Czytaj książkę: «Vom Geist Europas», strona 6

Czcionka:

Was aber ist Intuition? Nun, es kann ja gar nicht anders sein, das aus dem Lateinischen stammende Wort bedeutet ursprünglich ganz einfach: anschauen, betrachten, im Auge haben, in gelegentlichem Zusammenhang auch: staunen. Diese spekulierende Intuition oder intuitive Spekulation kann in dafür Empfänglichen geweckt, aber nicht wie einer der üblichen Lehrgegenstände eingetrichtert werden. Das ist der Sinn der sokratischen Kunst, der Mäeutik, der „Hebammenkunst”, die ebenso ein Charisma ist wie der damit eng verwandte pädagogische Eros. Wem sie zu eigen sind, von dem geht jene Wirkung aus, die Adalbert Stifter in seinem wahrhaft platonischen Roman „Nachsommer” einer vornehmen Frau zuschreibt: „Es schien, daß das, was die vorzüglichsten Männer in ihrer Gegenwart sprachen, von ihr angeregt wurde, und daß ihre größte Gabe darin bestand, das, was in andern war, hervorzurufen.” In Gegenwart solcher Menschen erinnern wir uns plötzlich dessen, was wir nichtwissend schon wissen. Erinnernd wird aus Einsamkeit Gemeinschaft, aus Schweigen Zuspruch.

Auch dies hat Platon in den unvergeßlichen Worten seines siebenten Briefes formuliert, im Bewußtsein, daß er hier eine Dimension berührt, die eigentlich jenseits des Äußerungsfähigen liegt: „Denn es läßt sich nicht in Worte fassen wie andere Wissenschaften, sondern aus dem Zusammensein in ständiger Bemühung um das Problem und aus dem Zusammenleben entsteht es plötzlich wie ein Licht, das von einem springenden Funken entfacht wird, in der Seele und nährt sich dann weiter durch sich selbst.”

Platon hat mit diesen Worten sein Ideal einer „Akademie” umrissen, von der unsere Lehr- und Diskutierbetriebe bloß den Namen haben. Kein akademischer Philosoph würde heute mit Cicero Platon den „Gott unter den Philosophen” nennen. Auch vom urspringenden Staunen wird von Schulphilosophen kaum gesprochen, wohl aber in zunehmendem Maße von über die Grenzen ihres Faches hinausdenkenden Naturwissenschaftlern und Soziologen, vor allem aber von den Dichtern.

Achtzig Generationen waren über die Erde gezogen, als Nikos Kazantzakis in dem analphabetischen Arbeiter Alexis Sorbas einen Menschen unseres Jahrhunderts gestaltete, der, ohne je von Platon etwas vernommen zu haben, ein naturwüchsiger Platoniker ist: „Mit demselben fragenden Erstaunen pflegt er jeden Menschen, einen blühenden Baum, ein Glas frisches Wasser anzusehen … Alles erscheint ihm als Wunder, und jeden Morgen, wenn er die Augen aufschlägt und die Bäume, das Meer, die Steine oder einen Vogel ansieht, steht er mit offenem Mund da.”

Die Sonne Homers lächelt auch uns noch und ebenso das Intelligenz, Argument und Apophantik gewordene Lächeln der leicht gekräuselten Lippen des Sokratikers Platon. Das Lächeln des metaphysischen Charmeurs ist das gleichsam transzendentale Lächeln des Odysseus von Ithaka wie des Alexis Sorbas von Kreta. Es umspielt das Antlitz Picos della Mirandola, Erasmus’, Goethes und Novalis’. Mag in gewissen Stunden philosophischer Verdauungsschwäche und Verstimmung ein freudloser Famulus sich trübselig sagen:

Ich empfinde fast ein Grauen,

Daß ich, Plato, für und für

Bin gesessen über dir:

Es ist Zeit hinauszuschauen

Und sich bei den frischen Quellen

In dem Grünen zu ergehn,

Wo die schönen Blumen stehn

(Martin Opitz)

Aber was ist recht verstandener Platon, der nicht zum verschulten Platonismus oder altphilologischen Pflichtpensum erniedrigte Platon, anderes als ein Wasserfall frischer Quellen und ein ewiger Frühling, der den abendländischen Geist immer wieder zum Erblühen bringt? Sooft uns seine Sonne lächelt, taut das Eis der Denkzwänge und Schematismen, ist etwas Griechisches im Aufbrechen: am Pariser Hof zur Zeit des Scotus Eriugena; im zwölften Jahrhundert in Chartres; dann im mediceischen Florenz und überhaupt in der italienischen Renaissance; in der im siebzehnten Jahrhundert gedeihenden Schule von Cambridge, die mittelbar noch einen Newton beeinflußte; in Weimar und Jena zur Zeit Goethes und Schillers; unter König Ludwig I. in München, als dort Baader, Schelling, Görres, Döllinger und Lasaulx lehrten.

