Einsichts-Dialog

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Einsichts-Dialog
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Gregory Kramer

Einsichts-Dialog

Gregory Kramer

Einsichts-Dialog


Weisheit und Mitgefühl durch Meditation

im Dialog – eine buddhistische Praxis

Aus dem Amerikanischen von Michael Schaefer


Arbor VerlagFreiamt im Schwarzwald

© 2007 Gregory Kramer

© 2009 der deutschen Ausgabe: Arbor Verlag GmbH, Freiamt,

by arrangement with Shambala Publications, Inc., 300 Massachusetts Avenue,

Boston, Massachusetts 02115 USA

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel:

Inside Dialogue – The Interpersonal Path to Freedom

Alle Rechte vorbehalten

E-Book 2018

Titelfoto: © 2009 plainpicture/whatapicture

Lektorat: Lothar Scholl-Röse

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de

www.arbor-verlag.de

ISBN E-Book: 978-3-86781-247-4

In memoriam

Irving Kramer

Ich widme dieses Buch meinen großzügigen Lehrern.

Je mehr ich auf dem Weg reife, desto dankbarer werde ich für das, was sie mir schenkten:

Anagarika Dhammadina

Ananda Maitreya Mahanayaka Thero

Achan Sobin Namto (Bhikkhu Sopako Bodhi)

