veröffentlichte er zahlreiche Kurzerzählungen. In den letzten Jahren hat sich Günter Huth vermehrt dem Genre „Krimi” zugewandt und bereits einige Kriminalerzählungen veröffentlicht. 2003 kam ihm die Idee
für einen Würzburgkrimi. Der Autor ist Mitglied der Kriminalschriftstellervereinigung Das Syndikat.
Die Handlung und die handelnden Personen dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit toten oder lebenden Personen oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ist nicht beabsichtigt und rein zufällig.
Günter Huth
Der Schoppenfetzerund der Tod desNachtwächters
Der zweite Fall des Würzburger
Weingenießers Erich Rottmann
Buchverlag
Peter Hellmund
im Echter Verlag
Günter Huth
Der Schoppenfetzer und die Weindorftoten
© Echter Verlag, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Gestaltet von Peter Hellmund
Gedruckt und gebunden von Pressel, Remshalden
Achte Auflage 2018 · E-Book-ISBN 978-3-429-3995-5
eBook-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
PROLOG
Es waren drei Männer mittleren Alters, die sich, zitternd vor Angst, hinter die dichten Büsche drückten. Mit Verzweiflung im Herzen verfolgten sie die Szene, die sich nur einen Steinwurf von ihnen entfernt im unwirklichen Licht des halben Mondes abspielte. Sie beobachteten die Bewegungen der vier Schergen, die dabei waren, ein ausreichend großes Erdloch auszuheben, um die Leichen der drei Gottesmänner zu verscharren, die sie vor wenigen Minuten erschlagen hatten. Die Mörder waren offenbar angetrunken. Ihre Reden waren unflätig und ihre Motorik grob und fahrig. Es handelte sich um einfache, ungebildete Waffenknechte im Dienste des Herzogs, die ihre grausige Arbeit unberührt ließ. Rohe Gesellen, denen man für diese Mordtat eine für ihre Verhältnisse großzügige Entlohnung gezahlt hatte. Diese Kerle waren es von Jugend an gewohnt, das Schwert todbringend einzusetzen und fühlten keine Gewissensbisse. Im Gegenteil, sie prahlten voreinander mit der Wirkung ihrer Schwerthiebe. Zwischendurch nahmen sie immer wieder Schlucke aus einem Tonkrug, den sie neben dem ausgehobenen Erdhaufen abgestellt hatten. Er enthielt sicher kein Wasser. Fluchend über den steinigen Boden trieben sie die Grube immer tiefer.
Die Zeugen des Geschehens waren bis tief in ihr Innerstes aufgewühlt. Die Todesschreie der drei Erschlagenen hallten noch immer in ihren Köpfen wider. Im Mondlicht konnten sie die gekrümmt auf der Erde liegenden Körper der Ermordeten erkennen. Zutiefst schämten sie sich ihrer Feigheit, die sie daran gehindert hatte, diesen Männern zu Hilfe zu kommen. Aber sie waren keine Kämpfer, nur einfache Bürger, die sich vor nicht allzu langer Zeit durch die Taufe zu der neuen Lehre bekannt hatten. Die Überzeugungskraft der drei irischen Mönche hatte ihrem Leben einen völlig neuen Sinn gegeben, und mit Begeisterung hatten sie den dreien Unterkunft und Nahrung geboten.
Oftmals hatten sie die Iren vor dem Zorn und der Heimtücke der Herzogin gewarnt, deren Ehe mit Gosbert die drei Mönche in aller Öffentlichkeit als gotteslästerlichen Zustand angeprangert hatten. Doch sie hatten sich nicht beirren lassen.
Die Schergen hatten mittlerweile tief genug gegraben. Sie warfen ihre Grabwerkzeuge zur Seite und zerrten die drei Leichen zur Grube, wobei sie über die schweißtreibende Arbeit fluchten. Die Angelegenheit, so hatte man ihnen eingeschärft, musste vor der Morgendämmerung erledigt sein. Niemand am Hofe sollte wissen, was mit den drei Mönchen geschehen war. So konnte die Herzogin behaupten, sie seien bei Nacht und Nebel abgereist.
Nachdem die Männer den Tonkrug ein weiteres Mal hatten kreisen lassen, warfen sie das Erdloch wieder zu und traten den Aushub fest. Als sie eine halbe Stunde später fertig waren, war außer einer frischen Grabstelle und einigen Blutspuren auf der Erde kein Hinweis auf die Mordtat mehr zu erkennen.
