Frouzan und der Priester

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Frouzan und der Priester
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Gerhard Walter Funk

Geboren 1926. Kindheit, Schulen und Jungvolk in Berlin.

Arbeitsdienst, 1944 bis zur eigenmächtigen Beendigung des Militärdienstes 1945 als Ingenieur-Offiziersanwärter bei der Kriegsmarine.

Architekturstudium an der Kunstakademie Berlin. Tätig als freier und angestellter Bauingenieur mit vierjährigem Einsatz im Iran und einjährigem im Emirat Abu Dhabi.

1963 bis 1991 Referent für Bauangelegenheiten in einem Industriebetrieb.

Ruhestand.

Verheiratet, drei Kinder.

Reisen in Europa, in die Südsee, nach Argentinien, mehrfach die USA, Kanada, Sowjetunion, China, Indien, Thailand, Hongkong und Japan.

Neben Reisen bewegt er sich auf den weiten Feldern der Kultur.

Gerhard Walter Funk

FROUZEN

UND DER

PRIESTER

Ein zeitgeschichtlicher und

zeitkritischer Roman

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2015

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Verfasser

Umschlaggestaltung:

POINTprepress Stuttgart

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Dank dem Alten und Neuen Testament,

Dank Wissenschaftlern und ihren Erkenntnissen

in verschiedenen Abhandlungen,

Dank denen, die mich unterstützt und Dank auch denen,

die mich kritisch beraten haben.

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Frouzan und der Priester

Veröffentlichungen des Verfassers

Babolsar ist ein kleines Städtchen im Iran, genauer, ganz im Norden des Landes in der Ebene zwischen Elbursgebirge und dem Kaspischen Meer. Der heutige Staat Iran ist das Überbleibsel des vor 2600 Jahren existierenden Persischen Großreiches, das damals von Indien bis zum Mittelmeer und vom Kaspischen Meer mit Vorderasien bis Ägypten reichte. Heute ist der Iran ein sogenannter Gottesstaat, dem man nachsagt, dass er Feind von Amerika und Israel sei, dass er religiösen Terrorismus unterstütze und bei den Atommächten mitmischen wolle.

Meine Geschichte beginnt 1956, als es im Iran noch friedlich zuging und es keine nennenswerte Opposition gab. Der Shah Mohammad Reza Pahlavi regierte und hielt Hof in Teheran und Ali Menachabi beherrschte seinen großen Familienclan in Babolsar.

Bleiben wir bei Ali in Babolsar. Er war ein sehr gläubiger Muslim und befolgte die Anweisungen des Korans. Obwohl der ihm drei Frauen erlaubte, lebte er nur mit einer zusammen, Djamila, der Mutter seiner sieben Kinder. Sie waren eine zufriedene Familie und lebten von den Erträgen ihrer Baumwollfelder, der Teeplantagen, vom Reis und Fischfang. Gelegentlich nahmen sie auch Gäste aus Teheran auf, meistens Amerikaner und Europäer, die zum Baden herübergekommen waren. Herüber, weil sich zwischen Teheran und dem Kaspischen Meer der Elburs als gewaltige Felsbarriere bis zu einer Höhe von 3000 Metern auftürmt. Die höchste Erhebung ist der Demawend mit über 5600 Metern.

Die Männer von Babolsar saßen nach der Arbeit und dem letzten Abendgebet wie immer in Mohamed Zades Chaichane, dem Teehaus am kleinen Marktplatz. Sie rauchten ihre Wasserpfeife und tranken Tee. Das Wetter, Ernte, neue Arbeitsgeräte und Preise waren ihr Thema. Politik war ihnen nicht so wichtig dafür aber, wie überall auf der Welt, die Frauen, die derweil Hausarbeit verrichteten und Kinder und Tiere versorgten.

»Sag mal, Ali, du bist doch ein richtiger Mann. Warum hast du nur eine Frau? Du kannst doch drei haben«, forderten ihn seine Freunde hinterlistig heraus.

Er musste nicht lange überlegen. »Ich danke Allah für meine Manneskraft und die Liebe meiner Frau. Ich brauche keine anderen und muss mich nicht auch noch über die ärgern. Außerdem kann ich mir auch gar keine weiteren Frauen leisten.«

»Na, jetzt untertreib mal nicht. Du hast von uns bestimmt das meiste Geld.«

»Schon möglich, trotzdem reicht mir meine eine!«

Seine Mitraucher lachten und meinten: »Da entgeht dir aber was.«

Es war immer wieder dasselbe, er konnte es nicht mehr hören. Er wünschte allen Allahs Segen, stand auf und ging nach Hause. Ein anderer Grund für sein frühes Aufbrechen war, dass er sehr früh am nächsten Morgen mit seinem Ältesten, mit Hossein, zum Fischen hinausfahren wollte. Das hatten sie schon beschlossen.

