Czytaj książkę: «Bastians Traum»
Guido Arnold
BASTIANS TRAUM
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2015
Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Impressum
Aufbruch
Rhea
Elias
Verraten
Voland
Gefangen
Widerstand
Simeon
Entscheidung
Rückkehr
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte beim Autor
Coverfoto: fight club © Arman Zhenikeyev (Fotolia.com)
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
Aufbruch
Was für ein langweiliger Tag. Bastian blickte auf die Uhr und seufzte laut. Die Zeiger hatten sich kaum bewegt, seit er das letzte Mal dorthin gesehen hatte. Sein Leben langweilte ihn. Er sollte irgendetwas tun, irgendetwas, das ihn spüren ließ, überhaupt noch am Leben zu sein. Sein Verstand war genauso träge wie er selbst. So fiel ihm nicht das Geringste ein. Das einzige, was ihn in seinem Dasein bestätigte, waren diese Kopfschmerzen, die in seinem Schädel rumorten und an die er sich schon so sehr gewöhnt hatte.
Verzweifelt kämpfte er gegen den Impuls, den Fernseher anzuschalten und einfach aufzugeben. Welchen Sinn hätte es denn schon, seine Nerven damit zu quälen, sich etwas einfallen zu lassen, das dieses lahme Leben veränderte? Angst machte ihm, es könnte vielleicht ewig so weitergehen und die Zeit würde viel zu schnell vergehen, wenn er sich erst einmal an diese träge Ereignislosigkeit und Leere in seinem Leben gewöhnt hätte. Dann hätte er es geschafft, sein gesamtes Leben zu verschwenden, wenn er nicht sofort wieder auf die Uhr sehen würde, um sich zu vergewissern, dass erst höchstens fünf Minuten vergangen waren. So sah er wieder zur Uhr: sechzehn Uhr dreißig. Die Zeiger hatten sich kaum bewegt. Er fühlte Erleichterung. Aus seiner Erfahrung wusste er, dass dieser Zustand nicht lange anhalten würde.
Bastian spürte kein Verlangen, weder hatte er Hunger noch wollte er Sex oder Nikotin. Trotzdem griff er nach der Packung auf dem Tisch vor ihm, zog sich eine Zigarette heraus und zündete sie sich an. Rauchen gefährdet die Gesundheit. Wenigstens eine Angewohnheit, die ihm Todesmut abverlangte. Angst vor dem Tod hatte er keine, zumindest nicht mehr als jeder andere auch. Er hatte nur Angst davor, zu viele Dinge unerledigt zurückzulassen, etwas zu verpassen. Er hasste es aufzugeben.
Doch im Moment verachtete er sich selber. Seine eigene Unfähigkeit, etwas zu verändern, erschien ihm unerträglich. Sein rechtes Bein über das linke Knie geschlagen zählte er die Minuten, die ungenutzt an ihm vorüberzogen. Gleichzeitig wollte er am liebsten die Zeit aufhalten, die ihm einfach so zwischen den Fingern zerrann. Krampfhaft suchte er nach einem Weg, diesen Zustand zu beenden. Er wippte nervös mit der Fußspitze auf und ab. Seine Glieder waren angespannt, bereit für den Absprung. Dennoch saß er wie gebannt auf seinem Sofa. Unbekannte Kräfte hielten ihn dort mit stählernen Armen fest. Er wünschte, irgendetwas würde alles ändern. Er war sich darüber im Klaren, selbst etwas verändern zu müssen. Nur hatte er nicht die blasseste Ahnung wie. Jede Art von Abwechslung hätte er in Kauf genommen, würde sie ihm nur geboten.
Das Ticken der Wanduhr drang tiefer in sein Bewusstsein ein. Die vier Wände, die ihn so schützend umgaben, waren gleichzeitig auch sein Gefängnis, das er schon längst verlassen haben wollte. Doch was erwartete ihn dort draußen in einer Welt, der er schon vor langer Zeit den Rücken gekehrt hatte? Wie oft hatte er sich diese Welt ohne Leute vorgestellt, wie unendlich groß sie dann wäre! So müsste er seinen Mitmenschen begegnen. Sie würden ihn ansehen, ihn mit ihren Blicken bedrängen, ihn erdrücken. Anderseits hatte er es satt, sich noch länger zu verstecken. Er wollte raus. Mittlerweile wurde er von der Enge seines Wohnzimmers regelrecht zerquetscht. Seine Verzweiflung wuchs stärker als seine Angst.