Sooft uns Platon lächelt, wird es aufgeräumter, heller und freundlicher in Europa, erhebt sich der Mensch vom Prokrustesbett angemaßter Orthodoxie, kämpft er mit dem Florett gegen die Windbeuteleien der Sophisten und materialistische Herabsetzung. Platon ist allemal Geistesfrühling, Sonnenaufgang, Erwachen aus dogmatischem Schlummer und phantombewirkten Katzenjammer. Wo Platon lächelt, blüht Geistes-Gegenwart, Freude am Denken und staunende Feinfühligkeit gegenüber dem Wunderbaren. Platon ist die Philosophie, die dem Boëthius im Kerker erscheint, so wie sie den zum Tode verurteilten Sokrates die ironische Haltung gegenüber dem Leben bis zuletzt bewahren läßt. Das Lächeln Platons umspielt und segnet alle Momente, in denen der Vorrang der Form vor dem Stoffe sich mit siegreicher Anmut kundgibt. Es erneuert und vertraut auf die ästhetische Erziehung des Menschen, die Versöhnung von Sinnlichkeit und Geist, Schönheit, Weisheit und Güte. Es läßt uns entzückt für einen gnadenhaften Augenblick un riso dell’universo gewahren, von dem Dante (Paradiso XXVII, 4 ff.) singt:

Was ich hier sah, schien mir ein Lächeln süß

Des Weltalls, also daß mir Aug und Ohr

Die Trunkenheit ins Innere strömen ließ.

(1989)

Titus Livius
„Wenn ich von alten Dingen schreibe, werde ich selbst vom Geist des Altertums erfüllt …”

Süß ist es, in den Wohnungen der Ahnen zu weilen und sich Worte wie Taten der Alten zu vergegenwärtigen.

Hegesippos

Dank habe ich Dir zu sagen namentlich dafür, daß Du mich oft die gegenwärtigen Übel vergessen läßt und mich glücklicheren Jahrhunderten einreihst

Francesco Petrarca:

Brief an Titus Livius

(1351)

Im Jahre 31 vor Christus besiegte Octavian, der sich später Augustus nannte, in der Seeschlacht bei Actium seinen Rivalen Mark Anton. Seit 36 mit der ägyptischen Königin Kleopatra verheiratet, war Mark Anton daran gewesen, sich zum Alleinherrscher über das gesamte östliche Mittelmeer aufzuschwingen und langfristig eine tiefgreifende Orientalisierung des gesamten Römischen Reiches mit Nachdruck zu betreiben. Mark Anton hatte aus diesen Absichten kein Hehl gemacht, als er sich in Kleinasien als Doppelgänger, ja als Inkarnation des am wenigsten römischen, des am meisten morgenländischen Gottes der Antike feiern ließ: als neuer Dionysos. In Ephesos waren als Bakchantinnen verkleidete Frauen, als bocksfüßige Satyrn und Pane kostümierte Männer und Knaben vor ihm hergezogen. Ganze Orchester von Schalmeienbläsern, Flötisten und Harfenspielern brachten dem seine Apotheose zelebrierenden Potentaten oratoriengleiche Musikwerke dar. Weihrauchopfer und Fackelgewaber rundeten die liturgischen Festivitäten ab, die alsbald in Athen fortgesetzt wurden. Dort gab Mark Anton auf der Akropolis ein tagelanges Sakralbankett. Auch bei diesem üppigen Gelage, das von orientalischem Prunk geprägt war, ging der römische Feldherr und Gefährte der in Ägypten göttliche Ehren genießenden Kleopatra als Dionysos umher. Als die Athener seinen Vergöttlichungsgelüsten mit dem launigen Einfall schmeichelten, ihm die Stadtgöttin Pallas Athene zur Gemahlin anzubieten, ging Mark Anton leutselig auf dieses Anbieten ein — und verlangte erpresserisch eine Mitgift von umgerechnet vier Millionen Mark.

