Czytaj książkę: «Maigret verliert eine Verehrerin»
Der 22. Fall
Georges Simenon
Maigret verliert eine Verehrerin
Roman
Aus dem Französischen von Hansjürgen Wille, Barbara Klau und Julia Becker
Kampa
Erster Teil
1
Die Pfeife, die sich Maigret auf seiner Türschwelle am Boulevard Richard-Lenoir ansteckte, schmeckte ihm an diesem Morgen viel besser als sonst. Der erste Nebel war für ihn eine ebenso freudige Überraschung wie für Kinder der erste Schnee, zumal es nicht dieser hässliche gelbliche Nebel mancher Wintertage war, sondern ein milchig weißer Dunst, in dem gedämpfte Lichter umherwanderten. Es war kühl, und die Schritte hallten laut auf dem Straßenpflaster.
Die Hände in den Taschen seines dicken Mantels mit dem Samtkragen, der am Quai des Orfèvres berühmt war und noch ein wenig nach Mottenkugeln roch, den steifen Hut tief in die Stirn gedrückt, schlenderte Maigret gemächlich zum Quai, und es amüsierte ihn, als plötzlich ein Mädchen im Laufschritt aus dem Nebel auftauchte und gegen seine dunkle, massige Gestalt stieß.
»Oh, Verzeihung, Monsieur …«
Und schon lief sie noch schneller weiter, um nicht ihren Bus oder die Metro zu verpassen.
An diesem Morgen schien sich ganz Paris wie der Kommissar über den Nebel zu freuen, und nur das heisere Tuten der Schlepper auf der Seine, die nicht zu sehen waren, klang beunruhigend.
Eine Erinnerung sollte sich Maigret ohne einen bestimmten Grund einprägen: Gerade hatte er auf dem Weg zum Boulevard Henri-IV die Place de la Bastille überquert, als er an einem kleinen Bistro vorbeikam. Die Tür öffnete sich – zum ersten Mal in diesem Herbst war es so kühl, dass man gezwungen war, die Türen der Cafés zu schließen –, und Maigret schlug ein Duft entgegen, der für ihn der Inbegriff des Tagesanbruchs in Paris war: der Geruch von Milchkaffee und warmen Croissants, gemischt mit einem Hauch von Rum. Hinter den beschlagenen Scheiben erahnte er zehn, vielleicht auch fünfzehn oder zwanzig Männer, die an die Zinntheke gelehnt frühstückten, ehe sie zur Arbeit eilten.
Um Punkt neun Uhr ging er durch den Torbogen der Kriminalpolizei und dann zusammen mit mehreren Kollegen die große, immer staubige Treppe hinauf. Kaum befand sich sein Kopf auf Höhe des ersten Stocks, warf er einen Blick durch die Glasscheibe des Warteraums, und als er Cécile auf einem der grünen, samtbezogenen Stühle sitzen sah, runzelte er die Stirn.
Genau genommen tat er nur so, als wäre er verstimmt.
»Na, sagen Sie mal, Maigret … Da ist sie ja schon wieder!«
Es war Cassieux, der Leiter des Sittendezernats, der gleich hinter ihm kam. Und das Gespött würde weitergehen, wie bei jedem Besuch von Cécile.
Maigret versuchte an ihr vorbeizukommen, ohne dass sie ihn sah. Wie lange saß sie schon dort? Sie brachte es fertig, stundenlang reglos auf demselben Platz auszuharren, beide Hände auf ihrer Handtasche und den lächerlichen grünen Hut ein wenig schief auf dem straff zurückgekämmten Haar.
Natürlich bemerkte sie den Kommissar! Sie sprang auf, ihr Mund öffnete sich. Wegen der Glaswand hörte man nichts, aber vermutlich seufzte sie:
»Endlich!«
Maigret duckte sich und hastete in sein Büro am Ende des Flurs. Der Bürodiener kam herein, um ihm zu melden …
»Ich weiß, ich weiß … Aber ich habe jetzt keine Zeit«, brummte Maigret.
Wegen des Nebels musste er die Schreibtischlampe mit dem grünen Schirm anschalten. Er legte Mantel und Hut ab, betrachtete den Ofen und dachte: Wenn es morgen auch noch so kalt ist, werde ich verlangen, dass man heizt. Er rieb sich die kalten Hände, setzte sich schwerfällig auf seinen Sessel, stieß einen wohligen Seufzer aus und griff zum Telefonhörer.
»Hallo? … Bin ich mit dem Vieux Normand verbunden? … Holen Sie bitte Monsieur Janvier an den Apparat … Hallo? … Bist du’s, Janvier?«
Inspektor Janvier sollte seit sieben Uhr früh an einem Tisch in dem kleinen Restaurant in der Rue Saint-Antoine sitzen und von dort aus das Hôtel des Arcades überwachen.
