Vom Geist Europas

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Vom Geist Europas
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Gerd-Klaus Kaltenbrunner

VOM GEIST
— EUROPAS —

URSPRÜNGE UND PORTRÄTS

Band I

herausgegeben

und mit einem Vorwort versehen

von

Magdalena S. Gmehling


Umschlaggestaltung: Werbeagentur Rypka GmbH, 8143 Dobl/Graz, www.rypka.at

Umschlagabb. Vorderseite: Castel del Monte, Apulien

(Berthold Werner / Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0; bearbeitet)

Wir haben uns bemüht, bei den hier verwendeten Bildern die Rechteinhaber ausfindig zu machen. Falls es dessen ungeachtet Bildrechte geben sollte, die wir nicht recherchieren konnten, bitten wir um Nachricht an den Verlag. Berechtigte Ansprüche werden im Rahmen der üblichen Vereinbarungen abgegolten.

Textnachweis: Es handelt sich bei den in diesem Buch abgedruckten Texten um ausgewählte und originalgetreu abgedruckte Essays aus Gerd-Klaus Kaltenbrunners dreibändigem Sammelwerk „Vom Geist Europas“ (Asendorf 1987, 1989, 1992). Eigens für die Neuausgabe verfasst wurde das Vorwort der Herausgeberin Magdalena S. Gmehling.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter https://www.dnb.de abrufbar.

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Hofgasse 5 / Postfach 438

A-8011 Graz

Tel.: +43 (0)316/82 16 36

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E-Mail: ares-verlag@ares-verlag.com

www.ares-verlag.com

ISBN 978-3-99081-009-5

eISBN 978-3-99081-054-5

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art, auszugsweisen Nachdruck oder Einspeicherung und Rückgewinnung in Datenverarbeitungsanlagen aller Art, sind vorbehalten.

© Copyright by Ares Verlag, Graz 2019

Layout: Werbeagentur Rypka GmbH, 8143 Dobl/Graz, www.rypka.at

Inhalt

Vorwort

von Magdalena S. Gmehling

Apollinischer Norden

Die Indoeuropäer: mehr als ein Phantom

Hesiod

Wie die Griechen zu ihren Göttern kamen

Platon

Im Anfang war das Staunen. Der Mann, der die Ideen schaute

Titus Livius

„Wenn ich von alten Dingen schreibe, werde ich selbst vom Geist des Altertums erfüllt …“

Augustinus

Seelenfriede und Gottesstaat

Heloise und Abaelard

Die Logik der Leidenschaft

Katharina von Siena

Sibylle heiliger Bluthochzeit

Pierre de Ronsard

Fürst französischer Poesie

Johann Gottfried Herder

Ostpreuße, Weimarer und Vordenker europäischer Humanität

Franz von Baader

Samenhändler und Wissender unter Schatten

Friedrich Hölderlin

„Dichterisch wohnet der Mensch auf dieser Erde“

Novalis

Der deutsche Orpheus und seine Braut

Joseph Görres

Weisheitsliebender kraft Feuers

Achim von Arnim

„Die Kronenwächter“ als Apokalypse des deutschen Geistes

Joseph von Eichendorff

Der unbekannte Dichter und sein Glück

Adalbert Stifter

Dichter des Friedens und der Natur

Juan Donoso Cortés

Zwischen Politik und Endzeiterwartung. Vom Liberalismus zur Rechtfertigung präventiver Diktatur

Jens Peter Jacobsen

Ein schwermütiger Impressionist aus Dänemark

Vilfredo Pareto

Der „Rechtsintellektuelle“ als Aufklärer

Otokar Brezina

„Unsere Hoffnungen kreisen in ewigem Frühling …“

Karl Wolfskehl

Erzjude, Erzdeutscher und Dichter im Exil

Othmar Spann

Das Ganze im Blick haben. Ein deutscher Universalphilosoph aus Österreich

Franz Rosenzweig

Jüdisch-deutscher Bibelübersetzer und Philosoph des „Sterns der Erlösung“

E. M. Cioran

Ein rumänischer Nietzsche im Pariser Exil

Nicolás Gómez Dávila

Wenn Systeme vergehen, überdauern Aphorismen. Eine christliche Kathedrale über heidnischen Krypten

Zur Person des Autors

Vorwort

Die Schönheit Europas war die Schönheit der Kirche.