Für die Baumwolle, den Tee, Reis und das Haus waren die Frauen und Mädchen zuständig. Mühselig war bei den hohen Temperaturen und der großen Luftfeuchtigkeit deren Arbeit auf den Feldern. Sie arbeiteten jahreszeitlich bedingt in den Baumwollpflanzungen und Teeplantagen oder wateten durch die bewässerten Reisfelder und zupften Unkraut. Dabei trugen sie mehrere Röcke, Hosen, Hemden und Westen übereinander. Sie praktizierten damit das Wissen, dass das, was gegen Kälte schützt, nämlich dicke Kleidung, auch gegen Hitze hilft. Eine uralte Erfahrung, die heute als Ergebnis neuzeitlicher Forschung als »Dämmung« wichtiger Bestandteil zum Beispiel beim Bauen geworden ist. Die Röcke der Frauen waren hochgeschürzt und die Hosenbeine bis über die Knie hochgekrempelt. Mehrfach um den Kopf geschlungene Tücher schützten sie gegen die brennende Sonne. Nur in den Verschnaufpausen konnten sie im Schatten von Bäumen etwas Kühle und Schutz finden.

So arbeiteten sie Tag für Tag, sangen miteinander und redeten über Kinder, Familie und Haushalt. Wie überall auf der Welt waren auch die Männer ihr Thema. Zu den Frauen gehörte auch Sima, Alis älteste Tochter. Sima war bereits siebzehn Jahre alt und noch nicht verheiratet. Das war ungewöhnlich und führte zu Redereien hinter vorgehaltener Hand. Ihre Mutter und besonders der Vater machten sich deswegen Sorgen. Der Vater hatte bereits mehrere junge Männer vorgeschlagen, die Sima aber nicht haben wollte.

»Papa«, protestierte sie, »die Väter haben Geld, ja, aber die Söhne haben keinen Verstand. Was soll ich mit ihnen reden? Auf die kann ich verzichten, da lese ich doch lieber.«

»Du sollst nicht mit ihnen reden, du sollst mit ihnen eine Familie mit Kindern, vor allen Dingen mit Jungs gründen. Das sollst du! Verstanden?«

Ali war ein strenger Vater, der Gehorsam verlangte. Er war ziemlich ungehalten, weil seine Älteste so widerborstig war. Die ließ sich aber nicht einschüchtern und nahm keinen aus der Wunschliste des Vaters. Sie arbeitete mit den Frauen, unverheiratet und keineswegs unglücklich weiter, im Haus und auf den Feldern.

Schon ganz früh am Morgen, gleich nach dem ersten Morgengebet, machten Ali und Hossein wie alle anderen Fischer des Dorfes ihre Boote und Netze klar. Es fing an hell zu werden, als sie aufs Meer hinaussegelten. Die Männer auf ihren Booten hatten unter der Hitze ebenso zu leiden wie die Frauen auf den Feldern. Ein leichter Wind, der fast immer über das Wasser wehte, brachte nur wenig Kühlung. Vater und Sohn waren heute allein an Bord.

»Wie findest du eigentlich das Verhalten deiner Schwester?«, fragte der Vater seinen Sohn Hossein auf der ruhigen Fahrt zu den Fischgründen. Der traute sich aufgrund der patriarchalischen Erziehung und des damit verbundenen unbedingten Gehorsams nicht, dem Vater seine wahre Meinung zu sagen. Er blickte zum Mast hinauf und auf den Stand des Segels.

»Was sagt denn die Mama dazu?«, entzog er sich der Antwort.

»Die Mama, was soll die schon sagen? Die möchte Enkel haben.«

Damit war das Thema erledigt. Insgeheim aber bewunderte Hossein den Mut seiner Schwester, die sich dem strengen Vater widersetzte.

Jetzt hatten Vater und Sohn auch die Stelle auf dem Meer erreicht, an der sie ihre Netze auswerfen wollten. Sie hatten Glück, denn schon nach kurzer Zeit brodelte das Wasser und zeigte an, dass sich eine Menge Fische im Netz befanden. Sie holten mühevoll das schwere und volle Netz ein. Mitten im Fang zappelte ein ganz großer Fisch. Mit Anstrengung holten sie ihn heraus und stellten sachkundig fest, dass es sich um eine trächtige Stördame handelt, die sich auf ihrem Weg zum Laichplatz verirrt haben musste. Hossein hielt sie mit seinen starken Händen fest und tastete sie ab.