Die Mörder wechselten noch einige grobe Worte über die zurückliegende Arbeit, dann schnappte sich einer die Bibel, die sich der Anführer der Mönche vor seinem Tod schützend über den Kopf gehalten hatte. Drei gingen gemeinsam in eine Richtung, einer schlug einen anderen Weg ein.
Die drei Männer hinter den Büschen unterhielten sich flüsternd, dann fassten sie trotz ihrer Angst einen Entschluss. Vorsichtig folgten sie dem einzelnen Waffenknecht, der in Richtung Main marschierte. Sein Gang war der breitbeinige Schritt eines Angetrunkenen.
In einer dunklen Baumgruppe, in deren Schutz ihre Gesichter nicht zu erkennen waren, holten sie ihn ein und umringten ihn überraschend. Der Mann, dessen trainierte Kampfinstinkte durchaus noch funktionierten, griff automatisch zum Schwert, das in einer Lederscheide an seiner linken Seite hing.
Einer der Verfolger hielt entschlossen die Schwerthand fest, die beiden anderen bedrängten den Mörder so eng, dass er sich kaum bewegen konnte.
„Was wollt ihr?“, knurrte der Mann, wobei er eine Wolke stinkender Atemluft ausstieß.
„Gib uns dein Schwert!“, forderte der älteste der drei Bürger, „dann kannst du gehen.“
„Den Teufel werd ich tun“, grölte der Knecht wütend und begann, am Griff seiner Waffe zu zerren. „Ich schlage euch eure verdammten Schädel ein!“
„Beruhig dich“, forderte der Anführer der drei Verfolger laut, um den Tobenden zu übertönen, „hier hast du Geld. Nimm es und gib uns dein Schwert. Für die Summe kannst du dir beim Waffenschmied drei neue anfertigen lassen.“
Das Wort „Geld“ drang zum Verstand des Wütenden durch und er beruhigte sich etwas. Einen Augenblick stand er still und stierte in die Nacht, um seine Gegner zu erkennen. Da dies nicht möglich war, griff er langsam zum Gürtel und löste das Waffengehänge. Polternd fiel das Schwert zu Boden.
„Her mit dem Geld“, knurrte er und griff nach dem Lederbeutel, in dem es metallisch klirrte. Ohne sich noch einmal umzudrehen, trottete er weiter.
Einer der drei Männer hob das Schwert vorsichtig auf und barg es unter seinem Umhang. Schnell entfernten sich die drei und suchten ihre Behausungen auf. Noch in dieser Nacht versteckte der Älteste das Schwert an einem geheimen Ort. Das Blut Kilians klebte noch immer daran.
Manfred Sendt, Mitarbeiter des Zellerauer Sicherheitsunternehmens Safety first, stand auf der Alten Mainbrücke und zündete sich im Windschatten der monumentalen Figur des heiligen Kilian eine Zigarette an. Tief sog er den Rauch in seine Lunge. Langsam entließ er ihn wieder in die milde Nachtluft, wo er sich träge verflüchtigte. Entspannt glitt Sendts Blick über die Brücke. Im Schein der Straßenlaternen waren die zahllosen Biertische und Bänke erkennbar, die er zu bewachen hatte. Sendt war noch nicht lange bei Safety first beschäftigt. Dieser Job hier war nach seiner kürzlich beendeten Ausbildung der erste Auftrag, den ihm sein Chef übertragen hatte.
Sendt lehnte sich mit dem Rücken gegen den steinernen Sockel der Heiligenfigur und stützte seinen rechten Unterarm auf den Griff des großkalibrigen Revolvers, den er im offenen Holster rechts am Gürtel trug. Er fand es zwar etwas langweilig, nur alte Bänke und Tische zu beaufsichtigen, aber unter dem Strich war er sehr froh, die Anstellung bei Safety first bekommen zu haben. Sendt war das, was man im Volksmund als „verkrachte Existenz“ bezeichnet. Mit achtundzwanzig Jahren, abgebrochenem Abitur, zwei unvollständigen Lehren und anschließender mehrjähriger Arbeitslosigkeit sicher ein nachvollziehbares Urteil.