Max Thürkauf

Wer war Gerd-Klaus Kaltenbrunner?

Ein Essayist von internationalem Ruf, Kulturmorphologe und Ideenporträtist, ein elitärer, enzyklopädisch gebildeter Denker, Polyhistor und spiritueller Idealist, konservativer Intellektueller und Bewahrer der Tradition.

Nochmals: Wer war Gerd-Klaus Kaltenbrunner?

Die äußeren Daten dieses arbeitsintensiven Lebens sind rasch aufgezählt. Geboren am 23. Februar 1939 in der geschichtsträchtigen Stadt Wien, studierte Kaltenbrunner dort nach der Matura Jura, Philosophie und Staatswissenschaften. Bereits in dieser frühen Zeit befasste er sich intensiv mit Geschichtsschreibung und Literatur, mit der Antike und mit klassischen Autoren. Den ersten geisteswissenschaftlichen Essay schrieb er achtzehnjährig.

 

1962 übersiedelte Kaltenbrunner in die Bundesrepublik und wohnte zunächst in München. Als Lektor betreute er verschiedene wissenschaftliche Verlage und fungierte 1968 als Cheflektor des Rombach-Verlages, den er konservativ auszurichten versuchte. Er vertrat einen aufgeklärten, wertorientierten, aber kritischen Konservatismus und die Idee eines „nichtkatastrophischen Wandels“. Mit zwei großen Anthologien machte der junge Publizist auf sich aufmerksam: „Hegel und die Folgen“ (1970) und „Rekonstruktion des Konservatismus“ (1972). „Konservatismus international“ erschien 1973 und „Der schwierige Konservatismus“ 1975.

Von 1974 bis 1988 gab Kaltenbrunner bei Herder die Taschenbuchreihe „Herderbücherei INITIATIVE“ heraus. Die 75 Bände mit unkonventionellen und markanten Interpretationen verschiedenster Zeitprobleme sorgten für bundesweite Diskussionen. Der Editor verstand es, ausgezeichnete Mitarbeiter zu verpflichten, und konnte so – wenigstens zeitweilig – ein Gegengewicht zu dem neomarxistisch geprägten Gedankengut des Suhrkamp-Verlages aufbauen. Die „INITIATIVE“ wurde bald eine publizistische Institution. Geplant war ein enger Freundeskreis der Leser, eine Art Vernetzung. Die „Frankfurter Zeitung“ schrieb 1980 „… Die INITIATIVE – und das macht ihre Besonderheit wie ihre Bedeutung aus – ist ganz wesentlich das Werk eines Menschen, eines einzelgängerischen Essayisten und Schriftstellers, der diese Reihe (nach seinen eigenen Worten) als ‚eine Art Privatuniversität‘ auffasst.“

Kaltenbrunners Bemühungen, die großen religiösen Traditionen, den kulturellen Reichtum Europas, dessen weltgeschichtliche Einmaligkeit, essayistisch in vielfältigen Facetten und Spiegelungen zu verdeutlichen, wurden 1986 mit dem Konrad-Adenauer-Preis für Literatur ausgezeichnet. Caspar Freiherr von Schrenck-Notzing resümierte damals in seiner Laudatio: „Man sieht …, dass der Verfasser zu den porträtierten Dichtern, Philosophen, Wissenschaftlern ein höchst persönliches Verhältnis hat. Wenn, laut Kaltenbrunner, das Leben eines Individuums nicht ausreicht, um die zum Leben notwendigen Einsichten und Haltungen selbst zu erwerben, dann erschließen seine Interpretationen des europäischen Selbstbewusstseins zweier Jahrtausende die geistigen Voraussetzungen für eine politisch notwendige Europäisierung Europas.“

Weitere von Kaltenbrunner herausgegebene Schriften dieser Jahre sind: „Franz von Baader. Sätze aus der erotischen Philosophie und andere Schriften“ (1966), „August Maria Knoll. Zins und Gnade. Studien zur Soziologie der christlichen Existenz“ (1967), „Hugo Ball. Zur Kritik der deutschen Intelligenz“ (1970).