»Das ist aber ein Brocken«, stellte er fest. »Die hat bestimmt einige Kilo Kaviar im Bauch!«

Sein Vater nickte bestätigend und fragte: »Weißt du, ob die bestellten Dosen schon gekommen sind?«

»Schon vor ein paar Tagen. Die Mädchen haben sie sauber gemacht und im Keller gestapelt und abgedeckt.«

»Gut. Was da noch im Netz ist, reicht uns. Wir fahren zurück.«

Die anderen Fischer waren zu weit weg und mit ihrem eigenen Fang beschäftigt und hatten den guten Fang Alis nicht beobachten können. Als Ali und Hossein am Abend an Land gingen, war es schon dunkel, sodass sie den Stör und den anderen Fang ungesehen in das Haus bringen konnten.

 

Der Kaviar ist eine Delikatesse, deren Export dem Staat viele Devisen einbrachte. Im Vergleich mit den exorbitanten Erdöleinnahmen waren sie natürlich nur ein kleines Zubrot. Trotzdem waren die Fischer verpflichtet, den Rogen bei speziellen staatlichen Sammelstellen abzuliefern. Den Fisch durften sie für sich behalten, ebenso den übrigen Fang aus ihrem Netz. Die kostbaren Fischeier lieferten sie jedoch nicht immer ab. Sie aßen sie selbst oder erweiterten damit das Frühstücksangebot für ihre Gäste, die kräftig zulangten. Man sagt dieser Delikatesse nach, dass sie eine gewisse »Leistungsfähigkeit« beider Geschlechter erfreulich stärke.

Am nächsten Tag besuchte Ali den staatlichen Aufpasser.

»Salam Aleikum, Kasim. Wie geht es dir?«

»Aleikum Assalam, Ali. Danke für deine Nachfrage, es geht mir gut. Allah sei Dank!«

»Wie geht es denn deiner kleinen Tochter? Hat sie noch immer Fieber?«

»Nein, heute geht es ihr viel besser. Sie isst auch schon wieder etwas Brei.«

»Djamila schickt mich und hat gesagt, ich soll ihr eine Schachtel Buntstifte bringen, weil sie doch so gerne und so schön malt, und fünfzig Rial für Papier dafür.«

»Sage Djamila danke. Aischa wird sich bestimmt darüber freuen.«

»Die Buntstifte sind in Deutschland hergestellt und bestimmt gut.«

»Glaube ich, noch mal danke, Ali.«

»Schon gut, Kasim.«

Sie tranken Tee und man hörte es, wenn sie ihn über den Zucker schlürften. Nach einer Weile fragte Kasim, der den Grund von Alis Besuch ahnte: »Wart ihr gestern draußen?«

»Ja, wir hatten ein gutes Netz voll und sind zufrieden. Ein junger Stör war auch drin.«

»Den habt ihr aber wieder zurück ins Wasser geworfen?«

»Ja, natürlich, er hat nicht mehr als drei Kilo gewogen.«

Der gezahlte Betrag war selbstverständlich für den »blinden« Aufpasser ein willkommenes Bakschisch. Das ist im Orient eine ganz normale Anerkennung von Hilfen jeglicher Art.

Der Kaviar, die lilablauen großen Fischeier, wurde noch am gleichen Abend von den Frauen und Kindern aufbereitet und vorsichtig in die gesäuberten Dosen gefüllt. Fatima, die Kleinste, schüttelte sich vor Abscheu und wurde weinend in ihr Bett gebracht. Nachdem alle noch gekostet hatten, wurden die Dosen verschlossen und im kühlen Keller gestapelt.

Noch vor Sonnenaufgang fuhr Hossein seine wertvolle, eisgekühlte Last in einem uralten, klapprigen Dodge nach Teheran. Nachdem er die grünen Hänge hinter sich gelassen und den Gipfel überquert hatte, fuhr er stundenlang über unzählige, gefährliche Serpentinen die Schotterstraße hinunter. Eine trotz der Hitze kalte, bizarre, beängstigende Gebirgslandschaft mit steilen Felswänden und tiefen Felsschluchten. Auf deren Grund lagen verrostete Auto- und Buswracks, denen die engen Kurven, zu hohe Geschwindigkeit oder versagende Bremsen zum Verhängnis geworden waren. Vielleicht hatte sie sogar der Schlaf bei der eintönigen, langen Fahrt übermannt. Jedenfalls hatte Allah den Fahrern eine schützende Hand versagt.