Punnaji Maha Thero

Inhalt

Teil eins Aus dem Leben gegriffen

1. Gemeinsam auf dem Weg

2. Eine Praxis entsteht

3. Ein waches menschliches Wesen

Teil zwei Vier zwischenmenschliche Wahrheiten

4. Die Erste Edle Wahrheit:

Eine nüchterne Einschätzung des Leidens

Zwischenmenschliches Leiden

Ein realistischer erster Schritt

5. Die Zweite Edle Wahrheit

Festhalten am Hunger verursacht Leiden

Drei Arten elementaren Hungers

Wie das Beziehungs-Selbst sich bildet

Der Hunger nach Lustgewinn und der Drang, Schmerz zu vermeiden

Der Hunger nach Dasein und die Angst vor dem Nicht-Sein

Der Hunger, das Dasein zu vermeiden, und die Angst vor dem Gesehen-Werden

Die drei Arten des Hungers vermischen sich

6. Die Dritte Edle Wahrheit:

Allmähliches Aufhören

Gier, Hass und Verblendung nehmen ab

Aufhören und das Glück eines unvergifteten Lebens

7. Die Vierte Edle Wahrheit:

Die Natur des Achtspurigen Weges

Gewöhnliche und außergewöhnliche Ausdrucksformen des Weges

Das volle Spektrum des Weges

Teil drei Praxis

8. Elemente eines wirkungsvollen Weges

9. Meditations-Anleitung zum „Einsichts-Dialog“

10. Innehalten

11. Entspannen

12. Öffnen

13. Dem Entstehen vertrauen

14. Tief zuhören

15. Die Wahrheit sagen

16. Wie die Leitlinien zusammenwirken

17. Die Kontemplationen

Kontemplation im Einsichts-Dialog

Beispiele für Kontemplationen

Das themenzentrierte Retreat Sankhâra

18. Formen der Praxis

Vier Formen der Praxis – gleiche Anweisungen

Das Einsichts-Dialog-Retreat

Wöchentliche Gruppen

Einsichts-Dialog online

Die Praxis im Leben

19. Abwege in der Praxis

Identifikation mit Emotionen

Identifikation mit Gedanken

Gefangen in der Lehrerrolle

Trance, starrer Blick und die Gier nach Erlebnissen

Teil vier Die Tradition leben

20. Die Welt berühren

Arbeit

Paare und Familien

21. Der Einsichts-Dialog und die traditionellen buddhistischen Lehren

Die Leitlinien und Kontemplationen

Der Weg und die Lehren im Allgemeinen

Integration von der Tiefe her

Wie persönliche und zwischenmenschliche Meditation sich gegenseitig befruchten

Der Einsichts-Dialog im Vergleich mit dem traditionellen Retreat

Grundlagen der Achtsamkeit

Abhängiges Entstehen

22. Einfach Mensch

Dank

Über die „Mettâ-Foundation“

Teil eins


Aus dem Leben gegriffen

1

Gemeinsam auf dem Weg

Unser gesamter Weg zum Erwachen, einschließlich des tief greifenden Beitrages, den Meditation dazu leistet, kann vollkommen in das Zusammenleben mit anderen integriert werden. Ein großer Teil unseres Leidens am Leben liegt in den Beziehungen zu anderen. Wir können nicht ernsthaft erwarten, dass individualistische Philosophien und Übungen in der Abgeschiedenheit den Schmerz und die Verwirrung direkt angehen, die zwischen zwei Menschen oder in der Gesellschaft insgesamt entstehen. Und wir können auch nicht erwarten, dass irgendwelche Solo-Unternehmungen uns einen direkten Weg liefern, der uns mit Gelöstheit1 und Verständnis in unseren Beziehungen belohnt. Wir müssen den spirituellen Weg grundsätzlich zwischenmenschlich verstehen lernen und brauchen eine für die Arbeit in zwischenmenschlichen Beziehungen gezielt weiterentwickelte Meditationspraxis.2 Das vorliegende Buch handelt von solch einer Sichtweise und solch einem Weg.

Wir meditieren allein, aber wir leben unser Leben mit anderen Menschen; eine Kluft ist unvermeidlich. Wenn unser Weg zu weniger Leiden führen soll, und viel von unserem Leiden hat mit anderen Menschen zu tun, dann müssen wir vielleicht unser ausschließliches Engagement für diese individualistischen Praktiken einmal hinterfragen. Allein zu meditieren verstärkt eine unreflektierte Annahme: dass die tief greifende Arbeit des Erwachens eine Privatangelegenheit sei. Von dieser Annahme ausgehend, legen wir uns ein Bild des Weges zurecht – von seiner prinzipiellen Richtung und seinen Details –, das Vereinzelung und Innerlichkeit favorisiert. Weil wir als Individuen meditieren, fehlt uns eine Praxis, die ausdrücklich den zwischenmenschlichen Bereich anspricht. Vielleicht haben wir das vage Gefühl, dass etwas nicht stimmt, aber was fehlt, sehen wir nicht. Wir sind uns nicht im Klaren, dass der persönliche und der zwischenmenschliche Weg grundlegend zusammenhängen, und wir wissen auch nicht, wie leicht und sogar elegant die beiden sich verknüpfen lassen. Eine breitere Perspektive steht uns offen. Es ist so einfach.

Jede Art von Meditation hilft uns, ruhiger zu werden, bewusster zu sehen, was in uns vorgeht, und Schwierigkeiten ehrlich und ohne Widerstand zu begegnen. Meditation beinhaltet sowohl das gezielte Üben von stiller Besinnung3 wie auch einen Lebensstil der Achtsamkeit und Sorgfalt.

 

Wenn wir alleine meditieren, sind wir vielleicht ein paar Minuten oder ein paar Tage still, wobei wir zum Beispiel beim Atem oder einer Qualität des Herzens verweilen. Wir kommen zur Ruhe; der Geist wird klar und still. In der Ruhe der individuellen Meditation nehmen wir wahr, wie leidvoll unser Verhältnis zu uns selbst ist. Wir bemerken, wie leicht wir uns in automatischen Gedanken und Emotionen verlieren. Wir bemerken körperliches Leiden, unser ganz persönliches Gieren nach etwas, unsere Angst und Verwirrung. Vor dem Hintergrund einfacher Bewusstheit4 werden unsere Sehnsüchte und Ängste – unsere Kämpfe, Lustgewinn zu erreichen und Schmerz zu vermeiden – drastisch sichtbar. Wenn wir den Stress sehen, der mit der Befriedigung unserer Wünsche verbunden ist, ahnen wir, wie wir viele unserer Probleme aus reiner Gewohnheit selbst fabrizieren, und beginnen, diese Gewohnheiten abzubauen. Wenn die individuelle Praxis sich vertieft, kann sie uns echte Ruhe bringen. Wir bekommen einen Vorgeschmack der Freiheit. Aber ob wir Meditation nun in der Abgeschiedenheit oder individuell für uns, aber zusammen mit anderen Meditierenden in einer Meditationsgruppe oder im Retreat praktizieren: Individuelle Meditation spricht die Verwirrung und den Schmerz in unseren Beziehungen nur indirekt an.