Dies also war der Gegenspieler, über den im Jahre 31 vor Christi Geburt der von Cäsar testamentarisch an Sohnes statt angenommene und zum Haupterben eingesetzte Octavian in der Schlacht bei Actium vor der Nordwestküste Griechenlands siegte. Ein Jahr darauf — 30 vor Christus — war auch Ägypten erobert, Mark Anton und Kleopatra hatten Selbstmord begangen. Von dem einstigen Triumvirat, das Antonius, Lepidus und Octavian im Kampf gegen die Mörder Cäsars gebildet hatten, war Octavian als unumstrittener Alleinherrscher übriggeblieben. Das Zeitalter beispiellos grausamer Bürgerkriege war damit zur Neige gegangen.

Octavian, seit dem Jahre 27 mit dem Würdenamen Augustus ausgezeichnet, verkörperte in allem das genaue Gegenteil von Mark Anton. Hatte dieser eine forcierte Orientalisierung des Römischen Reiches nach dem Vorbild Alexanders des Großen und seiner Diadochen ins Werk zu setzen begonnen, so wählte der kühler überlegende Erbe Cäsars den umsichtigeren Weg einer Rückbesinnung auf verbürgte bodenständige altrömische Traditionen. Verglichen mit dem von Mänaden und Bakchanten als wiederauferstandener Weingott durch die Lande schwärmenden Mark Anton erschien Augustus geradezu als ein phantasieloser, begeisterungsunfähiger, ganz und gar nüchtern kalkulierender Pedant.

Er war genau der Mann, den die damals von Bürgerkrieg, Terror und Willkürjustiz zerrütteten Massen aus innerem Antrieb bevorzugten. Augustus herrschte nicht durch Proskriptionen und andere Schreckensmaßnahmen; anders als später Tiberius oder Mark Aurel ekelte es ihn aber nicht im geringsten vor dem Gebrauch höchster Macht. Das abschreckende Beispiel Cäsars, der ermordet wurde, als er auf Vergöttlichung Wert zu legen begann, hielt Augustus zeitlebens davon ab, sich selbst ausdrücklich als Gott-König asiatisch-hellenistischen Stils zu bezeichnen. Er begnügte sich damit, dem ermordeten Großonkel einen eigenen Tempel zu errichten. Insbesondere aber ließ er es sich angelegen sein, die überkommenen Heiligtümer, Priesterschaften und Kulte altrömischer Religion eifrigst wiederherzustellen und zu fördern. Obwohl tatsächlich der Begründer des römischen Kaisertums in Gestalt des „Prinzipats”, pflegte er die republikanisch-senatorischen Traditionen geflissentlich zu wahren und die durch das Chaos der Bürgerkriege angegriffenen Lebensformen, Geisteshaltungen und Brauchtümer zu erneuern.

Zu denen, die damals zum ersten Male seit Menschengedenken erleichtert aufatmeten, gehörte neben den Dichtern Vergil, Horaz und Properz auch der aus Patavium — dem heutigen Padua — stammende Historiker Titus Livius. Seine genauen Lebensdaten lassen sich nicht mehr ermitteln. Feststeht, daß er ungefähr gleichaltrig mit Augustus war, als er um das Jahr 27 vor Christus mit der Niederschrift seines Lebenswerks begann, der Römischen Geschichte „Ab urbe condita”, „Seit der Gründung der Stadt”. Sie beschäftigte Titus Livius bis zu seinem Tode, der zwischen 12 und 17 nach Christus anzusetzen ist, während Augustus im Jahre 14 starb und gleichzeitig im fernen Judäa ein Jüngling namens Jesus heranwuchs, von dem es im Evangelium nach Lukas ausdrücklich heißt, daß er geboren worden war: „in jenen Tagen, als von dem Kaiser Augustus eine Verordnung — im griechischen Text steht: ein Dogma — ausging, daß sich der gesamte bewohnte Erdkreis in Steuerlisten einschreiben lasse …”

Rom, wohin Livius wohl schon in jungen Jahren übersiedelt war, stellte damals den Mittelpunkt eines riesigen, viele Völker, Sprachen, Religionen und Kulturen umfassenden Reiches dar, dessen Ursprung ein im Dämmer sagenhafter Frühgeschichte gegründeter Stadt-Staat bildete. Die Kelten in Gallien, Britannien und Süddeutschland waren in dieses Imperium rund um das gesamte Mittelmeer ebenso einbezogen wie die östlichen Völker in Syrien, Phönizien, Palästina und Kleinasien, wie die Ägypter, Karthager und Numidier in Nordafrika, die Illyrier, Makedonier, Thraker und Griechen auf dem Balkan. Trotz der ethnischen Vielfalt, die die älteste Hochkultur und schriftlose Barbarenvölker umfaßte, gelang es Rom, diesem gewaltigen Reich einige gemeinsame Züge aufzuprägen. Wenngleich griechische Bildung allerorts gepflegt wurde, so war doch das Lateinische reichsweit die Sprache der Verwaltung und des Militärs.