Den eigentlichen Grund für seine Unstetigkeit hatte er bisher allen seinen Arbeitgebern verbergen können. Sendt war alkoholkrank. Wochenlang konnte er die Krankheit kontrollieren, dann gab es plötzlich ein auslösendes Ereignis, und er schüttete sich tagelang bis zur Besinnungslosigkeit zu. Immer hatte er die Beschäftigungsverhältnisse abgebrochen. Stets rechtzeitig, bevor seine Arbeitgeber sein Problem erkannten. Auch jetzt war er wieder mal seit Wochen trocken geblieben. In den letzten Tagen hatte er allerdings gespürt, wie sich der Teufel in ihm wieder zu melden begann. Das Verlangen nach einem langen Schluck Hochprozentigem stieg und er wusste, dass er ihm nicht mehr lange widerstehen konnte.
Der Wachmann stieß sich von dem Stein ab und schlenderte über das historische Kopfsteinpflaster. Beiläufig warf er einen Blick hinunter auf die fast schwarze Oberfläche des Mains, der sich träge an den Brückenpfeilern vorbeischob. Der Wasserstand war, bedingt durch die sommerlichen Temperaturen und wegen des fehlenden Regens, ziemlich niedrig.
Normalerweise hätte man für die Bewachung dieses Objekts zwei Männer benötigt. An jeder Brückenauffahrt einen. Aber der Elferrat der 1. Würzburger Karnevalsgesellschaft, der alljährlich das Brückenfest ausrichtete, war äußerst sparsam und die Stadt befand sich seit Jahren in notorischen Geldnöten. – Wer sollte sich schon an abgenutzten Sitzgarnituren vergreifen?
Sendt warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Gleich halb drei. Um ein Uhr, kurz nachdem das Fest beendet war, hatte er seinen Dienst begonnen. In einer guten Stunde würde im Osten der erste Silberhauch den kommenden Tag anzeigen. Noch gut zweieinhalb Stunden, dann würden die Lkws kommen und das Geraffel abholen. Bis sich die Würzburger den letzten Schlaf aus den Augen gerieben hatten, würde der Fußgängerverkehr wieder ungehemmt über die Brücke fließen.
Die Zigarette war heruntergebrannt. Mit einer lässigen Bewegung schnippte er die Kippe über die Balustrade in den Fluss, wo die Glut unhörbar erlosch. Eigentlich konnte er ganz zufrieden sein. Der Job war ruhig und ungefährlich, die Juni-Nacht lau und man konnte ungestört seinen Gedanken nachhängen. Wenn sich in dieser Ruhe nicht die verdammte Sucht verstärkt bemerkbar gemacht hätte. Seine Phantasie suggerierte ihm das Bild und sein Körper erinnerte sich: Er hatte eine Flasche Schnaps in der Hand und ließ das scharfe Destillat durch seine Kehle laufen. Er spürte fast körperlich das warme Gefühl im Magen und empfand die täuschende Leichtigkeit, die von der Droge ausgelöst wurde. Mühsam riss er sich aus seinen Gedanken und konzentrierte sich auf seine Umgebung.
Als er die Absperrung auf der linken Mainseite erreicht hatte, blieb er kurz stehen und sah die Dreikronenstraße entlang. Es war schon erstaunlich, welche Ruhe eine nächtliche, unbefahrene Straße ausstrahlen konnte.
Schlagartig befiel ihn erneut der Drang. Sein Mund wurde trocken. Hastig zündete er sich wieder eine Zigarette an, um seinen Körper wenigstens für kurze Zeit abzulenken. Der Erfolg hielt allerdings nicht lange an. Er fasste einen Entschluss und marschierte in Richtung Grafeneckart zurück. Das war nicht mehr der schlendernde Gang eines gelangweilten Wächters. Das Tempo wurde jetzt von Zielstrebigkeit bestimmt.
Ohne Zögern ließ er die Absperrung auf der Rathausseite hinter sich und wandte sich in Richtung Karmelitenstraße. Dort stand sein Auto und in diesem befand sich der Stoff, nach dem jede Zelle seines Körpers gierte. Die Tatsache, dass er seinen Posten verließ, war ihm in diesem Zustand gleichgültig.