Wenn wir gemeinsam meditieren, wie es beim „Einsichts-Dialog“ der Fall ist, entfaltet sich derselbe Prozess – mit zwei erheblichen Unterschieden. Zwischenmenschliche Meditation enthüllt das Leiden, das in unseren Beziehungen und in der Gesellschaft insgesamt steckt, viel direkter. Sie ist außergewöhnlich wirksam bei der Enthüllung von Wünschen und Ängsten in Bezug auf das Gesehen-Werden, die Dynamik von Einsamkeitsgefühlen und die mächtigen, aber verborgenen Prozesse, mit denen wir ein Selbstbild konstruieren. Zwischenmenschliche Meditation liefert uns auch einen direkteren Weg, die Knoten hinter Leiden und Verwirrung in Beziehungen zu lösen. Ihre Dynamik ist ähnlich wie die der traditionellen individuellen Meditation: Schritt für Schritt kultivieren wir Achtsamkeit und stille Besinnung; diese Qualitäten ermöglichen uns, die in jedem Moment sich verändernde Natur des Erlebens wahrzunehmen; was wir dann erkennen, macht uns frei. Weil aber zwischenmenschliche Meditation mit dem Erlebnis der Interaktion mit anderen arbeitet, das sich in jedem Moment ändert, trägt es die befreiende Dynamik der Meditation in unser zwischenmenschliches Leben. Von da aus sickert es in die gesamte Gesellschaft.

Im Einsichts-Dialog – ob in einem Retreat oder in einer wöchentlichen Gruppe – entfaltet sich eine simple Praxis: Nach einer gewissen Zeit der stillen Meditation im Sitzen werden die Teilnehmer gebeten, in Paaren oder größeren Gruppen über ein Thema wie zum Beispiel Veränderung, Tod oder Zweifel nachzudenken. Es gibt ein paar grundlegende Anweisungen dazu, wie man innehält, um achtsam zu sein, und sich angesichts impulsiver Reaktionen entspannt. Beim Einsichts-Dialog stoßen die Meditierenden auf mehr Anreize, zu reagieren oder etwas festhalten zu wollen, als in stiller Praxis. Parallel zu dieser Herausforderung entdecken sie ein einmaliges Geschenk: dass man sich gegenseitig dabei unterstützen kann, die Dinge zu sehen, wie sie wirklich sind. Weil die Leitlinien, die Praxis und die Einsichten alle die Dynamik der Beziehungen zu anderen Menschen ansprechen, folgen sie uns ganz leicht und natürlich in unseren Alltag. In der Interaktion mit einem Arbeitskollegen erinnern wir uns spontan daran, zu entspannen, oder wir bemerken, wie wir uns in einer Unterhaltung positionieren, oder sehen mit Klarheit und Mitgefühl unser eigenes krampfhaftes Festhalten an irgendetwas. Wir lernen auch, hinter dem Gezeter menschlicher Begegnungen den Funken klarer Bewusstheit zu erkennen. Jeder Moment menschlicher Interaktion wird zu einem Element des Weges zum Erwachen.

Die Gruppenpraxis des Einsichts-Dialogs ist ortsunabhängig realisierbar: Eine Praxisgruppe kann man überall gründen. Einsichts-Dialog-Gruppen können sich einmal pro Woche treffen; ein typischer Anfang besteht darin, die Ziele und Methoden der Praxis gemeinsam durchzugehen. In Stille und jeder für sich meditieren wir eine gewisse Zeit und lassen den Rummel unseres Alltags los. Dann werden wir eingeladen, einen Partner zu suchen, und bekommen neue Anweisungen. Wir bekommen ein Thema zum Nachdenken, normalerweise ein Problem aus dem alltäglichen Leben, das wir im Lichte der Weisheit betrachten, die aus einer fundierten spirituellen Tradition stammt. Während dieses Nachdenkens sind wir eingeladen, in gewissen Abständen immer wieder innezuhalten, gewohnte Geschichten und Routine-Reaktionen loszulassen und in den gegenwärtigen Moment des zwischenmenschlichen Kontakts Achtsamkeit einzubringen. Eine Glocke ertönt, und wir begeben uns so achtsam wie möglich in die zwischenmenschliche Praxis.