Er drückte seine halb gerauchte Zigarette umständlich im Aschenbecher aus und erhob sich langsam. Zielstrebig ging er ins Badezimmer und drehte das Wasser auf. Während er sich die Hände wusch, schaute er in den Spiegel über dem Waschbecken. Immer, wenn er sich betrachtete – und das tat er bei jeder sich bietenden Gelegenheit – fühlte er sich wohler, fühlte er sich weniger allein.
Was stimmt nicht mit dir, Bastian? dachte er, zog die Augenbrauen zusammen und musterte sein Spiegelbild kritisch. Geh doch einfach hinaus. Gut, die Welt wartete nicht gerade auf ihn. Was hielt ihn noch fest? War es der Fernseher? Sein abgenutztes Sofa? Oder waren es die Türme schmutzigen Geschirrs in seiner Küche? Blieb er aus Angst, das Telefon könnte läuten, und er würde es verpassen?
Er überlegte, wohin er wohl gehen sollte, bevor ihm die Decke endgültig auf den Kopf fiel. Wieder breitete sich diese unerträgliche Leere in seinem Kopf aus. Wohin sollte er nur gehen? Einkaufen war er schon letzte Woche. Er benötigte nicht allzu viel. Wieder seufzte er laut und ging in den Flur, schlüpfte in ein Paar Schuhe und schnappte sich eine Jacke, darauf bedacht, dabei so wenig Lärm wie möglich zu machen. Ein Blick durch den Spion versicherte ihn, dass sich keine Nachbarn im Treppenhaus aufhielten. Beruhigt öffnete er die Tür und verließ seine schützende Wohnung. Leise zog er die Tür hinter sich zu, schloss einmal ab und holte den Aufzug.
Im Fahrstuhl freute sich Bastian sogar ein bisschen darauf, mit der Masse Mensch zu verschmelzen, ohne wirklich ein Teil von ihr zu werden. Wie ein Chamäleon, das seine Farbe der seiner Umgebung anpasst, um nicht aufzufallen und so Gefahren aus dem Weg zu gehen. Welche Farbe hatte ein Chamäleon gewöhnlich? Vielleicht hatte es gar keine eigene. Er jedenfalls hatte eine, nur erinnerte er sich nicht mehr so genau an sie.
Immerhin sah er heute ganz passabel aus, wie ihm der Spiegel im Aufzug bestätigte. Seine grünen Augen mochte er an sich am liebsten. Immerhin waren grüne Augen etwas Besonderes. Das war dann auch schon so ziemlich alles, was ihm gefiel. Für seinen Geschmack hatte er eine viel zu große Nase. Schulterlanges, dunkelblondes Haar umrahmte es und schränkte seine Sicht etwas ein. Eigentlich gab es gar nicht so viel an seinem Äußeren auszusetzen: Er war recht groß gewachsen und schlank. Dass er keinen Sport trieb, machte sich rund um seine Hüften bereits zart bemerkbar. Das war für ihn aber zu vernachlässigen, auch wenn er es immer wieder an sich selbst bemängelte, wenn er sich nackt im Spiegel betrachtete. Sportstudios jedenfalls ödeten ihn an. Bastian versank in Gedanken.
Bastian, dachte er. Seine Eltern hätten ihm ruhig auch einen vollständigen Namen geben können. Als Kind war ihm das ziemlich egal. Jetzt als Mittzwanziger fand er, hätte er einen richtigen Namen verdient.
Draußen fegte ihm kalter Herbstwind ins Gesicht. Ihm war, als ob ihm eine schwere Last von der Brust genommen wurde. Er atmete tief durch. Schon nach wenigen Sekunden verblasste das erleichternde Gefühl. Die Größe der Welt begann ihn wieder zu erdrücken. Weit und breit war niemand auf der Straße, trotzdem fühlte er sich schrumpfen, bis er im größtmöglichen Gedränge seinen Platz hätte finden können. Ohne Bewegungsfreiheit oder gar der Möglichkeit umzufallen. Zusammengedrückt vom Raum der anderen erkämpfte er sich seinen Platz in der gefühlten Masse, um nicht unterzugehen.