Auf halber Strecke, irgendwo auf der Straße, schüttete ein einsamer Arbeiter der staatlichen Straßenbauverwaltung Schlaglöcher zu. Ein Hosenbein war hochgekrempelt, damit der lange Schaufelstiel, den er über seinen Oberschenkel hebelt, nicht seine Hose kaputtmachen konnte. Der von jedem passierenden Fahrzeug aufgewirbelte Staub setzte sich wie eine zweite Haut auf seiner Kleidung, auf Gesicht und Kopf ab. Er sah wie ein grau gepuderter Geist aus. Es störte ihn nicht, Gott hat es so gewollt. Freundlich erwiderte er Hosseins Gruß.

Zwischendurch hielt Hossein an einer Chaichaneh an. Er war durstig und hungrig. Er setzte sich an einen Tisch und auf eine an das Haus gebaute Lehmbank. Ein kleiner »Perser«, ein früher farbenfroher Teppich, verbesserte den Sitzkomfort. Nach vielen Jahren der Nutzung waren die Farben nicht verblichen, sie waren nur vom Straßenstaub überlagert. Den Perser auszuschütteln, hätte nur den Staub anders verteilt und den Himmel verdunkelt. Überdacht war der Essplatz mit einer bräunlichen Plane, die schief über einer wackligen Holzkonstruktion hing und als Schattenspender diente.

»Salam Aleikum, Hadji Agha, bia indja!«, rief er den Wirt, der in der Dunkelheit und Kühle seiner armseligen Hütte auf Gäste wartete. »Bring mir einen Kebab und Tee!«

Der so angeredete Wirt war vermutlich noch nie in Mekka gewesen, konnte also kein Hadsch sein. Wo Mekka lag, wusste er allerdings, denn das Standklo war sozusagen sein Kompass. Beim »Geschäft« des Nutzers durfte dieser nur mit dem Gesicht nach Mekka schauen. Jedenfalls fühlte sich der mit Hadschi Angeredete geehrt und verdoppelte die Servicegeschwindigkeit. Den bestellten Tee schlürfte Hossein, wie allgemein üblich, über die Zuckerbrocken. Ein Hamal, ein billiger Handlanger, hatte sie von einem großen Zuckerhut abgeschlagen.

Hossein blickte auf die Straße und die bergauf keuchenden Lastwagen. Er sah die dummen, sinnlosen Raser. Er hörte sie auch, weil sie im Sekundentakt die Hupe benutzten, während sie viel zu schnell durch die vielen unübersichtlichen Kurven rasten. Zwischendurch vertrieb sich Hossein die Wartezeit mit dem Fortjagen unzähliger, lästiger Fliegen. Noah hatte unverständlicherweise auch von ihnen ein Paar mit in die Arche genommen und gerettet. Sie schienen Hossein zu mögen, denn sie setzten sich haufenweise überall auf ihn, auf Hände und Kopf, in Nasenlöcher, Mundwinkel, Ohren und auf seine nackten Füße. Sie waren wirklich lästig und man musste damit leben. Der Tisch war ein erwartungsvoller Landeplatz.

Endlich bekam er sein bestelltes Mahl vorgesetzt, einen riesigen Reisberg, der mit dem in allen orientalischen Küchen verwendeten braunen Sumakh gewürzt war. Dazu gab es das duftende Hammelfleisch. Das Besteck putzte er an seiner auch nicht sehr sauberen Hose ab. Der leckere, duftende Kebab war in mundgerechter Größe, sodass er mit der einen Hand seine Gabel beladen und mit der anderen die Fliegen verscheuchen konnte. Er ließ es sich schmecken und wischte sich am Ende mit dem Handrücken den Mund sauber, betete, zahlte und fuhr weiter.

»Khoda hafes«, Gott schütze dich, auf Wiedersehen, und »Safar bekher!«, gute Reise, rief ihm der zufriedene Wirt hinterher. Die wenigen Gäste ermöglichten ihm ein kleines, aber zufriedenstellendes Auskommen. Er beschwerte sich nicht, denn Gott hatte es so für ihn vorgesehen.