Sofort sprudeln Geschichten los. Wir finden unsere eigenen Geschichten und die unserer Meditationskollegen fesselnd, manchmal bewegend. Wir bilden uns ein Urteil über die Geschichten, die handelnden Personen, darüber, wie sie erzählt sind. Unsere Sprechgewohnheiten reißen uns mit; wir sehen, wie wir nach den Emotionen greifen, die diese Begegnung in uns weckt. Eine Glocke ertönt, und jeder wird still. Unterbrochen im gewohnten Weiterspinnen des Fadens, finden wir in der Achtsamkeit wieder unser Zuhause. Wir merken, wie unsere Gedanken und Emotionen gewuchert sind. Die Achtsamkeit stabilisiert sich ein wenig, wir beruhigen uns und lassen den Geist in schlichtem körperlichem Gewahrsein oder beim Atem zur Ruhe kommen. Wenn die Glocke wieder ertönt, begegnen wir wieder unserem Partner im Dialog. Aufregung und Identifikation entstehen immer noch schnell, aber bald fangen wir an, von alleine innezuhalten, ohne die Erinnerung durch die Glocke. Wir haben auch die Unterstützung unserer gegenseitigen Praxis: Auch unsere Partner fangen an, von alleine innezuhalten, und bringen uns, wenn unser Denken wandert, in den Moment zurück.

Am Ende eines einzigen Praxisabends haben wir Dutzende Male innegehalten. In unseren Alltag nehmen wir eine Bewusstheit mit, dass es möglich ist, innezuhalten und sich nicht zu identifizieren mit den Wucherungen unseres Herzens. Während wir uns in unsere alltäglichen Beziehungen begeben, entdecken wir manchmal, wie wir spontan innehalten, unser Erleben ohne Widerstand akzeptieren und andere in unser Feld der Achtsamkeit mit einbeziehen. Bei der Arbeit und zu Hause, wie auch in unserer wöchentlichen Praxisgruppe, finden wir Möglichkeiten, geistige Flexibilität zu kultivieren; wir beginnen uns mühelos von der innerlichen Achtsamkeit zur Achtsamkeit auf andere hinzubewegen.

Im Retreat ist der Einsichts-Dialog eine konzentriertere Form zwischenmenschlicher Praxis. Während der ersten Tage eines Retreats kommen wir an und kommen zur Ruhe, wobei wir unsere Angelegenheiten mit der Außenwelt auf später vertagen. Wie bei vielen Meditations-Retreats wird die meiste Zeit für die Meditation verwendet, und für die meisten unserer Bedürfnisse ist gesorgt, was uns die Gelegenheit gibt, zu entspannen und uns der Meditation zu widmen.

Wenn wir uns ein wenig beruhigt und ein gewisses Maß an Achtsamkeit aufgebaut haben, werden wir zum Dialog eingeladen. Wie in einer wöchentlichen Gruppe wird uns ein Thema angeboten. Zu Anfang kommt vielleicht eine Geschichte über Spannungen am Arbeitsplatz hoch. Wir bemerken irgendwo eine Anspannung im Körper und entspannen uns. Die Geschichte bleibt gegenwärtig – die Wahrheit des Moments –, also teilen wir sie mit. Von Zeit zu Zeit halten wir im Erzählen inne, um uns aus gewohnten Emotionen auszuklinken. Wenn wir fertig sind, schaut unser(e) Partner(in) uns an, und wir sehen Mitgefühl in seinen oder ihren Augen. Wir fragen uns, ob wir zuviel gesagt haben; wir beobachten unser Denken, wie es rasend versucht, aus der Situation ein bisschen Glück zu quetschen oder zumindest eine peinliche Verlegenheit zu vermeiden. Wir sitzen; die Achtsamkeit wird klarer. Wir sehen, wie diese Gedanken kommen; nach einem Moment sind sie verschwunden. Unser(e) Partner(in) spricht von der Sehnsucht, von diesem Stress frei zu sein; er oder sie versteht unsere Erfahrung, und wir wissen, dass wir gehört worden sind. Dann ist es still. Das Herz ist jetzt weniger hungrig. Das Gefühl eines Selbst, um dessen Schutz wir gekämpft haben, lockert sich; Gedanken und Empfindungen steigen und sinken in einer weiträumigen Bewusstheit. Dieses Gefühl für den sich entfaltenden Moment teilen wir mit unserem Partner, aber die Bewusstheit ist immer noch autonom. Wir erkennen, wie wir uns mit dem Lärm unseres Denkens identifiziert haben. Wir ruhen in Bewusstheit. Freude kommt auf, wenn wir so loslassen, und Friede. Einen Moment lang steht das mentale Fließband still. Wir kosten die Freiheit.