Wovor er sich fürchtete, war nicht nur der physische Raum allein. Es war vielmehr der Geruch, die Persönlichkeit, der Gesichtsausdruck, der Blick, die bloße Tatsache ihrer Gegenwart. Dieses Gefühl war ihm so allgegenwärtig geworden, dass er dafür keine Menschen mehr um sich brauchte. Er spürte die gesamte Last dieser Welt auf seinen schmalen Schultern – und zwar immer und überall.
Das einzige, was ihm jetzt noch Trost zu spenden vermochte, war der Blick zum Himmel, der sich unendlich weit und ebenso blau über ihm wölbte. Was ihm greifbare Sicherheit gab, waren einzig und allein seine vier Wände, die wie Barrikaden dem Druck der Außenwelt standhielten und ihm ein kleines bisschen Platz zum Atmen sicherten. Doch was war mit dem Druck, der von innen kam, dem stillen Feind – oder doch eher Freund? Jedenfalls wäre Bastian ohne dieses innere Drängen jetzt nicht auf dem Weg zu seinem Auto.
Ganz in Gedanken lenkte er seine Schritte über die Fahrbahn, als ihn ein plötzliches Reifenquietschen jäh aufschrecken ließ. Im nächsten Augenblick spürte er einen harten Schlag, der ihm den Boden unter den Füßen wegzog und ihn in die Schwerelosigkeit schleuderte. Sein Körper war nur noch eine Stimmgabel, die plötzlich in Schwingungen versetzt worden war. Seine Wahrnehmung geriet zu einem Rauschen, das unaufhaltsam zu einem ohrenbetäubenden, alles überflutenden Lärm anschwoll. Sich ausbreitende Taubheit brachte schließlich die Erlösung.
Er öffnete die Augen, erblickte zuerst den blaugrauen Himmel über sich und fühlte Erleichterung. Der Versuch, sich an die Geschehnisse zu erinnern, machte ihm klar, dass er auf dem Boden lag. Der erste Gedanke war: Hoffentlich sieht mich hier jetzt keiner so. Er richtete sich rasch auf und klopfte sich den Staub von der Kleidung. Daran, dass er verletzt sein könnte, verschwendete er keinen einzigen Gedanken. Schließlich war er völlig schmerzfrei. Eine merkwürdige Leichtigkeit untermalte seine Gefühlswelt. Er wollte zu seinem Auto eilen. Doch erinnerte er sich nicht mehr, wo er es abgestellt hatte. Er sah sich um und stellte mit einem Mal fest, dass ihm noch ganz andere Dinge fehlten: Das Haus, in dem er wohnte, die Straße, die parkenden Autos und auch alles andere war verschwunden.
»Na bestens, wieder so ein Scheißtraum.«
Er erschrak beim Klang seiner Stimme und schloss den Mund schnell wieder.
Wieder so ein Scheißtraum, dachte er bei sich. Ein wenig lachte er doch über sich. Schließlich war es sein Traum. Er konnte sagen und tun, was er wollte. Bastian musterte seine Umgebung und stellte fest, dass er sich inmitten einer endlosen Ebene befand. Der Boden war hart und staubig, mit Rissen da und dort, spärlich mit hartem, gelblichem Gras bewachsen. Obwohl nirgends eine Menschenseele zu erblicken war, hatte er irgendwie das Gefühl, sich auf den Weg machen zu müssen. So ging er zielstrebig und ohne nachzudenken der aufgehenden Sonne entgegen.
Bastians Füße bewegten sich wie von allein und zeigten keine Anzeichen von Müdigkeit. So leicht war ihm das Gehen noch nie gefallen. Er ging und atmete in einem gleich bleibenden Rhythmus, spürte die warmen Sonnenstrahlen, die allmählich intensiver wurden und wie sie auf seiner Haut ein prickelndes Gefühl erzeugten. Die Jacke hatte er schon ausgezogen und sich über die Schulter geworfen. Er fühlte Freiheit. Hier gab es nur ihn und die Landschaft. Er war froh darüber, denn selbst im Traum bedeuteten andere Menschen Ärger und Angst. Er schloss die Augen und sog die frische Luft ein.
Ich werde ein Lied singen, dachte er bei sich, niemand kann mich hören. Das ist die Gelegenheit.
So fing er zu singen an, noch während er die Augen wieder öffnete. Zuerst sang er noch ganz leise vor sich hin. Mit der Zeit wurde seine Stimme wie von selbst immer lauter und lauter. So laut hatte er sich noch nie singen hören. Je länger er sang, desto besser fühlte er sich. So lief er weiter und weiter.