Bei dem Auto, das aus Richtung Zeller Straße kommend in die Burkarderstraße einbog und dort geparkt wurde, handelte es sich um einen dunkelblauen Ford Transit. In dem Fahrzeug saßen zwei Männer unterschiedlichen Alters, die sich offenbar heftig stritten. Plötzlich wurde die Beifahrertür aufgerissen und der ältere der beiden Insassen stieg hastig aus. Augenscheinlich befand er sich im Zustand höchster Erregung. Sein Atem ging hastig. Sein Herz raste. Der Fahrgast löste sich von dem Wagen und eilte in Richtung Alte Mainbrücke davon. Vor dem Eingang des Lokals Brückenbäck blieb er stehen und wühlte in seinen Taschen. Die Medikamentenpackung, die schon seit Wochen sein ständiger Begleiter war, glitt in seine Finger. Er entnahm der Alufolie drei Dragees und schluckte sie hastig, ohne Wasser. Nach kurzem Zögern drückte er noch zwei weitere Tabletten heraus und nahm sie auf dieselbe Weise ein. Auf der Zunge blieb ein bitterer Nachgeschmack.
Mit einer Mischung aus Zorn und Verzweiflung folgte sein Blick den Rücklichtern des abfahrenden Wagens, bis sie um die nächste Kurve der Zeller Straße verschwanden.
Der Mann stand einen Augenblick wie gelähmt, dann griff er in seine Hosentasche nach dem Mobiltelefon. Über die Kurzwahltasten wählte er eine Nummer an. Das Gespräch dauerte nicht lange, die Stimme des Mannes klang eindringlich. Nachdem er das Handy wieder eingesteckt hatte, betrat er die Brücke, setzte sich auf die erste der Bierbänke und wartete. Er wartete auf einen Menschen – und er wartete auf die Wirkung der Tabletten.
Auf Höhe der Flurbereinigungsdirektion bremste der Fahrer des blauen Ford abrupt ab. Kurzentschlossen drehte er das Lenkrad und bog auf den Parkplatz des Ämtergebäudes ein. Dort stellte er den Motor ab. Auch er war extrem wütend. Wütend auf seinen Fahrgast, dem er am liebsten seinen Zorn ins Gesicht geprügelt hätte. Schließlich stieg er aus, verschloss das Fahrzeug und eilte in Richtung Alte Mainbrücke zurück. Die Situation war, so wie sie sich in den letzten Stunden entwickelt hatte, einfach unerträglich. Er musste zusehen, dass er den Mann irgendwie zur Vernunft brachte.
Die Wirkung des starken Beruhigungsmittels ließ zum Glück nicht lange auf sich warten. Ruhe kam über den Mann auf der Bierbank, die sich langsam zur Müdigkeit steigerte. Sein tobender Pulsschlag verlangsamte sich und sein Zorn schwand.
Trotz der Wirkung der Tabletten konnte er klar denken. Er hatte einen großen Fehler gemacht. Wohl den größten Fehler seines Lebens. Die schwerwiegenden Folgen, die sein Fehlverhalten für die Bruderschaft, der er angehörte, bedeutete, konnte er nur noch mildern, indem er für sich selbst die Konsequenzen zog. Konsequenzen, die ihm jetzt, nach Einnahme der Tabletten, immer leichter erschienen.
Der Mann erschrak etwas, als unvermutet neben ihm ein Fahrrad zum Stehen kam und ein weiterer Mann abstieg.
„Ich danke dir, Bruder, dass du gekommen bist“, sagte der Wartende langsam und stand bedächtig auf. „Komm, lass uns zu unserem Heiligen gehen, ich muss dir ein schreckliches Geständnis machen.“
Wortlos gingen die beiden dicht nebeneinander über die Brücke, bis sie die Figur des heiligen Kilian erreicht hatten. Dort drehte sich der Erstankömmling dem zweiten Mann zu und begann zu sprechen.
Sie bemerkten nicht, dass ihnen, die Deckung der Tische und Bänke nutzend, der Fahrer des Ford Transit folgte. Als die beiden sich in die Bucht der Kiliansfigur stellten, folgte er ihnen bis auf Höhe der Figur des heiligen Kolonat, dann huschte er in die Nische dieses Monuments, das der Figur des Kilian am nächsten stand, und duckte sich hinter die Brückenbrüstung. Jetzt konnte er die beiden Männer beobachten.
Er verstand zwar kein Wort, registrierte aber die Heftigkeit des Gesprächs – und … er konnte das Gesicht des zweiten Mannes sehen. Erstaunt hob er die Augenbrauen. Ihn hatte er hier nicht erwartet. Er erkannte aber sofort den unerwarteten Glücksfall. Jetzt war er mit seinen Plänen nicht mehr alleine auf seinen widerspenstigen Fahrgast angewiesen.