Durch das fruchtbare Karajtal und über Ghaswin erreichte Hossein schließlich sein Ziel, Teheran. In einer alten Karawanserei stellte er den Wagen ab. In einer ruhigen Ecke rollte er seinen Gebetsteppich aus, betete und dankte Allah für seinen Schutz. Dann nahm er seine Beutel mit den Kaviardosen und besuchte die Büros der ansässigen Amerikaner, Franzosen und Deutschen. Sie waren von den Verwaltern des staatlichen 5-Jahre-Aufbauplans als Aufbauhelfer in das Land geholt worden. Die mochten den frischen Kaviar, denn der war nicht nur eine sehr geschmackvolle Bereicherung ihrer Mahlzeit, sondern auch überaus preisgünstig. Anfangs zeigten die erfahrenen Einheimischen, wie man die Frische- und Qualitätsprüfung mit einem sauberen Streichholz macht. Damit holte man die Perlen vom Dosenboden hervor. Waren sie groß, unversehrt und nicht matschig, wurde der Preis ausgehandelt. Man ließ sich dafür Zeit, denn Zeit war Geld, selbst wenn es dabei nur um kleinste Beträge ging. Außerdem war das Feilschen ebenso wichtig wie das Bakschisch. Schließlich wechselte die leckere Ware gegen Zahlung von zehn Toman, etwa sechs Mark oder zwei Dollar, den Besitzer. So lernten auch die Ausländer, das Leben im Iran zu bewältigen.

Für die guten Einnahmen dankte Hossein Gott noch einmal und bat ihn mit seinem Gebet um eine glückliche Heimfahrt. Dankbar erreichte er nach vielen Stunden wieder sein zu Hause. Die ganze Familie freute sich über seine gesunde Heimkehr, selbstverständlich auch über das Geld. Für das eine wie für das andere dankte jetzt die ganze Familie. Sie knieten mit dem Gesicht Mekka zugewandt nieder und sprachen ihre Gebete.

Eine Gehstunde von Babolsar entfernt war Sima aufgewachsen. Als kleines Mädchen musste sie auf die noch kleineren Geschwister aufpassen, wenn die größeren und die Eltern auf den Feldern oder beim Fischen waren. Sie erzählte ihnen Geschichten und Märchen, die ihre Mutter ihr schon erzählt hatte, und erfand noch eigene dazu. Größer geworden, besuchte sie die Schule in Babolsar. Im Gegensatz zu den meisten anderen Kindern ging sie gern zur Schule. Schon nach kurzer Zeit konnte sie lesen und schreiben. In jeder freien Minute las sie und staunte über all das, was sie in den Büchern und Zeitungen fand. Je älter sie wurde und je mehr sie las, umso mehr versetzte sie ihre Eltern in Erstaunen, ja beunruhigte sie sogar. Sie wussten nicht, wie sie ihr begegnen sollten. Strenge nutzte nichts und für fürsorgliche Liebe hatten sie keine Zeit. Von Psychologie hatten sie noch nie gehört, und so vertrauten sie Allah, der würde schon den richtigen Weg weisen. Es entstand unvermeidbar ein Abstand zwischen Vater und Tochter, der noch dadurch verstärkt wurde, dass Sima ein Mädchen war. Sogar ihre Lehrer hatten mit der aufgeschlossenen und kritischen Schülerin Probleme. Sie wollte immer mehr wissen und brachte sie häufig in Verlegenheit.

Neben der Feldarbeit versorgten Mutter und Tochter den Haushalt. Wenn die Arbeit getan war, nutzte Sima die Zeit zum Lernen und Lesen. Anderes interessierte sie nicht.

»Kind«, warnte ihre Mutter, »du nimmst dir ja nicht einmal Zeit zum Essen. Pass auf dich auf und denk dran, dass du noch wichtigere Aufgaben hast.«

»Mama, natürlich denke ich daran. Ihr könnt euch bestimmt nicht beklagen und wisst, dass ich immer da bin, wenn ihr mich braucht.«

»Sima, wir beklagen uns doch nicht, wir machen uns nur Sorgen.«

Spätabends, wenn alle schliefen, ging Sima in die nahen Berge. Ein Vorsprung war dort ihr Lieblingsplatz. Man konnte auf das unendliche Meer blicken und auf die vielen unter Wasser stehenden Reisfelder. Am schönsten war es, wenn der Vollmond sein silbernes Licht auf das Land und die Berge warf und sich im Meer und auf den nassen Feldern spiegelte.