Vielfach präsent war der Autor in den Feuilletons der Mainstream-Medien („FAZ“, „Welt“, „Zeit“, „Christ und Welt“, „Rheinischer Merkur“). Er schrieb für die „Zeitbühne“ sowie die „Epoche“ und trat als Gast im Rundfunk auf. Bei dem führenden Theoriemagazin der rechtskonservativen Bildungseliten „Criticón“ galt er als geschätzter Mitarbeiter. Die Zeitschrift, benannt nach einem Roman des spanischen Jesuiten Baltasar Gracián (1601–1658), war als „Gegenorgan“ zur 68er-Bewegung angetreten. 1985 wurde Gerd-Klaus Kaltenbrunner dann als Erster mit dem Baltasar-Gracián-Kulturpreis ausgezeichnet. Im gleichen Jahr erhielt er den Anton-Wildgans-Preis der Österreichischen Industriellenvereinigung. 1985 veröffentlichte er mit „Wege der Weltbewahrung“ sieben konservative Gedankengänge, welche das Ethos neuer Selbstbeherrschung und Besinnung auf unverändert gültige Überlieferungen beschwören. Als provokant wurde das schmale Bändchen „Elite. Erziehung für den Ernstfall“ (Asendorf 1984) empfunden. Seine scharfe Analyse und die Kampfansage an die Übermacht der Unfähigen fasst Kaltenbrunner in den ersten Sätzen zusammen: „Es ist ein Zeichen für den pseudodemokratischen Kretinismus, der in so hohem Maße zu der geistespolitischen Verwahrlosung der Bundesrepublik Deutschland beiträgt, dass schon die bloße Erwähnung des Wortes ‚Elite‘ bei den meisten Zeitgenossen, insbesondere aber den einflussreichen Vertretern der ‚progressiven‘ Intelligenzija Assoziationen wie ‚Privilegien‘, ‚Abbau des Sozialstaates‘, ‚Arroganz‘, ‚soziale Reaktion‘ oder schlechthin ‚Faschismus‘ auslöst. So wie ‚Vaterland‘, ‚Heimat‘, ‚Volk‘, ‚Nation‘ oder ‚Reich‘ gilt auch ‚Elite‘ weithin als ein antiquierter, ja sogar anrüchiger Begriff, der vielfach einer systematischen Ächtung und Verfemung unterliegt.“ Dieser nonkonformistische Standpunkt zielt auf eine Abschaffung des Kultes der Mittelmäßigkeit. Gesprächsweise äußerte sich Kaltenbrunner: „… die Weltgeschichte wird nun einmal nicht von Kaufleuten, Händlern und Kommerzienräten bewegt, sondern von Kämpfern, von Soldaten, von Partisanen, kurz: von glaubensstarken und zum Martyrium bereiten Eliten.“ Mit Vilfredo Pareto betrachtet er nur die Funktionseliten als wertfrei.

Zwischen 1981 und 1992 nahm das Europawerk des Schriftstellers sichtbare Form an. Sechs monumentale Bände erschienen: die Trilogien „Europa. Seine geistigen Quellen in Porträts aus zwei Jahrtausenden“ (1981, 1983, 1985) und „Vom Geist Europas“ (1987, 1989, 1992). Kaltenbrunner schreibt: „Europa. Dieses Inbild ‚okzidentalischen‘ Wesens begleitet mich zeit meines zum Denken erwachten Lebens: die Vision eines Hauses mit vielen Wohnungen, eines Domes mit vielen Kapellen, eines Lebensraumes oder einer ‚oika‘ mit vielen Gebieten, Nischen und Höhenstufen. Es ist dies ein anderes Europa als der halb euphorisch begrüßte, halb fatalistisch hingenommene Binnenmarkt gleichen Namens.“ („Vom Geist Europas“, Bd. 3, Geleitwort)

Rastlos forschend, reflektierend, von ungeheurer Belesenheit und Anverwandlungsgabe deckt Kaltenbrunner Traditionszusammenhänge auf, entführt den Leser in verschwiegene spirituelle und historische Landschaften und erforscht behutsam die Quellen europäischen Denkens und Handelns. Dieser homme de lettres ist nach altem Verständnis einer, der in Sprache zu denken und zu fühlen, zu forschen und zu erkennen, zu ahnen und zu träumen weiß. Er vermag es, unnachahmlich elegant die unterschiedlichsten Figuren der europäischen Geistesgeschichte zu verlebendigen. Es gebührt dem Ares-Verlag große Anerkennung, dass die wichtigsten Essays dieses Opus magnum anlässlich des 80. Geburtstages des so früh Verstorbenen in einer Neuausgabe vorgestellt werden.