Der Wachmann setzte sich in sein Auto und holte die Flasche unter dem Beifahrersitz hervor. Gierig genehmigte er sich mehrere kräftige Schlucke Asbach. Wie immer, wenn er einige Zeit nichts getrunken hatte, setzte die Wirkung des Alkohols fast schlagartig ein. Er verscheuchte den Gedanken an den Teufel in seinem Gehirn, der ihn zum Trinken zwang, und er gab sich wieder einmal der Illusion hin, nicht heute, aber irgendwann diesen Dämon zu besiegen. Eine Zeitspanne später steckte er sich die Flasche in die Innentasche seiner Jacke und lief zu seinem Einsatzort zurück.
Sendt stieß einen heftigen Fluch aus, als er von einem unbeleuchteten Fahrrad, das ihm mit hoher Geschwindigkeit über die Brücke entgegenkam, fast über den Haufen gefahren worden wäre.
„Verdammter Armleuchter“, schimpfte er hinter dem Radfahrer her, der in die Pedale trat, als wäre der Teufel hinter ihm her „die Brücke ist gesperrt!“
Es war erkennbar ein Mann, der aber schon nach wenigen Metern in die Langgasse einbog und sich damit seinen Blicken entzog. Das Gesicht des Radfahrers hatte Sendt in dem kurzen Augenblick nicht sehen können. Nach dem Beinahezusammenstoß mit dem Radfahrer gönnte er sich erst einmal einen kleinen Schluck aus der Pulle, dann versteckte er sie hinter dem Standbild des heiligen Pippin. Sicherheitshalber würde er einen Kontrollgang machen. Er hatte die Hälfte der Strecke in Richtung Brückenbäck bereits zurückgelegt, als er plötzlich zwischen den Tischen eine dunkle Gestalt ausmachte, die in leicht geduckter Haltung vor ihm davonhastete. Verdammt, dieser Mensch musste sich irgendwo zwischen den Biermöbeln versteckt haben! Sendt erschrak. Was sollte er tun? Unwillkürlich tastete seine Hand zu der Waffe an der Hüfte. Als er sie berührte, hatte er das Gefühl, ein glühendes Eisen anzufassen.
Trotz seines angetrunkenen Zustands wurde ihm bewusst, dass ein Schusswaffengebrauch hier absolut unangebracht war.
„Halt! Stehen bleiben!“, rief er halbherzig hinterher, um überhaupt etwas zu tun. Der Flüchtende kümmerte sich nicht darum. „Junge, bleib cool“, ermahnte er sich selbst halblaut. Seine Stimme machte ihm Mut.
Sendt blieb stehen und sah der Gestalt hinterher. Den Bewegungen nach handelte es sich um einen jüngeren Mann. Der eilte im Laufschritt in Richtung Dreikronenstraße davon.
Als sich der Wächter entschloss, zumindest bis zur Absperrung hinterherzugehen, hatte der Unbekannte schon einen großen Vorsprung. An der Absperrung blieb Sendt stehen und sah sich um. Er konnte keine Menschenseele mehr entdecken.
Vielleicht irgendein Obdachloser, der es sich für den Rest der Nacht auf einer der Bänke bequem machen wollte, beruhigte er sich und drehte wieder um. Dabei leuchtete er mit seiner Taschenlampe zwischen die Tische und Bänke. Als er keine Auffälligkeiten feststellen konnte, atmete er erleichtert auf und fiel in eine entspanntere Gangart.
Er schlenderte bis zur Figur des heiligen Pippin zurück und griff sich seine Flasche. „Prost!“, rief er in Richtung Heiligenfigur und nahm einen tiefen Schluck. Eine Belohnung, die er sich auf den Schrecken hin wahrlich verdient hatte. Er wusste aus Erfahrung, dass die belebende Wirkung des Weinbrands bald abebben würde, um Müdigkeit Platz zu machen. Nach einiger Zeit rutschte er langsam mit dem Rücken an der Mauerbrüstung hinunter, bis er saß. Schluck für Schluck leerte er die Flasche. Irgendwann übermannte ihn das einschläfernde Gefühl von Wärme und Sorglosigkeit.
„Hey, Mann!“ Es dauerte einige Zeit, bis Sendt realisierte, dass er angesprochen wurde. Im Zeitlupentempo öffnete er die Augen und stierte den jungen Mann, der ihn kopfschüttelnd angrinste, verwirrt an.