Wie war es möglich gewesen, daß ein in sagendunkler Frühzeit von Flüchtlingen, Räubern und anderem Gelichter gegründetes Gemeinwesen, das anfänglich kaum mehr als ein Asyl für Abenteurer, Banditen und Gescheiterte aller Art dargestellt haben mag, innerhalb einiger Jahrhunderte zu einer hochzivilisierten Weltmacht wurde? War der Höhepunkt dieses Vielvölkerstaates unter lateinischer Oberhoheit bereits überschritten? Hatten nicht die jahrzehntelangen Wirren des Bürgerkriegs den angsterfüllten Blick auf Entartung, Verfall und Reprimitivierung gelenkt?

Diese bangen Fragen stehen im Hintergrund des Geschichtswerks des Titus Livius, der — soweit wir wissen — umfangreichsten und monumentalsten historiographischen Hervorbringung der gesamten antiken Literatur. Der britische Livius-Kenner Michael Grant bemerkt dazu:

„Livius’ ‚Geschichte Roms’ … umfaßte hundertzweiundvierzig Bücher. Fünfunddreißig von ihnen sind erhalten, und zwar die Bücher 1 bis 10 und 21 bis 45, die die Zeit von 753 bis 243 beziehungsweise von 219 bis 167 vor Christus behandeln. Von den verlorengegangenen Büchern besitzen wir Fragmente und Exzerpte, und außerdem existieren davon zwei Kurzfassungen … Das Erstaunlichste an dem Geschichtswerk des Livius ist sein gigantisches Ausmaß. Das macht auch verständlich, warum so viel verlorengegangen ist … Um diese Leistung zu vollbringen, mußte Livius mehr als vierzig Jahre lang jedes Jahr mindestens drei Bücher veröffentlichen.”

Mit andern Worten: Während Augustus über vier Jahrzehnte seines Lebens damit verbrachte, unter Beibehaltung republikanischer Formen und Institutionen seine Alleinherrschaft zu festigen, schuf Livius, der bereits früh Zugang zum Kreis um den Princeps gefunden hatte, in mehr als vierzigjähriger Arbeit die 142 Bücher seiner Geschichte Roms, die den Weg von Aeneas und Romulus bis zu Augustus nachzeichneten.

„Ob ich etwas tue, was die Mühe lohnt …, weiß ich nicht recht, und wenn ich es wüßte, würde ich es wohl nicht zu sagen wagen. Denn ich sehe ja, daß dies ein altes und allbekanntes Thema ist; immer neue Schriftsteller glauben, sie könnten entweder sachlich Genaueres beibringen oder durch literarische Brillanz die weniger gebildetete alte Zeit übertreffen. Wie immer es sich verhalten mag, so wird es mich dennoch erfreuen, zur Überlieferung der Großtaten des ersten Volkes auf Erden auch meinerseits nach Kräften beigetragen zu haben. Und sollte in einer so großen Schar von Autoren mein eigener Ruhm untergehen, so mag der hohe Rang und die Größe jener, die meinen Namen in den Schatten stellen werden, mich trösten …”

Mit diesen Worten leitet Titus Livius „Ab urbe condita ” ein. Von der Überzeugung, daß das Thema großartig sei, hebt sich eine gewisse Stimmung der Demut, ja Verzagtheit angesichts der Überfülle der zu sammelnden Tatsachen und konkurrierender schriftstellerischer Versuche ab. Lohnt sich überhaupt die unübersehbare Mühe, in den Abgrund der Vergangenheit zu tauchen? Ist es überhaupt verdienstvoll, eine vollständige Geschichte des Römervolkes in Angriff zu nehmen?

Doch verstehen wir Livius richtig, wenn wir unterstellen, daß ihn zu Beginn seines Werkes Mutlosigkeit zu übermannen droht? Oder spielt er nur den Bescheidenen, wenn er damit rechnet, daß sein Name trotz aufgewandten Fleißes im dunklen bleiben mag? Ohne sie namentlich zu nennen, gedenkt Livius der großen Schar anderer Schriftsteller, mit denen er zu wetteifern wagt. Der Altphilologe ahnt, wen Livius in diesem Zusammenhang meint, doch dies ist ein Detailproblem, für das nur Spezialisten Anteilnahme aufbringen können.