Ein genialer Schriftsteller bedarf wohl letztendlich eines kongenialen Publikums, einer gebildeten Leserschaft, die mit Freude, Intelligenz und Humor geistreiche Aperçus zu genießen versteht, die resonanzfähig ist und mitzuschwingen vermag, die anspruchsvolle, ja hochfliegende Gedankengänge dankbar begleitet. Kurzum: Er bedarf der vom Aussterben bedrohten Spezies freier, sich in fremde Visionen hineinimaginierenden Geister, die – um ein modisches Wort zu benutzen – genug Fach- und Sachkompetenz besitzen, um entsprechende Texte verstehen und würdigen zu können. Allerdings, wer spricht, wer schreibt, stiftet auch Missverständnisse. Wenn ein Autor diese alte Wahrheit erlebt hat, so betritt er allmählich die Zone des Schweigens. Es ist viel gerätselt worden über das Verstummen Kaltenbrunners, die zunehmend intensiver werdende vergeistige Abstinenz des Gegenwartsverweigerers.

Seit 1990 wandte sich der fast eremitisch im Schwarzwaldstädtchen Kandern lebende „Traditionalist“ Themen zu, die man als konservative Mystik bezeichnen könnte. Die großen religiösen Ströme, die mythischen und philosophischen Lebensäußerungen aller Völker, die zwar – wie der Philosoph Leopold Ziegler schreibt – in tiefere Schichten absinken können, aber keineswegs unrettbar verloren gehen: All dies beschäftigte Kaltenbrunner. Der transzendente, spirituelle Bereich, der in stillen Augenblicken mystischer Erfahrung im Sinne der „integralen Tradition“ unzerstörbare, übergeschichtliche Botschaften aufleuchten lässt, führte ihn immer tiefer zum geheimnisvollen Urgrund des Universums.

Vor diesem Hintergrund sind auch seine letzten Schriften zu verstehen: „Die Seherin von Dülmen und ihr Dichter-Chronist“ (1992), „Tacui. Johannes von Nepomuk – Brückenheiliger und Märtyrer des Beichtgeheimnisses“ (1993) und „Geliebte Philomena. Kleiner Liebesbrief an eine wiedergefundene Heilige“ (1995), vor allem aber die umfangreichen Bände „Johannes ist sein Name. Priesterkönig, Gralshüter, Traumgestalt“ (1993) und „Dionysius vom Areopag. Das Unergründliche, die Engel und das Eine“ (1996). Dem Mysteriencharakter des Christentums, dessen geschichtlicher Botschaft sowie der heilenden Macht des Sakralen war Kaltenbrunner bis zum Ende seines Lebens verpflichtet. Er sah in der Kirche die große Ästhetin und Mystagogin. Sein Plan, ein Werk über den Priesterkönig Melchisedek aus Salem und über die Großmutter Christi, die Heilige Anna, zu verfassen, konnte nicht mehr verwirklicht werden. Vermutlich hätte er die von dem französischen Metaphysiker René Guénon (1886–1951) vertretene mystische Idee eines übersinnlichen Zentrums, das die Welt regiert und innerlich verbindet, in den geplanten Werken wertend berücksichtigt. Gerd-Klaus Kaltenbrunner verstarb unerwartet am 12. April 2011.

„Der Wissende redet nicht.

Der Redende weiß nicht.“

(Laotse: TAO-TE-KING, Spruch 56)

Kehren wir zu unserer Ausgangsfrage zurück: Wer war Gerd-Klaus Kaltenbrunner?