Als die Sonne hoch am Himmel stand, hatte sich eine gewisse Heiserkeit und Trockenheit in seinem Mund ausgebreitet. Er hielt schließlich inne und verschnaufte.
»Dieser Traum dauert verdammt lange«, sagte er laut. Dieser Traum fühlt sich auch verdammt realistisch an. Die Haut auf seinen Armen, verfärbte sich schon rötlich. Sein Hemd war nass geschwitzt. Seine Haare hingen ihm in klebrigen Strähnen die Stirn herunter. Außerdem kannte er schon keine Lieder mehr.
»Egal«, sagte er sich und wischte sich den Schweiß von der Stirn, »ich muss weitergehen.«
Also ging er weiter, bis ihm jeder seiner Schritte wie tausend vorkam. Das hier ist ein Traum, was denn sonst?
Langsam schlich sich Panik in seine Gedanken: Und wenn es gar kein Traum ist? Nein, das ist unmöglich.
Vielleicht währte dieser Traum unendlich. Wenn das so war, dann war dieser Traum seine neue Realität. Aber warum? Warum er? Warum jetzt, und warum gerade hier? Das brachte wohl nur er fertig, von einer Einöde in die nächste zu wechseln. Was für eine Verbesserung!
»Warum ich?«, murmelte er kopfschüttelnd. Befand er sich etwa in einem Leben nach dem Tod? Vielleicht war er bei dem Unfall gestorben oder lag im Koma im Krankenhaus. Er verstand das alles einfach nicht, also blieb er bei der harmlosesten Version: Es war ein Traum.
Bastian drehte sich einmal um die eigene Achse und sah niemanden und nichts, keinen Baum, keinen Strauch, keinen Berg, keinen Fluss und auch keinen Menschen. Was wurde hier mit ihm gespielt?
Was blieb ihm anderes übrig, als mit der Sonne hoch über ihm weiterzuziehen. Seine Beine bewegten sich beinahe mechanisch. Jetzt hatte er aufgehört nachzudenken. Er hätte seine Seele verkauft für eine kalte Cola und eine einfaches belegtes Brötchen. Niemand interessierte sich dafür. Es war niemand da. Sein Blick richtete sich nur noch nach unten auf seine Füße, die sich in gleich bleibendem Rhythmus vorarbeiteten. Er spürte sie schon lange nicht mehr.
Während er so sinnierte, verspürte er einen Drang: Seine Blase war voll. So blieb er stehen und blickte, aus seiner Trance gerissen, zum ersten Mal seit Stunden wieder um sich. Diesmal lohnte es sich zu seiner Überraschung sogar.
Vor Aufregung beschleunigte sich sein Puls. Seine Augen waren weit geöffnet. Bastian hielt den Atem an und konzentrierte sich nur auf den Horizont. Eine Oase in dieser Wüste! Im schwachen Licht der fast untergegangenen Sonne erblickte er eine kleine Ansammlung fast kahler Bäume und ein ausgeblichenes Holzgerüst auf einem Steinhaufen.
Ein Brunnen, freute er sich, da hinten ist ein Brunnen!
Er vergaß den Druck in seiner Blase. Sein Durst war stärker.
So setzte er sich wieder in Bewegung. Unmöglich der Versuch, nicht zu beschleunigen. Nur noch ein paar Meter von seinem Ziel entfernt, lief er schließlich so schnell, dass er keuchend und beinahe stolpernd die rettende Insel inmitten der Wüstenei erreichte. Seine Augen hatten ihn nicht getrogen. Er stand tatsächlich vor einem Brunnen. Er blickte hinunter, erkannte aber nichts als Dunkelheit. Bastian hob einen kleinen Stein auf und ließ ihn in den Brunnenschacht fallen. Kurz darauf vernahm er ein leises Plumpsen.
»Ja!«, triumphierte er.
Über der Brunnenöffnung hing ein Tonkrug an der Holzvorrichtung. Er ließ ihn an dem Seil hinab und förderte ihn, gefüllt mit dem erfrischendsten Wasser, das er je getrunken hatte, wieder nach oben. Gierig trank er den Krug bis auf den letzten Tropfen leer. Jetzt bemerkte er wieder, warum er vorhin stehen geblieben war. Obwohl hier niemand außer ihm, verschaffte er seiner drückenden Blase hinter einem abseits stehenden Baum Erleichterung. Nun ging es ihm schon viel besser. Er war erschöpft.