Hier ist bloß ein einziger Aspekt belangvoll: Alle diese ungenannten Geschichtsschreiber waren auch Politiker, vielfach sogar Inhaber hoher und höchster Staatsämter, und eben dadurch repräsentierten sie für antike Verhältnisse den Normalfall.

Livius hingegen ist ein Außenseiter. Man kann sich gut vorstellen, daß er von den zünftigen Historikern, die zugleich karrierebewußte Beamte waren, ähnlich eingeschätzt wurde wie noch im vorigen Jahrhundert ein ausschließlich von den Erzeugnissen seiner Feder lebender Literat von einem ostelbischen Großgrundbesitzer. Einem aristokratischen Junker, der regelmäßig zumindest Reserveoffizier war, galt der freie Schriftsteller und Publizist kaum als Mann im Vollsinn des Wortes, sondern als weltfremder Stubenhocker und vogelscheuchengleicher Tintenkleckser, der das Leben überwiegend durch Lektüre kennt und als jämmerlicher Spitzweg-Kauz mit kurzsichtigen Triefaugen und verkrümmtem Rückgrat ruhmlos endet. Als ein solcher Mann scheint auch Titus Livius von einigen seiner Zeitgenossen eingeschätzt worden zu sein. Michael Grant stellt dazu in seinem Buch „Klassiker der antiken Geschichtsschreibung” fest:

„Das Leben des Livius verlief ausnehmend ruhig. Er war das genaue Gegenteil von politisch aktiven Geschichtsschreibern wie Thukydides, Xenophon oder Polybios …. Den größten Teil seines Lebens verbrachte Livius mit Lesen und Schreiben. Er ist der einzige römische Historiker, der niemals ein Staatsamt übernommen hat, das ihn über die Grenzen Italiens hinaus geführt oder es ihm ermöglicht hätte, größere Reisen zu unternehmen … Vor Livius wäre eine derart klare Unterscheidung zwischen Stubengelehrsamkeit und politischer Tat nicht möglich gewesen.”

Um so bemerkenswerter ist das Selbstbewußtsein dieses ausgesprochen kontemplativen Mannes, der sein ganzes bewußtes Leben einzig dem Gedächtnis fremder, teilweise schon vor Jahrhunderten geschehener Taten und Leiden gewidmet hat:

„Und sollte in einer so großen Schar von Autoren mein eigener Ruhm untergehen, so mag der hohe Rang und die Größe jener, die meinen Namen in den Schatten stellen werden, mich trösten.”

Spricht einer so, der an seiner Bedeutung und Schöpferkraft zweifelt? Es gehört hoher Rang und Größe dazu, wenn jemand Livius in den Schatten stellen will. Die Zweifel, die ihn quälen, sind ganz anderer Art:

„Überdies erfordert die Aufgabe, die ich mir gestellt habe, auch einen unermeßlichen Arbeitsaufwand. Geht es doch um die Vergegenwärtigung von mehr als siebenhundert Jahren und um einen Staat, der, so gering sein erster Anfang war, solchermaßen emporgewachsen ist, daß er nunmehr unter seiner Größe zum Erliegen zu kommen droht. Außerdem wird zweifellos den meisten Lesern die Urgeschichte und das, was dieser am nächsten liegt, weniger Vergnügen bereiten, da sie es eilig haben, zum Gegenwärtigen und Aktuellen zu kommen, wo des schon lange übermächtigen Volkes Kräfte sich selbst verzehren.”

Nicht an der Größe Roms und am grandiosen Charakter seiner Geschichte zweifelt somit Livius, wohl aber an der Zukunft des übermächtigen Reiches, das an seiner Übermacht zu leiden begonnen hat und von seiner Riesengröße erdrückt zu werden droht. Fast fällt dem modernen Leser dazu ein Vers des deutschen Dichters Stefan George ein, ein Vers, der nicht unbedingt als Schmähung der Demokratie verstanden werden muß, sondern ebensogut als Warnung vor inflationärer Größe gedeutet werden kann: „Schon eure zahl ist frevel”. Darüber hinaus rechnet Livius mit Lesern, die sich nur für die Gegenwart oder die „Zeitgeschichte” interessieren, nicht aber für die Ur- und Frühgeschichte, die ihm besonders am Herzen liegt, hierin gleichsinnig mit den betont kulturkonservativ-traditionalistischen Bestrebungen, die Augustus eingeleitet und zeitlebens gefördert hat:

„Ich hingegen werde auch dies als Lohn für meine Mühe erstreben, daß ich mich vom Anblick der Übel, die unser Zeitalter schon so viele Jahre lang hat mitansehen müssen, wenigstens so lange abwenden kann, als ich mir jene alten Zeiten aus ganzer Seele wieder vergegenwärtige, frei von allen Sorgen, die einen beim Schreiben wenn schon nicht von der Wahrheit abbringen, so doch in Unruhe versetzen können. Was vor der Gründung oder der geplanten Gründung der Stadt mehr in dichterisch ausgeschmückten Sagen als in unverfälschten Zeugnissen der Ereignisse überliefert wird, das möchte ich weder als richtig hinstellen noch zurückweisen. Man verzeiht es dem Altertum liebend gern, daß es die Ursprünge der Städte verklärt, indem es Menschliches mit Göttlichem vermischt. Und wenn es einem Volk verstattet wäre, seine Ursprünge mit weihevollem Nimbus zu versehen und seine Begründer als Götter hinzustellen, dann besitzen die Römer solchen Kriegsruhm, daß es die Völker der Erde mit derselben Gelassenheit hinnehmen, wenn jene als ihren Stammvater gerade den Kriegsgott Mars nennen, wie sie die römische Herrschaft selbst ertragen.”

In diesen Sätzen enthüllt Livius nicht nur sein Programm, sondern auch den innersten Antrieb, der seine Geschichtsschreibung beflügelt: Liebe zur Vergangenheit, wie sie in Mythen, Sagen und Dichtungen verklärt überliefert ist; Ehrfurcht vor den Ursprüngen, die er, anders als zeitgeschichtliche Zeugnisse, weder verifizieren noch falsifizieren, weder als richtig hinstellen noch als Fälschungen entlarven, sondern mit einer beinahe schon religiösen Andacht als bedeutungsträchtige Sinnbilder von legendarischer Prägnanz sammeln und auslegen will; Ergriffensein von der Größe Roms, des weiträumigsten Reiches der Welt, von dem man damals wußte, verbunden mit der düsteren Ahnung, in wie hohem Maße diese Größe gefährdet ist und auf vulkanischem Untergrund beruht. Livius, der an ungezählten Stellen seinen Sinn für Skepsis bezeugt und sich als moderner Großstädter zu erkennen gibt, läßt sich als vom Eros zum Archaischen erfüllter, als von der Magie des in einem wehmütig-divinatorischen Sinne „Ewig-Gestrigen” gebannter Altertumsforscher, Archivar und Antiquar zu dem wunderbaren Bekenntnis hinreißen, das eines Görres, Savigny, Bachofen oder Jakob Grimm würdig wäre:

„Wenn ich die Ereignisse der alten Zeiten schreibend festhalte, — kaum weiß ich zu sagen, wie mir dabei geschieht — werde ich selbst vom Geist der alten Zeit erfüllt, und eine fromme Scheu hält mich davon ab zu unterstellen, das, was jene sehr klugen Männer als bedeutsam für den Staat anerkennen zu müssen meinten, sei unwürdig, in meinem Geschichtswerk aufgezeichnet zu werden.”

Mit diesen ergreifenden Worten rechtfertigt Titus Livius, der im Alltag ein aufgeklärter Stoiker gewesen sein mag und, ähnlich wie Cicero, für Aberglauben wenig übrig hatte, die von ihm den überlieferten Wundern, Vorzeichen und Seltsamkeiten entgegengebrachte Aufmerksamkeit, die Nennung der unzähligen omina, prodigia und mirabilia in einem Werk der Geschichtsschreibung. Indem Livius längst vergangene, scheinbar völlig abgetane, ja für überholt und sinnlos gehaltene Vorfälle und Bräuche schildert, wird er selbst auf unerklärliche Weise vom Genius der Vergangenheit übermannt; durch andächtige Zuwendung zum Altertum gerade dort, wo es am antiquiertesten und obsoletesten erscheint, wird unwillkürlich die Seele des Geschichtsfreundes selber uralt; sie wird synchron mit ihrem Gegenstand, sie versetzt sich mit totenbeschwörerischer Zaubergabe in untergegangene Frühwelten. Der Spätzeitmensch gewahrt, daß in den Tiefenschichten seines Gemüts unter zivilisatorischem Firnis der Urmensch, der homo magus et divinans, der an göttlich-dämonische Vorzeichen und Eingriffe glaubende, mit ihnen geradezu rechnende und sie immer wieder er-äugende „Primitive” unvermindert lebendig ist. Karl Kerényi, der ungarische Mythenforscher und Freund Thomas Manns sowie Carl Gustav Jungs, bemerkt zu diesem Geständnis des Livius:

„Ein kostbares Bekenntnis von jenem inneren Geschehen, das über den bewußt arbeitenden Historiker Herr wird und ihn in der Geschichte, die sich zu seinem Werke gestaltet, aufgehen läßt! Selbstbekenntnis des wahren schöpferischen Menschen, ohne es sein zu wollen … Ist Livius deswegen, weil er mit seiner Seele in die andersgeartete Welt der Ahnen hinuntertaucht, weniger glaubwürdig als ein heutiger Geschichtsforscher, der das Entgegengesetzte tut und Gestalten, Schöpfungen, Begebenheiten jener anderen Welt so faßt, als gehörten sie seiner eigenen, durch die für unsere Zeit festgestellten Kräfte bestimmten Welt an?”

Aber ist diese Pietät gegenüber dem Vergangenen — Livius spricht im Originaltext wörtlich von religio — letzten Endes nicht doch das weltflüchtige Spiel eines von der Prosa der Gegenwart angewiderten konservativen Schöngeistes? Was soll die innige Zuwendung zum Fremden, Fernen und Gewesenen mit Hilfe einer zumindest probeweisen Dienstenthebung des „kritischen” Bewußtseins? Dies ist allerdings eine sehr moderne, um nicht zu sagen plebejische Fragestellung, die die Eigenart und Eigengesetzlichkeit dessen, was in der Sprache Hegels „objektiver Geist” heißt, völlig verkennt. Für denjenigen, der aus den Melodien der Gegenwart die begleitenden Stimmen der Vergangenheit herauszuhören vermag, bedarf das Studium der Geschichte keiner Rechtfertigung. Es ist in sich sinnvoll und ein Humanum ersten Ranges, so wie es auch Kunst, Religion, Dichtung und Liebe sind. Gleichwohl fügt der von altrömischer Vergangenheit gebannte Augustëer Titus Livius sein Geschichtswerk einem ethischen, politischen und philosophischen Rahmen ein. Geschichte dient immer der Ortsbestimmung der Gegenwart. Sie ist eine Quelle moralischer Inspiration. Sie enthüllt uns Möglichkeiten des Menschseins, die den Leser oder Hörer beschwingen können. Sie zeigt im Vergangenen gewisse Urformen und Urgestalten auf, charakteristische Ereignisabläufe, Entscheidungssituationen und Lebenshaltungen, die zwar in bestimmten Epochen aus der Mode sein mögen, aber grundsätzlich immer wiederkehren können. Für Livius ist das Studium der Geschichte mehr als Liebhaberei für Antiquitäten oder kulturkonservative Denkmalpflege. Sie erscheint ihm vielmehr als erzählte Anthropologie, ja als humane Verhaltensforschung in praktisch-ethischer Absicht:

„Darauf aber lenke mir ein jeder sein Augenmerk: wie das Leben, wie die Sitten gewesen sind; durch welche Art von Männern und mit welchen Mitteln zu Hause und im Krieg die Herrschaft grundgelegt und vergrößert worden ist; dann möge ein jeder im Geist verfolgen, wie bei allmählichem Nachlassen von Zucht und Ordnung die Sitten zunächst gleichsam absanken, dann mehr und mehr abglitten und schließlich jäh und haltlos nach unten zu stürzen begannen — bis es zu unseren Zeiten gekommen ist, in denen wir weder unsere Gebrechen noch die Heilmittel dagegen ertragen können.”

Das Trauma der Bürgerkriege, die Augustus mit seiner Alleinherrschaft beendet hat, kann und will Livius nicht verdrängen. Die von Mark Anton und seiner Geliebten, der Ausländerin Kleopatra, inaugurierte Orientalisierung des griechisch-lateinischen Raumes ist für ihn nur aufgeschoben. Erschrocken, beschämt und schwermütig blickt Livius auf das Gorgonenantlitz, das ihm die jüngste Geschichte zuwendet. Ungeachtet seiner Sympathien für die von Augustus mit Nachdruck vorangetriebene Politik einer schöpferischen Restauration, einer Rückbesinnung auf die Einrichtungen und Tugenden altrömischer Kultur teilt Livius nicht die in einer politischen Mystik gipfelnden Hoffnungen eines Vergil, der den Prinzipat als Advent eines neuen goldenen Zeitalters feiert.