„Junge, eigentlich solltest du auf den Krempel hier aufpassen, anstatt dich sinnlos zu besaufen!“
Mühsam kämpfte Sendt, den Sinn dieser Worte zu verstehen. „Los, jetzt komm schon auf die Beine“, rief der Unbekannte ungeduldig und gab einem unsichtbaren Dritten einen Wink. Sendt fühlte sich abrupt unter den Achseln emporgehoben, was bei ihm sofort einen Schwindelanfall, verbunden mit stürmischer Übelkeit hervorrief. Jetzt zeigte der Teufel ihm seine Dankbarkeit.
„Pass auf“, hörte er eine andere Stimme sagen, die einen Dritten warnte, „sonst kotzt er dich voll!“
Als Sendt sich würgend übergeben hatte, ging es ihm besser. „Was …?“, ächzte er. Seine Kehle fühlte sich an, als habe er mit Reißnägeln gegurgelt.
„Mann, wenn ich diese Flasche geleert hätte, wäre ich auch nicht mehr der Gesündeste.“
Mit einer schwungvollen Handbewegung wies er auf den Flachmann, der neben Sendts Platz am Boden lag.
„Was ist? Kommst du jetzt alleine klar? Wir haben hier nämlich ein paar Tische und Bänke wegzuräumen. Von einer Schnapsleiche hat uns keiner was gesagt.“
Sendt nickte im Zeitlupentempo, um keine weiteren Erschütterungen seines Gehirns zu erzeugen. Sofort kam wieder der Schwindel, diesmal aber etwas erträglicher. Schnell stützte er sich am Steinsockel der Heiligenfigur ab.
Während die beiden Männer vom Würzburger Biernotruf damit begannen, laut klappernd die Sitzgarnituren auf ihren Kleinlaster zu verfrachten, tastete sich Sendt langsam an der Balustrade entlang in Richtung Karmelitenstraße zu seinem Wagen.
Mit jedem Schritt wurde sein Denkvermögen besser und mit dem Verstand stellte sich auch der Katzenjammer ein. Er musste unter allen Umständen verhindern, dass sein Chef von seinem Fehlverhalten erfuhr. Achtkantig würde er rausfliegen, da war er sicher. Hinzu kam, er stank wie eine exhumierte Schnapsleiche! Er musste unbedingt nach Hause, um sein Äußeres aufzumöbeln. Zum Glück besaß er eine Ersatzuniform.
Sendt konnte nur hoffen, dass die Typen, die ihn gefunden hatten, den Vorfall schnell vergessen würden.
Erich Rottmann verzog zum wiederholten Male gepeinigt das Gesicht. Vorsichtig sah er sich um. Niemand war vor oder hinter ihm auf dem Gehsteig. Schnell wechselte er seine Pfeife in die andere Hand, dann fasste er sich mit einem beherzten Griff ans Gesäß und erlöste sich mit einem gezielten Zupfer, unterstützt von einem diskreten Ausfallschritt, von der Drangsal, die ihm seit Stunden seine zwickende Unterhose bereitete. Es krachten Nähte, aber das war ihm egal. Erlöst grunzte er.
Als überzeugter Junggeselle war es der pensionierte Leiter des Würzburger Morddezernats gewohnt, sich unter anderem auch seine Unterwäsche selbst zu kaufen. Wobei er allerdings beim Kauf seiner Weinvorräte wesentlich mehr Sorgfalt aufwandte als bei der Anschaffung seiner „Unaussprechlichen“. Die letzten Unterhosen hatte er als Sonderangebot bei Aldi im Sixpack, für 10 Euro das halbe Dutzend, erstanden. Der uneingeschränkte Tragekomfort, den die Werbung versprochen hatte, hatte sich allerdings nach dem ersten Waschen im Kochgang sehr schnell verflüchtigt. Die Unterhose war in der Waschmaschine zusammengeschrumpft wie ein hormongepuschter Schweinebraten in der Herdröhre. In der Folge sah sich Rottmann jetzt den Qualen einschnürender Beinabschlüsse und reibender Nähte ausgesetzt. Für ihn stand fest: Dieses Wäscheteil mochte wohl für einen taiwanesischen Hintern zweckdienlich sein, für ein sitzstrapaziertes mainfränkisches Schoppenfetzergesäß wirkte es mehr wie ein Folterinstrument.