Sie träumte, wie alle Mädchen ihres Alters träumen. Allerdings formten sich ihre Träume zu festen Vorstellungen, wozu ihr Lesen sehr beitrug. Wenn sie in der Familie einmal Zeit füreinander hatten und sich austauschen konnten, waren die Eltern über das Wissen und die Einstellung ihrer Tochter überrascht. Sie passte überhaupt nicht in das überlieferte Frauenschema ihres Umfeldes.

Mit dreizehn Jahren hatte sie erstmals ihre Tage. Die Mutter musste das ihrer Tochter nicht erklären. Sie hatte bereits alles über die Entwicklungszusammenhänge gelesen, wusste, wozu die Geschlechter da sind, wie Kinder gemacht werden und im Mutterleib bis zur Geburt wachsen. Sima wurde zu einer jungen Frau mit schöner, ansprechender Figur. Man konnte den Körper unter den vielen Röcken, Blusen, Pullis und Westen allerdings nur erahnen. Dafür strahlten sichtbar und verführerisch ihre großen, dunklen Augen. Sie war ein überaus interessiertes, erstaunliches Mädchen und sehr intelligent. Ihre Familienmitglieder waren einfache Menschen, die ihr Leben und Handeln Gott voll Dankbarkeit weihten. Das Wesen und überhaupt die Entwicklung von Sima beschäftigten die Eltern schon, aber tiefgreifende Gedanken machten sie sich nicht. Warum auch. Gott musste wieder herhalten. Bedauerlich war nur, dass Gott für sie keinen Mann zu finden schien. Ihr Vater fühlte und wusste sehr genau, wie wertvoll seine Tochter war.

Bei seinen Einkaufsreisen hatte ein Händler aus Teheran das Mädchen öfter schon beobachtet. Nur zu gern hätte er sie als seine Frau gehabt. Er sah aber ein, dass sie für ihn viel zu jung war. Er bedauerte das sehr, denn sie war eine überaus reizende Persönlichkeit. Er unterhielt sich gern mit ihr. Er hatte bemerkt, dass sein Sohn Darius diese junge Frau immer wieder interessiert ansah. Auch sie musterte seinen Sohn. Nicht verschämt, ganz offen tat sie es. Die beiden sprachen sogar miteinander und der Vater war erstaunt, mit welcher Selbstverständlichkeit sie redeten. Er hatte seinen Sohn mit auf diese Reise genommen, um ihn in die geschäftlichen Gepflogenheiten einzuweihen, da er einmal sein Geschäft übernehmen sollte.

Vater und Sohn hatten also wieder bei Ali Menachabi Station gemacht. Das Geschäftliche hatten sie bald erledigt. Danach schlürften sie ihren Tee und machten sich gegenseitig Komplimente mit wortreichen Glückwünschen für das Wohlbefinden ihrer beider Familien. Dann nahm Darius’ Vater Ahmad den von Sima zur Seite und begann ein ganz privates Gespräch unter Vätern.

 

»Ali, dir hat Gott eine wunderbare Familie geschenkt. Du kannst dankbar und glücklich sein.«

»Danke, Ahmad, das bin ich. Und du hast einen wohlgeratenen Sohn, du kannst stolz auf ihn sein.«

So näherten sie sich mit noch mehr Komplimenten Ahmads eigentlichem Anliegen. Er wusste, dass man nicht einfach mit der Tür ins Haus fallen durfte, das wäre ein unverzeihlicher Fehler gewesen und hätte die Höflichkeitsregeln verletzt. So fragte er endlich: »Sag, Ali, hast du deine Tochter Sima schon versprochen?«

Als Antwort hob der seinen Kopf und schnalzte mit der Zunge, was nein bedeutete.

»Willst du sie mir für meinen Sohn Darius geben?«

»Hmm, deine Frage kommt überraschend. Ich habe mir darüber noch keine Gedanken gemacht.«

Natürlich hatte er sich schon Gedanken gemacht, denn Sima war bereits siebzehn Jahre alt, aber weit und breit gab es keinen Mann, dem er sie geben oder den sie haben wollte. Er kratzte sich am Kopf und machte ein nachdenkliches Gesicht.

»Ich mach dir ein gutes Angebot«, hakte Darius’ Vater nach.

»Woran dachtest du denn?«, wollte Simas Vater wissen, denn seine Tochter sollte gut abgesichert werden.