„Alles, was man von mir wissen muss, steht in meinen Büchern“, wiederholte der stets auf Distanz bedachte, jeder Indiskretion abholde und unangemessener Neugierde mit einer gewissen Schroffheit begegnende Schriftsteller, immer wieder. Und doch: Wer ihn kennenlernen durfte, war bezaubert von seiner Einfachheit, Vornehmheit und sprichwörtlichen Grandezza. Ein Intellektueller, der konkurrenzlos den ideellen und symbolischen Reichtum des Abendlandes überschaute. Bezüglich der Qualitätsmerkmale eines Essayisten schreibt er: „… sein Temperament, seine Sensibilität, seine Menschlichkeit ist mindestens so bedeutend wie der von ihm behandelte Gegenstand. … Für den Essayisten gibt es ein Zwiegespräch mit den Toten. Die meisten, im Grunde sogar alle meiner Essays verdanken sich diesem Dialog. In manchem dieser Versuche scheint es mir gelungen zu sein, die eine oder andere Gestalt der europäischen Geistesgeschichte auch für andere – für den mitwirkenden, den sympathetischen Leser – vernehmlich zu machen“. (Dankesrede bei der Verleihung des Konrad-Adenauer-Preises)

So werden wir versuchen, in den hier vorgestellten Texten Zeitkritisches und bekenntnishaft Biografisches aufzuspüren. Wir wissen heute, dass Europa in all seinem Reichtum, seiner Größe, durch ein falsches Verständnis seiner selbst gefährdet ist. Dies stellt auch die sogenannte Pariser Erklärung aus dem Jahre 2017 fest, die allerdings einem naiven Vernunftvertrauen huldigt und die Komplexität der Probleme des christlichen Abendlandes nicht durchschaut. Nochmals sei hier der große „Gegendenker“ Leopold Ziegler genannt. Seine 1995 neu aufgelegte Schrift „Der europäische Geist“ (erstveröffentlicht 1929) stigmatisiert das Fatum Europas: nämlich die Verwissenschaftlichung des Geistes wie des Lebens, den Verlust des Göttlichen und die damit einhergehende Säkularisierung. Sensible Zeitgenossen dachten ähnlich. Zu nennen wären u. a. Fritz Usinger („Gesänge für Europa“) und Friedrich Franz von Unruh. Letzterer schreibt: „Die Macht aber, die von alters her bestellt ist, den menschlichen Standort zu festigen, die Religion, ist der veränderten Situation nicht gewachsen. Sowohl Christentum wie Islam sind einem Weltbild verhaftet, das die Erde als Mitte des Alls und den Menschen als Sinn und Krönung der Schöpfung versteht. … Durch die alten verhärteten Dogmen hindurchzustoßen und ein tieferes Gottbegreifen und tiefere Ehrfurcht zu lehren, ist der Kirche verwehrt, sie verlöre die Basis“. („Die Macht der Dichtung“) Wir können aus diesen Überlegungen folgern, dass heute das Scheitern des Christentums nicht gegen dieses spricht, sondern einen Mangel seelischer Kultur offenbart. Ziegler warnt davor, die Wiederverchristlichung Europas als eine Wiederverkirchlichung aufzufassen. „Dieses von Neuem entstehende Heilige Reich wird nicht mehr kirchlich überwölbt sein, sondern im Sinne einer überkirchlichen Wiederverchristlichung Leib gewinnen.“ (Bemerkungen zur Neuausgabe von „Der europäische Geist“)

Drei Traditionsströme begründen, mannigfach vermischt, die unverwechselbare Eigenart Europas: griechisches Denken, römischer Realismus und Tatsachensinn sowie das christliche Erbe, welches den Gedanken der Gottebenbildlichkeit des Menschen, der Freiheit, der Brüderlichkeit, der geistbegabten Personalität, der Erlösungsbedürftigkeit und der erbarmenden Liebe vertritt. Kaltenbrunner postuliert, dass eine übergreifende europäische Völkerordnung ganz im Sinne Johann Gottfried Herders symphonisch orchestriert sein müsste. Den kulturgeografischen Bogen spannt er von Portugal bis Russland, von Sizilien bis Polen, vom Baltikum bis Rumänien.

 

Zu den Stiftern europäischer Geistigkeit gehören zweifellos Pythagoras – Kosmosoph der sogenannten „Achsenzeit“ (Karl Jaspers), Ordensgründer, Zyklen-Theoretiker, Künder der Musik der Sphären – und Hesiod, der weissagende Seher, der die Götter belauschte. Die dialogische Wahrheitssuche des Sokrates erscheint in platonischem Gewand, in einem Todesverständnis, welches als Freilegung des ideenhaften Prinzips in uns, somit als lebensbildende Philosophie gelten darf. Der universelle platonische Geist blitzt auf, seine Freude am Denken und die staunenswerte Feinfühligkeit für das Wunderbare.