Verglichen mit dem Dichter Vergil, der wie Livius aus der oberitalienischen Provinz stammt, ist der Verfasser von „Ab urbe condita” ein die Zeichen des Niedergangs fleißig erforschender Pessimist. Er glaubt zwar an die Möglichkeit einer Erneuerung Roms. Aber er hütet sich davor zu sagen, daß die Dekadenz bereits gebannt sei. Im Gegenteil: Die Laster und Gebrechen des Zeitalters sind unerträglich, doch ebenso unerträglich sind die Mittel, mit denen der Traditionalist Augustus ihnen abzuhelfen versucht. Doch hören wir diesen hochgemuten und gefaßten Pessimisten selbst, wie er unmittelbar nach der trüben Diagnose seiner Gegenwart den Leser plötzlich mit brüderlichem „Du” anspricht:

„Eines ist vor allem beim Studium der Geschichte heilsam und fruchtbringend: daß Du da an einem augenfälligen Denkmal vorbildlich dargestellte Beispiele jeder Art betrachtest. Ihnen mögest Du für Dich und Dein Gemeinwesen entnehmen, was Du nachahmen; ihnen mögest Du ebenso entnehmen, was — da es ebenso häßlich in seinem Anfang wie in seinem Ausgang ist — Du meiden sollst.”

Livius wendet sich nicht an eine unbestimmte Allgemeinheit. Er spricht weder zu einem verschwommenen Publikum noch zu einer elitären Historikerversammlung. Seine Worte richten sich nicht einmal exklusiv an Römer, obwohl er diese zweifellos vorrangig anzusprechen trachtet. Livius bemüht nicht bequeme Ausdrücke der Verschleierung wie: „Man soll …” oder „Es ist heilsam …” oder den Bescheidenheit meist nur vortäuschenden Pluralis modestiae: „Wir wollen dem Studium der Geschichte dies oder das entnehmen …” Livius sagt plötzlich und unmittelbar „Du”, nachdem er noch im Satz zuvor, mit dem er die peinliche Lage des römischen Volkes umreißt, sich der Wir-Form bedient hat. Livius ist Römer, er kennt nicht Erhabeneres auf Erden als Rom. Sein fast 150 Bücher umfassendes Geschichtswerk ist eine religiöse Beschwörung römischer Größe. Aber der Patriotismus verblendet ihn nicht. Livius ist ein bekümmerter, ein von Zweifeln und Ängsten gequälter, ein dekadenzbewußter, ein die medusenhaften Zeichen schreckenerregenden Verfalls festhaltender Römer, wenn er fortfährt:

„Aber entweder täuscht mich die Liebe zu der übernommenen Aufgabe — oder es war niemals ein Staat größer, ehrwürdiger und an ehrenhaften Vorbildern reicher, und in keinem Gemeinwesen hielten Habsucht und Üppigkeit erst so spät Einzug, in keinem standen Maß und Sparsamkeit so lange und so hoch in Ansehen: so sehr, daß man um so weniger begehrte, je weniger man besaß. Erst vor kurzem hat Reichtum die Habgier, hat eine Überfülle an Vergnügungen das Verlangen aufgebracht, in Genußsucht und Ausschweifung zugrunde zu gehen und alles zugrunde zu richten.”

In der Du-Form spricht dieser Römer über die Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg zu jedem einzelnen Leser, sei er nun Römer oder Nichtrömer. Er widmet seine monumentale Geschichte jedem einzelnen, der am Schicksal seiner eigenen res publica nachdenklich Anteil nimmt, sei nun dieses Gemeinwesen eine Kommune, ein Kleinstaat, ein Reich oder eine Föderation. Livius will in erster Linie nicht Fachhistoriker heranbilden, sondern über den Tag hinaus denkende Staatsbürger, die in langfristigen Perspektiven planen und imstande sind, sich an exemplarischen Vorbildern auszurichten. Sie sind das von ihm angesprochene „Du”: Mögest Du für Dich und Deinen Staat meinen Büchern entnehmen, was nachahmenswert, was verderblich ist. Livius wendet sich somit an alle diejenigen, die mit dem Philosophen Ortega y Gasset in einer eingehenden Beschäftigung mit der römischen Geschichte eine gediegene Grundlage nicht nur für das Verständnis der Gegenwart, sondern auch für ein anspruchsvolleres, sich über die Parteiphrasen erhebendes politisches Bewußtsein erblicken:

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