Nach einigen Tagen wird unsere stille Besinnung durch Sitzungen schweigender Meditation, Essen in Stille und die fürsorgliche Atmosphäre des Meditationsretreats kontinuierlich vertieft. Die Achtsamkeit wird beständiger, schärfer, leichter und präziser. Die stille Besinnung beginnt zu reifen, und unser Denken ist gleichmäßiger, sogar inmitten der komplexen Dynamik zwischenmenschlicher Beziehung. Wir fühlen uns zunehmend wohler. Unsere Bewusstheit dehnt sich aus und umfasst sowohl unsere inneren Erfahrungen wie auch die der anderen. Wir entdecken persönlich, dass die meditative Geisteshaltung sich im zwischenmenschlichen Kontakt kultivieren und in diesem Kontakt fest verankern lässt.

Im weiteren Verlauf des Retreats werden die Kontemplationen – zum Beispiel über die Vergänglichkeit oder das konstruierende Denken – zunehmend tief greifender und in jedem Moment des Erlebens erstaunlich real. Eine freundlich natürliche, klare Bewusstheit wohnt hinter jedem Moment. Obwohl die Kämpfe eines Retreats vielleicht weitergehen – der schmerzende Körper, gelegentliche Langeweile –, bemerken wir, wie Anzeichen von Weisheit und Mitgefühl aufblühen und im Moment des zwischenmenschlichen Kontakts die Zartheit und Unberechenbarkeit des Lebens enthüllen.

Weil diese Praxis zwischenmenschlich ist, kultivieren wir Achtsamkeit und das Annehmen von anderen und streben an, dass diese Qualitäten immer weiter wachsen. Wir sehen immer und immer wieder, mit unterschiedlichen Meditationspartnern und in Gruppen, dass jeder ähnliche Stress-Situationen, Zweifel, Freuden und Einsichten hat. Wir sind alle empfindlich, wir sind alle brillant, wir hungern alle nach Freundlichkeit. Mitgefühl wächst auf die natürlichste Art, die möglich ist: durch schlichten, ehrlichen Kontakt. Die Meditationspraxis enthüllt den Schmerz und die Isolation, die aus Verurteilen und Egoismus entstehen. Die Freude an liebevoller Güte und unsere Fähigkeit, der Angst vor der Leere ins Auge zu blicken, inspirieren uns. Wenn wir unserer eigenen Verwirrung nicht mit Bewusstheit begegnen können, können es oft unsere Meditationspartner. Im Kraftfeld liebevoller Bewusstheit lässt krampfhaftes Festklammern nach, lösen sich die Fesseln. Schädliche Gewohnheiten werden klar gesehen und fallen ab, wie bei einer Häutung.

Im Licht dieser Güte und Weisheit beginnen einengende und belastende Charakterzüge sich zu lockern. Selbsttäuschungen, wie etwa, wir seien nichts wert, seien sehr wichtig oder leicht zu erschüttern, beginnen sich aufzulösen. Die hartnäckigsten und schmerzhaftesten Knoten in unserem Wesen – die, die mit den Beziehungen zu anderen Menschen zu tun haben – entwirren sich. Wir bemerken in uns eine tiefe Ruhe und erkennen durch den Kontrast, wie verkrampft wir gewesen sind. Die Tendenz des Denkens, dauernd etwas Neues zu fabrizieren, wird so gesehen, wie sie ist. Die Strukturen, nach denen wir unser Leben formen, unsere Selbstbilder, transformieren sich auf einer sehr tiefen Ebene. Achtsamkeit und Konzentration beleuchten den Moment zwischenmenschlichen Kontakts, und wir entdecken, dass diese Formen der Bewusstheit mitfühlend sind. Wir haben die Natur unserer Gefangenschaft und unser einmaliges Potential, frei zu sein, begriffen.

1 Im Original „ease“, einer dieser unnachahmlichen englischen Einsilbler mit einer ganzen Palette von Bedeutungen: Leichtigkeit, Unbefangenheit, Wohlgefühl, Behagen, Entspannung etc.; hier meist mit „Gelassenheit“ oder „Gelöstheit“ wiedergegeben (Anm. d. Übers.)

2 Im Original zwei Schlüsselbegriffe: „relational“ und „interpersonal“. „Relational“ wird, je nach stilistisch-grammatischem Kontext, übersetzt mit „in Beziehungen“, „beziehungsmäßig“, „zwischenmenschlich“ oder „im zwischenmenschlichen Bereich“. „Interpersonal“ wird wiedergegeben durch „zwischenmenschlich“, „personal“ durch „persönlich“ (Anm. d. Übers.)