„Sooft uns Platon lächelt, wird es aufgeräumter, heller und freundlicher in Europa“, schreibt Kaltenbrunner und verweist darauf, dass dem unschuldig verurteilten Christen Boethius die Trost spendende Philosophie im platonischen Gewand erscheint, mit dem gebieterischen Aufruf, das Höchste zu wagen. Als besonderes Qualitätsmerkmal des vielstimmigen Gesprächs in diesen Essays tritt die innere Verbindung zwischen Personen, Zeiten und Landschaften in Erscheinung. Stifters „Sanftes Gesetz“ wird im „Trost der Philosophie“ des eingekerkerten Römers vorweggenommen und das kosmo-theologische Gebet in der Mitte der „Consolatio“ enthält – so Kaltenbrunner – den Grundriss von Dantes Weltbild und seiner „Göttlichen Komödie. In dem Aufsatz über die Indoeuropäer erfahren wir, dass es Spuren einer kollektiven Erinnerung an eine Heimat in nördlichen Gebirgen gibt, und das baltische Lettland entzückt als verschwiegener Raum hoher Poesie.

Den Reigen großer Dichtergestalten eröffnen Vergil, der Schöpfer der „Bucolia“, „Georgica“ und „Aeneis“, der stille Sänger des Augusteischen Friedens und des „ewigen Italiens“, sowie Ovid – Urheber des Weltgedichtes der „Metamorphosen“ –, verbannt zu den barbarischen Geten ans Schwarze Meer. An den Pontos Euxinos der Alten grenzt das Dreiecksland Georgien. Um 1200 lebte dort Schota Rustaweli, Dichter, Astronom und Finanzminister der Königin Thamar. In dem Hohelied der Liebe „Der Recke im Tigerfell“, welches 2013 zum Weltdokumentenerbe erklärt wurde, huldigt er seiner ruhmreichen Königin, besingt den Sieg des Lichtes über die Finsternis, des Mutes über die Verzweiflung. Ein ganz anderer Weltroman entsteht in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts in dem vom Dreißigjährigen Krieg verheerten Deutschland: „Der abenteuerliche Simplicissimus“ des sich hinter einer Vielzahl von Decknamen verbergenden Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen. Kaltenbrunner bescheinigt diesem monströsen Werk eine wahrhafte „Simplicität“, eine gottkindliche Einfalt, die in barocker Bilderträchtigkeit und Wortmacht zur Sprache kommt. Eigenwillig und souverän beurteilt der ungemein belesene Essayist Gestalten wie Novalis, den er einen „konservativen Revolutionär“ nennt, oder Justinus Kerner, Arzt, Dichter und Geisterseher, Gesprächspartner von Görres und Franz von Baader. Das Werk des 1936 in Salamanca verstorbenen Dichter-Philosophen Miguel de Unamuno, des großen Gegenspielers Ortega y Gassets, bleibt für den Schriftsteller im Schwarzwald ein Desiderat: „die verlegerische Wiederentdeckung ist mein Wunschtraum“. Den „prince des poètes français“, Pierre de Ronsard, feiert er als „griechischsten“ der Franzosen. Transsilvanien (Siebenbürgen) ist die Heimat des Rumänen Lucian Blaga, des tragischen Dichters in tragischer Zeit. Er wird als Visionär hellsichtiger Ekstasen gerühmt. Der tschechische Dichter Otokar Brezina, der eigentlich Václav Ignác Jebavý hieß, der den Gedanken der Brüderlichkeit aller Menschen in einer Art planetarischer Geschwisterlichkeit vertritt, bezaubert mit seinem hymnischen Werk, seiner kühnen Metaphorik und freien Rhythmik.