Öchsle, seines Zeichens Rüde unbestimmter Herkunft und Rasse, war Rottmanns ständiger vierbeiniger Schatten und seinem Herrn stets treu ergeben. Im Moment folgte er ihm allerdings in einem gewissen Sicherheitsabstand, wobei er seinen Menschen vorsichtig beobachtete. Diese überraschenden Unregelmäßigkeiten im Bewegungsablauf, wie gerade eben, kannte er sonst von seinem Herrchen nur nach einem ausdauernden Stammtischhock. Er wusste, wenn man in solchen Fällen nicht aufpasste, konnte das schmerzhaft auf die Pfoten gehen.
Es war noch reichlich früh am Morgen. Der Stammtisch der Schoppenfetzer, dessen Domizil üblicherweise das Maulaffenbäck war, hatte seine „Wochenendtagung“ wegen des Brückenfestes auf die Alte Mainbrücke, in den Schatten von Kilian, Kolonat und Totnan verlegt gehabt. Für Rottmann, ein Gründungsmitglied des Stammtisches, war es natürlich eine Ehrensache, dass er seine Stammtischbrüder bei dieser Auswärtssitzung nicht alleine ließ.
Merkwürdigerweise schlief Rottmann in der vergangenen Nacht nicht gut. Immer wieder wachte er auf und starrte gegen die dunkle Decke seines Schlafzimmers. Auch die Lektüre eines Buches hatte ihm nicht in den Schlaf geholfen. Als schließlich der Morgen dämmerte, stand er auf, murmelte grantig etwas von „seniler Bettflucht“ und unternahm dann mit Öchsle einen langen Spaziergang nach Randersacker. Um diese Uhrzeit war fast kein Mensch unterwegs. Am Ziel drehte Öchsle einige Runden im Main, dann traten sie wieder den Rückweg an. Im Augenblick befanden sie sich auf Höhe der Mainkuh. Rottmann beabsichtigte, nach Hause in die Rosengasse zu gehen, um Öchsle seine Morgenration Futter zu geben. Anschließend wollte er sich im Café Haupeltshofer selbst ein kräftigendes Frühstück gönnen. Rottmann verarbeitete für gewöhnlich bei dieser Basismahlzeit des Tages einen gehörigen Anteil an Proteinen.
Als das Gespann gerade in die Rosengasse abbiegen wollte, bemerkte er weiter voraus, in Richtung Alte Mainbrücke, die zuckenden Blaulichter mehrerer Einsatzfahrzeuge.
„Was ist denn da los?“, brummelte Rottmann und blieb stehen. Öchsle verharrte ebenfalls und legte ungeduldig den Kopf schief. So kurz vor dem heimischen Futternapf stand ihm der Sinn allerdings so gar nicht nach einer Ausdehnung des Spaziergangs.
„Komm, Öchsle, das sehen wir uns mal an“, entschied der Mensch, und obwohl der sensible Hund dies durchaus als eine Art Rücksichtslosigkeit empfand, folgte er Rottmann ergeben, trotz knurrenden Magens.
Schon ab Einmündung Wirsbergstraße war der Mainkai für den Verkehr total gesperrt. Ein Polizeieinsatzfahrzeug stand mit laufendem Blaulicht quer zur Fahrbahn. Ein junger uniformierter Polizist regelte den Verkehr und hielt auch die Passanten ab. Ein Stück hinter der Absperrung waren weitere Fahrzeuge der Polizei und auch ein Wagen der Feuerwehr zu erkennen.
„Was ist das denn für ein Almauftrieb?“
Rottmann hatte die Straße überquert und den jungen Polizisten direkt angesprochen. Dieser, sichtlich beseelt von seiner wichtigen Aufgabe, sah lediglich einen älteren, korpulenten, offenbar unterbeschäftigten Rentner vor sich, der offenbar nichts Besseres zu tun hatte, als vielbeschäftigte Amtspersonen mit neugierigen Fragen zu belästigen.
„Gehen Sie bitte weiter und behindern Sie nicht den Verkehr“, erwiderte der Polizeibeamte, um eine hochdeutsche Aussprache und mittels gerunzelter Stirn um die Demonstration staatlicher Autorität bemüht. Das Problem war nur, dass er als gebürtiger Mainfranke der deutschen Hochsprache nur sehr bedingt mächtig war, was seinen Bemühungen eine ungewollt amüsante Note verlieh.