 

3 Im Original „tranquillity“: „Beschaulichkeit, Ruhe“; da vom Autor als technischer Begriff für die meditative Versenkung benutzt, hier der Versuch einer neutralen Übersetzung (Anm. d. Übers.)

4 Im Original „awareness“

2

Eine Praxis entsteht

Die zwischenmenschliche Meditation ist ganz natürlich aus meinem persönlichen Leben und meinem Leben im Zusammenhang mit den buddhistischen Lehren entstanden. Sie ist entstanden in dem sozialen und philosophischen Milieu des im Westen neu angekommenen Buddhismus und aus den speziellen Bedürfnissen und Eigenheiten unserer heutigen Zeit, darunter Wissenschaft, moderne Entfremdung und sich verändernde Lebensbedingungen. Unter diesen Bedingungen hat sich die Praxis des „ Einsichts-Dialogs“ entwickelt – und gleichzeitig, Schritt für Schritt, entwickelte sich ein zwischenmenschlicher Blickwinkel auf den Dhamma (Sanskrit: Dharma). Die zwischenmenschlichen Übungen und Lehren haben sich aus einer Unmenge von Möglichkeiten phasenweise entwickelt. Jede Phase fühlte sich an, als sei das Ziel nun erreicht; die neuen Perspektiven, die sich später daraus jedesmal ergaben, sah ich nie voraus.

Das Fundament für diesen Weg wurde gelegt, als ich den Weg der buddhistischen Meditation betrat. Meine erste Lehrerin, Anagarika Dhammadina, war angesichts meines Egoismus gütig, grimmig und hartnäckig. Sie lehrte mich meditieren; als die Meditation mir zeigte, welcher Schmerz in meiner Egozentrik verborgen lag, half sie mir, mich in Richtung Selbstlosigkeit und Klarheit zu orientieren. Anagarika zeigte mir, dass der Weg des Buddha ein Weg der Menschenbildung ist, ein Weg, der Anstand und Weisheit miteinander verbindet.

Sie machte mich auch mit anderen Lehrern bekannt, Lehrern, von denen sie selbst lernen wollte. Ananda Maitreya Mahanayaka Thero wirkte auf mich zunächst wie ein freundlicher alter Mönch; nur allmählich wurde mir die Tiefe seiner Weisheit bewusst. Man hatte mir gesagt, er sei der älteste und geachtetste Mönch auf Sri Lanka. Schritt für Schritt entdeckte ich, dass er auch ein Mystiker und Gelehrter höchsten Ranges war. In der Arbeit mit ihm vertiefte ich mein formales Wissen über den Dhamma und studierte buddhistische Psychologie, den Abhidhamma. Durch unsere gemeinsame Zeit im Retreat und wenn er bei mir zu Hause Gast war oder ich ihn auf seinen Besuchsreisen zu Retreat-Zentren oder Universitäten begleitete, lebte mir Ananda Maitreya auch ein eindringliches Beispiel liebevoller Güte vor – ein wortloser Unterricht, der sich später als absolut zentral für meinen Weg und mein Verständnis der buddhistischen Lehren erwies.

Anagarika machte mich auch mit Achan Sobin Namto bekannt, einem thailändischen Mönch, der fünfzehn Jahre lang mein hauptsächlicher Meditationslehrer sein sollte. Sein präziser Unterricht war mit einem genauso präzisen Verständnis der Dynamik des Geistes verbunden. Die Strenge seiner Retreats, verbunden mit den tiefgründigen und aufrichtigen Lehren von Anagarika und Ananda Maitreya, nährten in mir einen tiefen Respekt für formelle und gründliche Meditationspraxis. Dieser Aspekt war der Dreh- und Angelpunkt dafür, dass sich schließlich der Einsicht-Dialog als Retreat-Praxis herausbildete.