Aus mehreren Gründen ist der Essay über Edward Gibbon von besonderer Bedeutung. Amüsante autobiografische Einschübe entführen den Leser in die von lateinischer Kultur und römischem Flair durchwobene Kindheit Kaltenbrunners: „Wenigstens zur Hälfte habe ich mich von Kindesbeinen an für einen Römer gehalten“. Die fast mit Händen zu greifende Präsenz üppigen römischen Erbes findet der Autor gewissermaßen vor der Haustüre. Er schürft aber weit tiefer, denn er entwickelt facettenreich den Gedanken des „Ewigen Roms“. Wien als Sitz der Habsburger bewahrte die Reichstradition und setzt in einer „translatio imperii“ den Gedanken des Heiligen Römischen Reiches fort. Eine Art Mutation zum „imperium spiritualis“, möglicherweise konvergierend mit dem Reich des Heiligen Geistes, welches der Seher Abt Joachim von Fiore weissagte: All das wird in verschlungenen und vielfach sich ergänzenden und überschneidenden Gedankenverbindungen expliziert. So kommt denn auch die Idee des Kronenwächters (Achim von Arnim) zur Sprache: „Die wahren Kronenwächter sind keine ränkespinnende Kamarilla und auch keine politische Sekte, sondern all jene, die im stillen (und vielfach mißverstanden) all das zu erhalten und zu fördern trachten, was uns nach allen Katastrophen noch geblieben ist, die einzige Bastion gegen Selbstentfremdung und Würdelosigkeit: unsere Sprache, die tätige Erinnerung an die Höhepunkte unserer Kultur, die person-und nationstiftende Aneignung des in mehr als einem Jahrtausend angesammelten geistigen Erbguts, auf daß unter einem günstigeren Stern darauf wieder einmal etwas Ordentliches nachwachsen könne.“ („Vom Geist Europas“, Bd. 3)

Edward Gibbon, Experte für den Fall und Untergang Roms, der unreligiöse Skeptiker, welcher das Christentum als einen das Römische Reich infizierenden Bazillus betrachtete, wird als Althistoriker gewürdigt. Man kann diesem universalen Geist die Bewunderung nicht versagen, auch wenn man seinen Thesen nicht zustimmt.

Was wäre Europa ohne den Raum des Numinosen? Die kultische Verehrung des sagenumwobenen Tyaneers Apollonius beschäftigt den Ideenhistoriker Kaltenbrunner ebenso wie die hohe Theologie des Heiligen Augustinus. Der Nordafrikaner aus Tagaste, größter Lehrer der ungeteilten Christenheit, begründet mit seinen berühmten Bekenntnissen („Confessiones“) und dem Gottesstaat („De civitate Dei“) die Geistesgeschichte des Abendlandes. Das Geheimnis der Zeit, Demut und Hochmut, die Entfremdung des zur Pilgerschaft verurteilten Menschen, all das verbindet der Kirchenvater in einer genialen Schau.

Eine spirituelle Landschaft, deren Glanz und mystische Tiefe vor allem durch Erika Lorenz Neubelebung erfuhr, breitet Kaltenbrunner, der Gesprächspartner der Romanistin, vor uns aus: die hispanische Welt. Gestalten wie Teresa von Ávila und Juan von Ávila, Francisco de Osuna und Ignatius von Loyola kennzeichnet er als außergewöhnliche „Erfahrungsmenschen“. Der Troubadour Gottes, Ramon Llull aus Mallorca, seit seiner Bekehrung den Dialog zwischen Islam und Christentum seeleneifrig und wortmächtig betreibend, endet als Märtyrer. Er wird um 1316 von fanatischen Moslems gesteinigt. „Mit dieser Undurchdringlichkeit und Irreduzibilität der großen Offenbarungsreligionen müssen wir uns abfinden, sei’s als Mystiker, sei’s als Skeptiker oder auch beides zugleich. Die religiöse Vielfalt der Welt gehört zu jenen geistigen Beständen, mit denen wir zu leben, in denen wir uns einzurichten haben.“ („Vom Geist Europas“, Bd. 1) Die iberoamerikanische Literatur hat einen dem Geiste nach durch und durch alteuropäischen Vertreter, den Kolumbianer Nicolás Gómez Dávila, Selbstdenker und Antimodernist, Meister hispanischer Prosa. Hier sei wenigstens einer seiner juwelengleichen Aphorismen zitiert: „Der Kampf gegen die moderne Welt muss in Einsamkeit geführt werden. Wo zwei sind, ist Verrat.“

Man hat immer wieder hervorgehoben, dass es für den Polyhistor aus Kandern kaum ein Tabuthema gab. Mit Verve und Sachkenntnis erforschte und analysierte er literarische, religiöse und politische Zusammenhänge. Von der denkwürdigsten Liebesgeschichte des Mittelalters, der Leidenschaft der schönen Heloise und ihres Lehrers Abaelard, weiß er ebenso geistreich zu berichten wie über die Heilige Katharina von Siena (1347–1380). Die Färberstochter, die, wenngleich Analphabetin, flammende Briefe an Fürsten, Kardinäle und Päpste richtet, tritt auf als eine geniale, wortgewaltige Züchtigerin und Prophetin. Ihre Blutmystik ist leibbezogen und sinnenhaft. Sie ist der energetische Impuls ihres männlich kühnen Handelns.