»Ich eröffne für dich bei deiner Bank ein Konto und zahle dir den Gegenwert zweier starker Ochsen und von 25 Schafen zur Sicherheit ein.«

»Ich weiß, dass du ein guter Mensch und ein Hadschi bist. Deinen Sohn, den Gott dir geschenkt hat, den kenne ich aber noch nicht so gut wie dich.«

In der Weise ging das Gefeilsche noch einige Zeit hin und her. Schließlich einigten sich die Väter auf den Wert eines Pferdes, von zwei Ochsen und 35 Schafen. Die Absicherung für die Tochter wurde schriftlich bestätigt. Sima, ihre Mutter und Darius wurden nicht gefragt. Ali wollte endlich die Sticheleien seiner Freunde beenden und der Widerspenstigen den richtigen Weg zeigen. Das war sein Recht als Vater und Familienoberhaupt.

Nach abgeschlossenem Handel wurden Darius, Simas Mutter und Sima selbst gerufen und ihnen die Entscheidung der Väter mitgeteilt. Sima schien nicht überrascht zu sein. Sie sah Darius einen Augenblick lang an. Dann gab sie ihm die Hand. Ali war erstaunt, dass seine Tochter weder schimpfte noch losheulte, sondern sich einfach zu Darius gestellt hatte.

So wurde Sima Darius’ Frau. Das war 1957 nach dem Julianischen Kalender und 1335 nach islamischer Zeitrechnung.

Darius und Sima bezogen ein modernes Haus mit Swimmingpool und großem Garten in Shemiran, einem vornehmen, hochgelegenen Stadtteil im Teheraner Norden. Hier war die Luft sauber und die Temperatur im heißen Sommer um einige Grade niedriger als in der dunstigen Stadt. Der Smog lag wie eine riesige schmutzige, aus stinkenden Abgasen bestehende Wolke über dem Gewirr von Straßen und Häusern der Hauptstadt.

Die beiden jungen Menschen waren mit dem Handel ihrer Väter sehr einverstanden und liebten sich wirklich. Sima war eine selbstbewusste junge Frau, die jedoch in das Bild des noch immer praktizierten Lebens als unterwürfige Dienerin ihres Mannes ganz und gar nicht passte. Sie hatten ihre Haus- und Gartenhilfen, die gern für sie arbeiteten, denn Sima wusste, was sie wollte. Ihre Anweisungen waren bedacht und ihr Verhältnis zu den Angestellten war freundlich, aber bestimmt. Ihre anfängliche Schüchternheit im Verhältnis zueinander legten die jung Verheirateten bald ab und suchten und liebten sich nicht mehr im abgedunkelten Schlafzimmer. War ihr Personal nicht im Haus, genossen sie ihre Lust und ihre nackten Körper da, wo es sie gerade überfiel, am liebsten auf der warmen Terrasse. Dort konnte man sie nicht sehen, denn das große Grundstück war von einer hohen Lehmmauer umgeben. In der warmen Sonne empfanden sie ihr Liebesspiel als ein ganz besonderes Vergnügen.

Darius Akebani hatte in Deutschland Volkswirtschaft studiert und auch bei den Juristen wissbegierig zugehört. Nachdem er sein Diplom bekommen hatte, kehrte er in den Iran zurück und war in das Geschäft seines Vaters eingestiegen.

Ahmad Akebani befolgte im Wesentlichen die Gesetze des Korans, die das religiöse, sittliche, rituelle und private Leben eines iranischen Muslims betreffen. Vor vielen Jahren war er mit seinem Vater, also Daruis’ Großvater, nach Mekka gepilgert, hatte mehrfach die Kaaba umkreist und damit den Ehrentitel Hadschi erhalten. Das hatte jedoch mit seinen weltlichen Geschäften nichts zu tun. Auf seinem Schreibtisch lag der Koran. Meistens überhörte Ahmad den Ruf des Muezzins und ging nur selten zum Gebet in die Moschee. Im Haus verrichtete er seine Gebete auf dem kleinen Gebetsteppich, der in seinem Büro lag. Er betete aber nicht fünfmal am Tag und konnte die Missachtung mit seinem Gewissen ertragen. Er glaubte fest an seinen Gott und lehnte die christliche Trinität entschieden ab.

Ahmad war mit drei Frauen verheiratet, die mit ihren Kindern einträchtig in eigenen Häusern auf seinem großen Grundstück wohnten. Gelegentlich besuchte er auch andere Frauen, um sich zu amüsieren und vielleicht auch seinen Selbstwert aufzubessern. Darius war sein ältester Sohn. Er liebte ihn besonders, denn er sah nicht nur gut aus, sondern war pfiffig und intelligent, so wie er selbst auch. Das war der Grund, weshalb er ihn nach Deutschland zur Weiterbildung geschickt hatte, zumal der Staat mit Stipendien Studenten im Ausland unterstützte.