Anagarikas Einladung zu einem Retreat mit Punnaji Maha Thero erwies sich als Abschiedsgeschenk für mich – sie starb eine Woche vor dem Retreat, bevor ich sie wiedersehen konnte. Unsere Zusammenkunft wurde Gedenkfeier und Retreat zugleich. Sie hatte mir diesen Lehrer nachdrücklich ans Herz gelegt, indem sie sagte: „Gregory, wir haben viel zu hart gearbeitet. Die Lehren des Ehrwürdigen Punnaji sind frisch. Von ihm habe ich die ersten neuen Einsichten in den Dhamma seit Jahren gehört.“ Sie hatte recht: Bhante Punnaji beeinflusste mich tief. Er betonte die Entspannung, was sehr aufschlussreich war, und als ich lernte, ruhig zu werden, war Achtsamkeit ganz leicht. Sein Mehrfach-Ansatz als Meditationslehrer begann mit Kontemplationen, die er aus Buddhas Lehren heranzog; ich staunte, wie konzentriert mein Geist wurde, wenn ich meine Gedanken auf traditionelle Themen wie etwa die Wahrheit der Vergänglichkeit in meinem Leben richtete. Nach Tagen des Eintauchens in diese Kontemplationen und anschließend in die Meditation über liebevolle Güte war der Geist entspannt und konzentriert, und es war einfach, präsent zu bleiben, wenn ich die Aufmerksamkeit auf den Atem lenkte. Seine Lehre, dass Entspannung ganz grundlegend sei, und sein Einsatz traditioneller Kontemplationen haben die Entwicklung des Einsichts-Dialogs beeinflusst.

Punnajis größter Einfluss auf mich und auf die Entstehung des zwischenmenschlichen Dhamma war sein Umgang mit den Lehren des Buddha. Auf der Grundlage tiefer Einsichten, die er in der Meditationspraxis erlebt hatte, wurde ihm klar, dass die Art, wie der Dhamma gelehrt wurde, zentrale Wahrheiten verdeckte. Er hatte sich in frühe buddhistische Lehren vertieft und festgestellt, dass er Schlüsselwörter neu übersetzen und beträchtliche Teile des Dhamma rekonstruieren musste. In das Gerüst dieser Lehren baute Punnaji westliche Psychologie und Philosophie ein, seinen eigenen Hintergrund als praktischer Arzt auf Sri Lanka und die Früchte aus seinem Leben und seiner Praxis. Von ihm lernte ich tiefen Respekt für die ganz frühen Quellen und gleichzeitig unerschütterliche Integrität in Bezug auf das Leben und die Meditation, wie ich sie erlebte. Ich lernte auch, dass Integrität manchmal bedeutet, neue Formen der Praxis zu finden, und dass das akzeptabel und angemessen ist.

Eine zweite Phase in der Entwicklung des Einsichts-Dialogs begann während meiner Promotion. Im Lauf des ersten Jahres beschlossen meine Kollegin Terri O’Fallon und ich, einen dialogischen Ansatz zu studieren, den David Bohm, ein Physiker, der eng mit Krishnamurti zusammengearbeitet hatte, vorgeschlagen hatte.5 In der Form einer Online-Übung präsentierten wir diese Art des Dialoges in einem Unterrichtsprojekt. Anfänglich lebte unsere Arbeit von einem Interesse an gemeinsamen Sinn-Inhalten und an der Art und Weise, wie Menschen kollektiv zu denken und zu handeln lernen. Bald wurde klar, dass noch etwas anderes entstand – etwas, was uns inspirierte, den Stil und die Ziele des Bohmschen Dialogs hinter uns zu lassen.

Terri hatte begonnen, bei mir Vipassanâ-(Einsichts-)Meditation zu studieren, und wir beide stellten fest, dass sich etwas veränderte, wenn wir unsere Meditationspraxis in die Dialogsitzungen einbrachten. Die Kraft der Achtsamkeit kam ins Spiel, und eine neue Klarheit entstand; der Dialog selbst wurde meditativ. Als sie und einige meiner Meditations-Schüler sich mir zu einem Retreat anschlossen, komprimierte ich das Dutzend Leitlinien, das Terri und ich für die Kombination aus Meditation und Dialog aufgestellt hatten, auf sechs und gab dieser Praxis, da sie von der Einsichts-Meditation inspiriert war, den Namen „ Einsicht-Dialog“. Bei diesem ersten Retreat waren unsere nachmittäglichen Dialoge unbeholfene Zwischenspiele während langer Tage stiller Vipassanâ-Meditation; aus Respekt für die traditionelle Praxis der Teilnehmer beendete ich nach ein paar Tagen die Dialogpraxis. Dass wir aber die Meditation in die Sphäre zwischenmenschlicher Interaktion eingebracht hatten, war für Terri und mich der Startschuss für den Einsichts-Dialog; das sollte mich auf Jahre hinaus inspirieren.