Unerschöpflich leuchtet die Mystik von Meister Eckhart (1260–1328) durch die Jahrhunderte. Seine Lehre von der Gelassenheit und der Entsagung des wesentlich gewordenen Menschen, die Bereitschaft, „Gott um Gottes willen zu lassen“, und der Gedanke vom „Seelenfünklein“, mit dem der Mensch alle Kreatur überragt und teilhat an der göttlichen Natur, all dies trug ihm letztendlich den Vorwurf der Häresie ein. Seine Verurteilung hat er nicht mehr erlebt. Wohl aber wirken seine Gedanken exemplarisch auf die Nachwelt. Im 19. Jahrhundert wird Franz von Baader Meister Eckhart neu entdecken, und in der Kette der Denker, die sich über Cusanus und Paracelsus bis Schopenhauer erstreckt, kommt dem Görlitzer Schuster Jakob Böhme (1575–1624), dem philosophus teutonicus, besondere Bedeutung zu. Kaltenbrunner urteilt: „Wer … wenigstens in gewissen Stunden ein Organ für das hat, worum es Meister Eckhart geht, wird zumindest gelegentlich nach den Schriften des Meisters selbst greifen wollen. Auch heute noch, mehr als sechshundert Jahre nach seinem Tode, wirkt Eckhart wesentlich durch seine Sprachgewalt. Sie ist imstande, selbst Menschen, die sich keiner Kirche oder Konfession verbunden fühlen, unmittelbar anzusprechen. Blitzartig vermittelt sie eine Ahnung davon, daß es eine Wirklichkeit gibt, im Vergleich zu der alles, was uns sonst noch so real zu sein scheint, wie wesenlos und nichtig wirkt.“ („Vom Geist Europas“, Bd. 1)

Einer der bemerkenswertesten Menschen, die der Archipel Gulag für immer verschlang, war der Naturwissenschaftler und Techniker, Anthropologe, Kosmologe, Professor und orthodoxe Geistliche Pavel (Paul) Florenskij, geboren am 9. Januar 1882 in Jewlach; am 25. November 1937 zum Tode verurteilt durch ein stalinistisches Sondergericht des Volkskommissariats des Inneren (NKWD). Vermutlich wurde das Urteil am 8. Dezember 1937 in Leningrad vollstreckt. Dieser russische Leonardo da Vinci, ein überragender Geist von durchdringender Religiosität, verfasste selbst unter den erniedrigendsten Umständen tiefsinnige Werke. Kaltenbrunner nennt „Die Säule und Grundfeste der Wahrheit“ (1914) eine „Summa theologiae“. In kühnen Gedankengängen werden in einer Art theo-kosmogonischer Synthese sophianische Zusammenhänge erörtert. In dem 1996 auch auf Deutsch erschienenen Werk „Die Ikonostase“ macht der russische Denker den Leser mit einer Form des Christentums vertraut, dessen kultische Mitte nicht das Wort ist, sondern das Bild.

Das heimliche Europa des Geistes ist, wie sein unermüdlicher Interpret, der Visionär Kaltenbrunner, nachweist, unendlich größer als die heutige Welt. „Geist ist ein Universum für sich, einerseits dem Kosmos als kleines flackerndes Flämmchen innewohnend, anderseits aber das ganze Weltall samt seinen unvorstellbaren Lichtjahren umfassend. Das meint ja auch Pascal mit seinen denkwürdigen Worten: ‚Nur ein Schilfrohr, das zerbrechlichste in der Welt, ist der Mensch, aber ein Schilfrohr, das denkt. Nicht im Raum habe ich meine Würde zu suchen, sondern im Denken‘ (Pensées 347 f).“ („Vom Geist Europas“, Bd. 2) Uneingeschränkte Bewunderung galt demnach den „Geistesriesen“, Männern wie Görres oder von Baader.