Morgen, sinnierte er, wird sich zeigen, wie es weitergehen soll. Falls ich dann noch hier bin und dieser irrsinnige Traum noch andauert.
Bastian suchte sich ein einigermaßen schattiges Fleckchen unter einem der kargen Bäume, räumte alle Steine beiseite und legte sich zur Ruhe. Er rollte sich auf die Seite und zog die Knie an. Es war seltsam: Seine Verzweiflung und der seelische Druck waren wie weggefegt. In einer solchen Situation, die jedem anderen Menschen Angst gemacht hätte, verstummte seine Furcht.
Was habe ich schon zu verlieren, dachte er, während ihm die Augen zufielen. Wenn dies ein Traum ist, dann wache ich bestimmt in meiner Wohnung wieder auf.
»Guten Morgen«, weckte ihn eine sanfte, kindliche Stimme. Erschrocken blickte Bastian auf und sah in zwei dunkle Augen.
»Hast du gut geschlafen?«
Erstaunt musterte er das Mädchen. Sie war etwa um die einssiebzig groß, also etwas kleiner als Bastian selbst. Um ihr sanftes, kindlich anmutendes Gesicht loderte rotes, schulterlanges Haar wie im Wind. Dieses Haar wirkte fast wie ein lebendiges Wesen, es benötigte augenscheinlich keinen Luftzug, um sich zu bewegen. Ihre Haut war, der Sonne zum Trotz, so weiß wie Elfenbein. Die Adern schimmerten an manchen Stellen leicht bläulich durch.
»Mein Name ist Kassandra«, sagte sie freundlich, »und ich weiß, wer du bist.«
Freudig erregt stellte Bastian fest, dass er in seinem Bett lag. Doch dieses Bett stand an einem Ort, der nicht sein Zimmer war. Seine Erinnerung rief ihm die Bilder des vergangenen Tages langsam ins Gedächtnis: Das Treppenhaus. Die Straße. Quietschende Reifen. Ein dumpfer Schlag. Der Asphalt, auf dem er gelegen hatte.
Er rieb sich die Augen und schaute sich verstohlen um. Ein durchdringendes Gefühl überredete ihn, nicht zu glauben, zu Hause zu sein. Tatsächlich befand er sich in seinem eigenen Bett, roch sein Bettzeug, fühlte es auf seiner Haut und erkannte es wieder. Doch das Bett stand nicht in seinem Zimmer. Hier gab es kein großes, ungeputztes Fenster. Er vermisste den weiß gestrichenen, glatten Putz seiner Wände und das große Poster gegenüber seinem Bett. Immer weiter ließ er seine Blicke schweifen. Dieser Raum hatte überhaupt keine Wände. Auch nach der Zimmerdecke mit der kleinen, hässlichen Hängelampe suchte er vergebens. Nichts begrenzte diesen Ort. Trotzdem war es angenehm still. Kein Luftzug war zu spüren. Und noch etwas verwunderte ihn: Er war vollständig angezogen, trug Jeans, T-Shirt und sogar seine Schuhe. Nur seine Jacke lag neben ihm auf der Bettdecke.
»Wo bin ich hier? Wie bin ich überhaupt hierhergekommen? Und warum?«, hörte er sich leise fragen, während er sich wieder den Schlaf aus den Augen rieb.
»Das sind aber viele Fragen. Du wirst deine Antworten darauf finden«, sagte das Mädchen in gleich bleibend ruhigem Ton.
»Dann weißt du also, was hier los ist?«
»Sicherlich. Ich weiß alles.«
Ungeduld gewann allmählich die Oberhand über Bastians Erstaunen und seine Ratlosigkeit.
»Warum sagst du es mir dann nicht einfach?«
»Du würdest mir doch nicht glauben«, sagte sie, ohne ihre Stimme zu erheben.
»Im Moment würde ich alles glauben«, seufzte Bastian. »hilf mir.«
»Ich kann es dir nicht sagen. Noch nicht. Du wirst es selbst herausfinden«, erwiderte Kassandra lächelnd mit dieser freundlichen und kindlichen Stimme.
»Und wann? Ich verstehe das alles nicht. Bitte hilf mir. Wo bin ich hier? Und warum?«, flehte er das zerbrechlich und kränklich wirkende Mädchen neben seinem Bett an.