Nach diesem Retreat waren wir eine Vierergruppe, die ein Jahr lang auf privater Basis in einen regelmäßigen Online-Dialog traten und sich zweimal trafen, um den Dialog persönlich auszuprobieren. Die Zahl der Leitlinien wuchs auf neun, aber die Grundidee blieb gleich: Wenn Menschen gemeinsam praktizieren, kann daraus Achtsamkeit erwachsen. Die Online-Meditation wuchs zu einer kraftvollen eigenständigen Meditationsform heran. Terri und ich entwickelten eine Methodik zur Untersuchung der Meditation, „Insight Dialogic Inquiry“ („Einsicht durch dialogisches Erforschen“) und nutzten sie für eine gemeinsame Doktorarbeit über das Thema der Online-Meditationspraxis. Nachdem wir die Doktorarbeit abgeschlossen hatten, begann Terri im weiterführenden Bildungsbereich zu unterrichten und vermittelte ihren Studenten und ihrer spirituellen Gemeinschaft eine Variante der von uns entwickelten Praxis.

Eine weitere Phase begann, als ich anfing, wöchentlichen Meditationsgruppen in Portland, Oregon, den Einsichts-Dialog anzubieten. Eine fortlaufende engagierte Gruppe ermöglichte es mir, die Leitlinien weiterzuentwickeln und zu verfeinern und sie zur Grundlage der wöchentlichen Vorträge und Praxis zu machen.

1998 bot ich am „Barre Center for Buddhist Studies“ in Massachusetts ein Retreat an, das praktisch reine Einsichts-Dialog-Praxis war. Es war eine ziemlich unbeholfene Angelegenheit. Sechsunddreißig Menschen saßen in einem großen Kreis und hatten kein anderes Thema als Achtsamkeit, und ich als Lehrer redete zu viel, weil ich Gehör finden wollte. Mir fiel nichts Besseres ein! Trotz meiner Unbeholfenheit gab es in diesem Retreat schöne Momente und für viele auch hilfreiche Erfahrungen – dank der Kraft der Achtsamkeit, der sich herausbildenden Praxis selbst und unserer von Grund auf integren Absichten.

Im Lauf der nächsten sechs, sieben Jahre entwickelte sich die Praxis beträchtlich weiter. Es zeigte sich, dass diese zwischenmenschliche Meditation ein Eigenleben hatte. Meine Hauptübung war es, dem zu vertrauen, was jeweils ans Licht wollte, und sehr genau darauf zu achten, wo die Wahrheit vibrierte und wo andererseits Verwirrung, Selbststilisierung, kulturelle Prägungen und Spannungen dominierten. Die Praxis und mein Verständnis des Dhamma reiften heran. Ein Durchbruch, ein stiller Entwicklungsschritt nach dem anderen formten die Praxis.

Der erste echte Durchbruch zu ihrer Form begann mit einer kreativen Explosion, als ich im indischen Auroville ein Retreat leitete, in der spirituellen Gemeinschaft, die sich im Umkreis der Lehren des Hindu-Weisen Sri Aurobindo und der „Mutter“, seiner spirituellen Mitarbeiterin, gebildet hatte. Zuhause in Portland war mein spiritueller Weg auf die Probe gestellt worden, wie ich es noch nie zuvor erlebt hatte; dadurch schien der Boden für mehr Forschergeist und Risikofreude bereitet. Bei der Arbeit mit dieser Gemeinschaft von Menschen, die sich mit tiefem Ernst ihrem spirituellen Weg widmeten, erprobte ich viele Elemente zum ersten Mal: Aufteilung der Gruppen in Teilgruppen, Veränderung der Gruppengröße im Lauf des Retreats, explizite Vorgabe von Themen für die Dialog-Gruppen und das Vorstellen der Meditationstechnik in einer Sprache, die einer anderen spirituellen Tradition als der des Buddhismus entstammte.

Aus dem Gefängnis meiner Vorstellungen befreit, wie diese Praxis aussehen sollte, traf ich weitere Veränderungen, als ich die Praxis zurück nach Amerika brachte. Auf meine Intuition und die Erfordernisse des Moments achtend, begann ich andere Techniken einzubauen: Yoga, um körperliches Wohlbefinden zu fördern; Meditation in der Natur, um zu einer sanften Erweiterung des Bewusstseins zu ermutigen; gelegentlich eine Kombination aus Geh-Meditation und Dialog.