„Junger Mann“, Rottmann bemühte sich um verständnisvolle Geduld, schließlich konnte ihn nicht jeder Streifenbeamte kennen, „junger Mann, wenn ich das richtig sehe, hat es mit dem Verkehr momentan nicht so viel auf sich, also kann ich denselbigen auch nicht behindern. Ich vermute mal, dass da vorne ein Tatort ist, sonst wäre diese Christbaumbeleuchtung nicht notwendig. Im Übrigen bin ich …“
Der Polizist unterbrach ihn ungeduldig. „Guter Mann, jetzt nehmen Sie schon Ihren Fiffi und gehen Sie nach Hause. Alles andere können Sie morgen in der Zeitung lesen.“
Wer Rottmann kannte, wusste, dass spätestens jetzt in dem ehemaligen Kriminalhauptkommissar das unterfränkische Temperament zu gären begann und er sich von einem „guten Mann“ blitzartig entfernte. Er wollte gerade anfangen, dem jungen Kollegen in aller Deutlichkeit ein paar Punkte klarzumachen, als aus Richtung Polizeidirektion ein dunkler Personenwagen gefahren kam und in Richtung Absperrung abbog. Das Fahrzeug hielt an, das Fenster glitt ein Stück herunter und eine Hand mit einem polizeilichen Dienstausweis erschien in der Öffnung.
Der Polizeibeamte ließ Rottmann stehen und machte einen Schritt in Richtung Fahrzeug. Dort warf er einen kurzen Blick auf den Ausweis, dann grüßte er zackig und griff eilig in das Absperrungsgitter, um den Weg frei zu machen.
„Hallo, Florian“, rief Erich Rottmann und marschierte auf das zivile Dienstfahrzeug zu, „aus Ersparnisgründen hättest du die paar Meter zum Tatort aber auch wirklich laufen können!“
Kriminaloberkommissar Florian Deichler, Mitglied der Würzburger Mordkommission und ehemaliger Mitarbeiter von Erich Rottmann, gab dem jungen Polizisten einen beruhigenden Wink, als sich dieser pflichtbewusst wieder auf den aufdringlichen Passanten stürzen wollte, um ihn nun sehr deutlich zur Raison zu bringen.
„Das geht schon in Ordnung, Kollege, dieser neugierige ältere Herr hier ist der ehemalige Leiter der Würzburger Mordkommission“, klärte er den jungen Beamten mit leicht spöttischem Unterton auf, während er ausstieg und Rottmann herzlich die Hand gab.
„Na, du stehst heute gar nicht unter der Fuchtel deines Chefs“, stichelte Rottmann zurück, nachdem er einen kurzen Blick ins Fahrzeuginnere geworfen hatte.
Erich Rottmann sprach von dem Ersten Kriminalhauptkommissar Sebastian Krämer, seinem ehrgeizigen Nachfolger im Amt, der ihm schon zu aktiven Zeiten das Leben schwer gemacht hatte. In Krämers Augen war er, Rottmann, ein kriminologischer Dinosaurier, dessen Ermittlungsmethoden schon zu Methusalems Zeiten antiquiert waren. Es war Krämer ein Dorn im Auge, dass Rottmann noch immer gute Kontakte zu seinen ehemaligen Kollegen pflegte und hin und wieder unerfreuliches Interesse an ungeklärten Todesfällen in der Stadt entwickelte.
„Er hat Urlaub und befindet sich im Augenblick in Spanien“, erklärte Deichler weiter. „Benimm dich also, zurzeit bin ich der Chef im Laden.“ Er grinste vielsagend.
„Na, prima“, gab Rottmann zurück, der seinen früheren Mitarbeiter für wesentlich fähiger hielt als seinen Nachfolger. „Was ist da vorne eigentlich los?“
Deichler zuckte mit den Schultern. „Genaues weiß ich auch noch nicht. Die Einsatzzentrale ist von einem Bürger verständigt worden, dass auf dem Fuß eines Brückenpfeilers der Alten Mainbrücke eine Leiche liegt. Die Kollegen haben mich erst ziemlich spät erreicht, weil ich einen frühen Termin im Finanzamt hatte. Die Beamten vom Erkennungsdienst sind schon vor Ort.“ Er wandte sich ab. „Erich, jetzt muss ich aber los, damit da vorne alles in geordneten Bahnen läuft.“ Er schwang sich wieder hinters Steuer.