Sie fuhr sich nervös durch das Haar und neigte den Kopf. »Du wirst verstehen, wenn es an der Zeit ist.«
»Das kann doch nicht dein Ernst sein?«
Er sah Kassandra ungläubig an.
»Sag mir wenigstens, ob ich tot bin.«
»Fühlst du dich denn lebendig?« Kassandra lächelte.
»Ja«, sprach er zögerlich und beruhigte sich wieder etwas.
»Warum fragst du mich dann? Du kennst bereits deine Antworten«, entgegnete sie sanft.
»Was für Antworten? Ich weiß gar nichts. Und du willst mir anscheinend nicht sagen, was hier los ist. Macht es dir Spaß, mit mir zu spielen? Macht es dir Spaß, mich zu ärgern?«, fragte er verzweifelt.
Kassandra zwinkerte ihm zu und sprach beruhigend auf ihn ein: »Ich bin nicht diejenige, die dein Schicksal in der Hand hat. Das bist du selbst. Du darfst mich ruhig beschimpfen, wenn du willst. Du bist nur einer von Unzähligen. Dein Zorn kann mich nicht berühren. Außerdem würde dir mein Wissen nicht von Nutzen sein. Schau mich an.« Ihr Blick wurde wehmütig, dann sprach sie weiter: »Ich weiß, dass es mein Schicksal ist, für immer an diesem Ort zu bleiben. Ich vermag es nicht zu ändern.«
»Du meinst, du verbringst hier dein ganzes Leben?«, entgegnete Bastian ungläubig.
»Zeit hat keine Bedeutung für mich.«
»Warum gehst du nicht einfach?«
»Warum sollte ich das tun?«
»Gefällt es dir denn hier in dieser Einsamkeit?«
Kassandra blickte ihm mit ihren großen, dunklen Augen ins Gesicht.
»Man kann auch inmitten von Tausenden einsam sein. Keiner weiß das besser als du. Was mich angeht, so habe ich meine Wahl getroffen. Und du solltest das auch tun.«
»Und welche Wahl habe ich?«, fragt er, ohne ihrem Blick auszuweichen.
»Nun, du kannst hier bleiben. Du wirst nicht hungern oder dursten. Und niemand wird dir Leid zufügen.«
»Oder?«
»Oder«, Kassandra wandte sich um und deutete auf etwas, von dem Bastian geschworen hätte, dass es eben noch nicht dort gewesen wäre, »du gehst durch dieses Tor dort und findest heraus, was dich erwartet. Ich für meinen Teil weiß es bereits.«
Bastian überlegte einen Augenblick, stand auf, schnappte sich seine Jacke und ging langsam auf das Tor zu. Es war ein einfacher Steinbogen in einer unsichtbaren Wand. Auf der anderen Seite erblickte er einen dichten Wald. Eine geheime Kraft zog ihn dennoch magisch an. Sein unwiderstehliches Verlangen war hindurchzugehen.
Was würde ihm denn schon passieren? Alles war jetzt besser, als sich hier zu langweilen. Er würde nur weiterkommen, wenn er die Herausforderung annahm. Anderseits – wollte er wirklich weiter? Wollte er tatsächlich mehr wissen? Er suchte doch eigentlich nach gar nichts.
So stand er direkt vor dem Durchgang und zögerte. Er musste sich jetzt entscheiden. Entweder für die hundertprozentige Sicherheit, die ihm ein kleines, altklug daherredendes Mädchen versprach, oder für die Ungewissheit hinter diesem Tor.
Noch einmal wandte er sich Kassandra zu. Irgendwie tat sie ihm leid. Sie wirkte so hilflos und einsam, festgehalten an diesem Ort, klein und unbedeutend, eine von Unzähligen. Kein unbekanntes Gefühl für ihn.
»Werden wir uns wieder sehen?«, fragte Bastian zögerlich.
»Vielleicht«, sagte sie unverändert ruhig.
»Ich wusste, du würdest so was sagen.«
Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, nur für einen kurzen Moment.
»Verschwinde endlich!«
Bastian drehte sich wieder um. Von der Ungewissheit trennte ihn nur ein Schritt. Er schloss die Augen, holte tief Luft – und durchschritt das Tor.