Sima und Darius waren ein glückliches Paar. War Darius im Geschäft, nutzte Sima ihre freie Zeit, von der sie ja genug hatte, um sich noch intensiver weiterzubilden. Die deutsche Schule, die sie besuchte, war sehr gut geeignet, um ihren großen Wissensdurst zu befriedigen, der sich nicht nur auf Sprachen beschränkte. Sima konnte unheimlich viel des Gelernten nicht nur speichern, sondern auch verarbeiten. Bei ihren neuen Freundinnen löste das vielfach Unverständnis aus, weil es nicht dem überlieferten Bild einer Muslima entsprach. Darius’ Frau war dennoch sehr beliebt, da sie trotz ihrer Jugend eine aufgeschlossene und interessante Frau war.

Sima war in einer gläubigen, aber auch sehr patriarchalischen Familie aufgewachsen. Der Vater war der Herr im Haus und alle hatten sich nach ihm zu richten. Konsequent betete er fünfmal am Tag und seine Frau – er hatte ja nur eine – und die Töchter mussten außer Haus immer ihren schwarzen Tschador tragen, der die Haare, Nacken und ihren Körper als Überkleid verdeckte und auch vor das Gesicht gezogen wurde, wenn sie Fremden begegneten. Er verlangte das, obwohl der Vater von Shah Mohammad Reza Pahlavi, dem derzeitigen König, das Tragen des Tschadors vor vielen Jahren schon verboten hatte. Der wollte damit mittelalterliches Denken durch eine moderne Weltanschauung ersetzen.

Trotz des Verbots, Tschador zu tragen, bettelten mit ihm vermummte, armselige Weiber. Sogar in einer der Hauptgeschäftsstraßen Teherans streckten sie ihre schmutzigen Hände den Passanten entgegen. Der zuständige Polizist übersah die Ordnungswidrigkeit auf der Naderi, wusste aber, von wem er am Abend seinen Bakschisch bekommen würde.

Der alte Shah war es auch gewesen, der von Europäern bereits in den zwanziger und dreißiger Jahren Straßen und Eisenbahnen zur Erschließung des Landes hatte erbauen lassen. Seine Zukunftsvision verfolgte nach seinem Tode auch sein Sohn. Reiche Erdölvorkommen gestatteten es ihm, die Erschließung und Entwicklung seines Landes voranzutreiben. Schulen und Universitäten wurden gebaut, dörfliche Ansiedlungen durch Elektrifizierung und Wasserversorgung gefördert. Vor allen Dingen betrieb er den Aufbau einer modernen Militärmacht. Er brauchte sie zur Selbstdarstellung und vielleicht auch zur Verteidigung. Amerika lieferte die Waffen und übernahm die militärische Ausbildung.

Die Engländer verdienten am iranischen Öl. Dagegen konnte auch 1951 Mossadegh, der damalige Ministerpräsident, mit seiner beabsichtigten Verstaatlichung der Ölindustrie nichts unternehmen. Amerikaner, Engländer und der Shah konnten den Ministerpräsidenten mithilfe des von Israelis und Amerikanern aufgebauten Geheimdienstes SAVAK vertreiben und den zwischenzeitlich geflohenen Shah zurückholen. An der Vergabe von Schürf- und Vertriebsrechten verdiente der Staat fortan viel Geld.

Mit dem berüchtigten SAVAK konnte man nicht nur Mossadeghs Nationale Front, sondern auch aufkommende linke, kommunistische Strömungen kontrollieren. Die Ölbarrels füllten die Konten der Herrschenden in sicheren ausländischen Banken und ihr immenses Vermögen mehrte sich an den internationalen Börsen. Gott hatte ihnen den Reichtum in ihrem Boden geschenkt, also mussten sie ihn annehmen und nutzen. Allerdings waren nur die Regierenden und deren Freunde die Nutznießer, nicht die Masse des Volkes. Dennoch bekam die bisherige Feudalherrschaft eine Mittelschicht, die sich aus Verwaltungsangestellten, Lehrern, Ingenieuren, Wissenschaftlern, aus Finanzexperten, Medizinern, Offizieren und Kleinhändlern zusammensetzte. Eine zunehmende Liberalisierung war zu beobachten. Allerdings sahen die religiösen Führer in Ghom diese Entwicklung nicht nur kritisch, sondern lehnten sie immer lautstärker ab.