Er atmete wieder aus und hielt seine Augen noch geschlossen. Er sog die Luft durch die Nase ein: Es duftete herrlich frisch nach Tannen. Ein kühler Lufthauch strich ihm angenehme Schauer über die Haut. Dann öffnete er die Augen und betrachtete, was ihn umgab. Er befand sich in einem tiefen Mischwald. Das Tor, das er eben noch durchschritten hatte, war spurlos verschwunden. Der Boden war mit braunen Nadeln und Blättern bedeckt. Hier und da bahnte sich ein einsamer Sonnenstrahl seinen Weg durch das dichte Blätterwerk über ihm.
Bastian fröstelte, und so zog er sich seine Jacke an. Hier waren die Temperaturen eher kühl, wie zu Hause. Ansonsten gab es nichts, das ihn an seine gewohnte Umgebung erinnerte. Dieser Wald strahlte etwas Wildes, Unheimliches aus. Bastian kannte keinen vergleichbaren Ort. Nun war er ganz auf sich gestellt. Die letzte Sicherheit hatte er mit seinem Bett zurückgelassen.
Plötzlich vernahm er ferne Geräusche: knackende Äste, rauschendes Laub und dumpfe Schritte auf dem Waldboden. Vollkommen still und bewegungslos stand er da und horchte. Die feuchtkalte Luft machte seinen Atem sichtbar. Trotz angestrengten Lauschens vernahmen seine Ohren nichts, was ihn beunruhigt hätte. Nur der Wind wehte raschelnd durch das Geäst der Bäume. Bastian atmete leise und drehte den Kopf und sah nichts als den Wald.
Da war es wieder: ganz leise, immer lauter werdend. Diesmal mischte sich in das ferne Geräusch aufgeregtes Hundegebell. Woher kam es? Er blickte sich hektisch um, erstarrte kurz darauf wieder und horchte weiter. In das Geräusch mischten sich Pferdehufgetrappel und menschliche Stimmen. Es kam immer näher. Mittlerweile konnte er die ungefähre Richtung orten. Unwillkürlich rannte er los.
Nach wenigen Metern ging ihm bereits die Luft aus. Er hielt an, stützte die Hände auf die Knie und keuchte. Sein Atem kam stoßweise und strömte unregelmäßig als weißer Nebel in die klare Luft. Ein stechender Schmerz in der Seite machte ihm zu schaffen.
Das Bellen war nun wieder lauter zu hören und klang viel näher als zuvor. Bastian sah zurück und hörte anfeuernde Stimmen. Doch niemand war zu erkennen. Es klang wie eine Treibjagd, und er war die Beute. Trotz der Seitenstiche setzte er sich wieder in Bewegung. Diesmal ging ihm viel schneller die Luft aus, der Schmerz zog schneller und kräftiger. Trotzdem lief er weiter und fand bald einen erträglichen Rhythmus. Er ignorierte das Stechen in seiner Seite, seinen kurzen Atem und konzentrierte sich auf seine Flucht. Entkommen war sein einziger Gedanke.
Bilder kamen ihm in den Sinn: Ein kleiner Junge starrt in die Ferne zum Horizont und denkt darüber nach, wie schön es wäre, einfach loszulaufen, immer in die eine Richtung, in der sein Ziel die Unendlichkeit ist. Seine Welt ist keine Kugel, sondern eine Scheibe ohne Rand, eine unvorstellbar sich ausbreitende Weite. Niemals will er müde werden. Alle Hindernisse will er überwinden und alles hinter sich lassen. Nichts will er mitnehmen, einfach nur laufen, seinem Hier und Jetzt entkommen.
Bastians Verfolger ließen sich nicht abhängen. So schnell er auch rannte, sie hatten sich wie Bluthunde an seine Fährte geheftet und kamen schnell näher. Ständig schlugen ihm Zweige ins Gesicht und rissen Kratzer und Striemen in seine Haut, während er vorwärts hetzte. Ein Brennen auf seiner Haut trieb ihn nur noch stärker an, um sein erbärmliches kleines Leben zu rennen. Mehr als einmal blieben seine Füße an Wurzeln hängen. Er strauchelte, stürzte und rutschte über den teils steinigen und mit Nadeln übersäten Waldboden.
Immer schneller und schneller jagte er durch das Unterholz auf der Flucht vor seinen unsichtbaren Verfolgern. Reißende Schmerzen durchzogen seine Brust. Die Luft war kalt und hart und rieb bei jedem Atemzug wie Schmirgelpapier in seiner Lunge. Sein Mund war staubtrocken, genau wie seine Lippen. Die scharfe Luft und die unaufhörlich in sein Gesicht peitschenden Zweige ließen Tränen aus seinen Augen quellen, so dass der Wald bald zu hellen und dunklen vorbeirasenden Farbmustern verschwamm. Seine Handflächen brannten von den Stürzen auf den harten Boden. Dornige Äste rissen ihm die Haut auf, wenn er sie sich aus dem Weg bog. Blut lief als dünnes Rinnsal über seine rechte Augenbraue herab ins Auge, das dadurch höllisch brannte. Er kniff es zusammen und fluchte vor sich hin.
Vor wem laufe ich eigentlich davon? Er wusste es nicht. Dass sie ihn früher oder später einholen würden, war ihm sehr wohl bewusst. Wenn er auf einen Baum kletterte, würden sie ihn vielleicht nicht finden. Es bestand Hoffnung, ihnen so zu entwischen.
Das war der zündende Einfall. Rennend hielt er nach einem geeigneten Baum Ausschau, auf den er klettern könnte. In einiger Entfernung entdeckte er einen, dessen unterster Ast ihm leicht erreichbar schien. Bestärkt von seiner rettenden Idee, fixierte er sein Ziel und eilte darauf zu.
Beim Stamm angekommen, sprang er in die Höhe, griff nach dem Ast und versuchte sich hochzuziehen.
Seine verschwitzten Hände rutschten langsam von dem rettenden Ast ab, so sehr er sich auch daran festkrallte. Dumpf landete er wieder auf dem Waldboden. Jetzt gab es kein Zurück mehr, die Meute war beinahe da. Bastian wischte sich die feuchten Handflächen an seiner Hose trocken und sprang mit zusammengebissenen Zähnen noch einmal, bekam den Ast jetzt fester in den Griff und schwang mit ungeahnter Kraft seine Beine hoch. Geschafft!
Einen Augenblick lang hing er da wie ein Faultier beim Mittagsschläfchen. Das rechte Knie angewinkelt, drückte er von unten mit dem Fußrücken gegen den Stamm und zog sich gleichzeitig mit den Armen nach oben. Einen eleganten Anblick bot er nicht, doch das war ihm jetzt egal. Unter ihm lauerte sein Verderben. Schließlich schaffte er es, sich in eine aufrechte Position zu bringen. Den nächsten Ast erreichte er leicht, wobei er ängstlich bedacht war, nicht abzurutschen und wieder hinunterzufallen. Seine Arme und Beine glichen gedehnten Gummibändern. Geschwind erkletterte er noch den nächsthöheren Ast, auf dem er schließlich zu sitzen kam und mit seinen zitternden Armen den Baumstamm umklammerte. Bastian seufzte erleichtert.
Seine Verfolger hatten ihn zwischenzeitlich aufgespürt. Wütend sprangen sieben Jagdhunde am Baumstamm hoch und bellten sich die Seelen aus den kraftstrotzenden Leibern. Weiße Reißzähne, die gierig nach ihm schnappten, überzeugten ihn von der Gefährlichkeit dieser Bestien. Knappe zehn Meter Höhenunterschied gewährten nur scheinbar eine gewisse Sicherheit vor ihnen. Er begriff sofort, wie sie ihn zurichten würden, wenn sie an ihn herankämen. Ein gutes Dutzend Reiter kam nun mit ihren Pferden näher und bildete einen Kreis um den Baum.
»Was haben wir denn da aufgeschreckt?«, hörte er eine Stimme rufen, worauf spöttisches Gelächter folgte. Das Alter der Frau, die unten auf einem pechschwarzen Hengst saß und zu ihm aufblickte, war schwer zu bestimmen. Sie wirkte größer als Bastian, hatte sehr kurzes, dunkelbraunes Haar und dunkle Augen. Ihre dünnen Augenbrauen waren zusammengekniffen. Die leichte Furche dazwischen ließ vermuten, dass sie das öfter tat. Sie trug einen vom häufigen Jagen im Wald ziemlich zerschlissenen Jagdrock. Ihre Hände in die Hüften gestützt, saß sie breitbeinig mit schwarzen, kniehohen Lederstiefeln in ihrem Sattel und blickte argwöhnisch in den Baum hoch.
»Wer bist du, und wie kommt es, dass du dich ohne Erlaubnis hier in meinem Wald herumtreibst?«, war ihre dunkle Stimme zu vernehmen.