»Gibt’s was Neues?«
»Sie sind alle im Nest, Chef. Die Frau ist vor einer halben Stunde weggegangen, um Brot, Butter und Kaffee zu besorgen. Sie ist gerade zurückgekommen.«
»Ist Lucas auf seinem Posten?«
»Ich habe ihn am Fenster gesehen, als ich kam.«
»Gut. Jourdan wird dich bald ablösen. Bist du nicht schon ganz durchgefroren?«
»Ein bisschen. Es geht noch.«
Maigret lächelte bei dem Gedanken an Lucas, den Inspektor, der sich seit vier Tagen als gebrechlicher alter Mann ausgab. Es ging darum, eine Bande von Polen zu überwachen, die zu fünft oder sechst in einem kläglichen Zimmer des ebenso kläglichen Hôtel des Arcades hausten. Bis jetzt hatte man keinen Beweis gegen sie. Man wusste nur, dass einer von ihnen, den sie den »Baron« nannten, im Wettbüro von Longchamp einen der Geldscheine gewechselt hatte, die auf dem Bauernhof Vansittart gestohlen worden waren.
Wie ziellos bewegten sich diese Leute in Paris umher und kamen immer wieder in der Rue de Birague bei einer jungen Frau zusammen, von der man weder wusste, wessen Geliebte sie war noch welche Rolle sie eigentlich spielte.
Als kranker Alter verkleidet und mit mehreren Schals vermummt, beobachtete Lucas die Bande von morgens bis abends vom Fenster einer gegenüberliegenden Wohnung.
Maigret stand auf, um seine Pfeife im Kohleneimer auszuklopfen. Während er aus seiner Sammlung auf dem Schreibtisch eine neue aussuchte, fiel sein Blick auf Céciles Anmeldezettel, doch gerade als er lesen wollte, was sie geschrieben hatte, ertönte auf dem Flur ein schrilles Klingeln.
Der Rapport! Er griff nach den bereitliegenden Akten und begab sich wie alle Abteilungsleiter in das Büro des Direktors der Kriminalpolizei. Es war die allmorgendliche kleine Zeremonie. Der Chef hatte langes weißes Haar und einen kleinen Spitzbart wie ein Musketier. Man schüttelte einander die Hände.
»Haben Sie sie gesehen?«
Maigret spielte den Ahnungslosen.
»Wen?«
»Cécile! Also, wenn ich Ihre Frau wäre …«
Arme Cécile! Dabei war sie noch so jung: gerade achtundzwanzig, wie Maigret aus ihren Papieren wusste. Aber trotz ihrer Bemühungen, sich hübsch zu machen, wirkte sie schon wie eine hässliche alte Jungfer. Ihre schwarzen Kleider, die sie sich vermutlich nach schlechten Mustern selbst schneiderte … Dieser lächerliche grüne Hut … Unmöglich, darunter weibliche Reize zu vermuten. Ein zu blasses Gesicht, und zu allem Überfluss hatte sie auch noch einen Sehfehler.
»Sie schielt!«, behauptete Kommissar Cassieux.
Er übertrieb. Man konnte nicht sagen, dass sie wirklich schielte, aber ihr linkes Auge blickte in eine etwas andere Richtung als ihr rechtes.
Schicksalsergeben kam sie jeden Morgen schon um acht Uhr.
»Ich möchte zu Kommissar Maigret.«
»Ich weiß nicht, ob er heute kommt. Sie könnten Inspektor Berger sprechen, der …«
»Nein danke. Ich warte.«
Und sie wartete den lieben langen Tag, ohne sich von der Stelle zu rühren, ohne ein Zeichen der Ungeduld. Sobald aber der Kommissar auf der Treppe auftauchte, sprang sie auf, als würde sie von ihren Gefühlen übermannt.
»Ich versichere Ihnen, mein Bester, sie ist verliebt.«
Im Stehen unterhielten sich die Kommissare zunächst ein wenig und kamen dann auf die Arbeit zu sprechen.
»Gibt es etwas Neues im Fall Pélican, Cassieux?«
»Ich habe für zehn Uhr den Wirt vorgeladen. Es wird Zeit, dass er endlich auspackt.«
»Gehen Sie aber sachte vor. Er wird von einem Abgeordneten protegiert, und ich kann keinen Ärger gebrauchen. Und Ihre Polen, Maigret?«
»Ich warte. Heute Nacht will ich mich selbst auf die Lauer legen. Wenn wir bis morgen nichts Neues haben, werde ich versuchen, die Frau allein zu erwischen.«
Eine üble Bande. Drei Verbrechen in sechs Monaten. Immer auf abgelegenen Bauernhöfen im Norden. Brutale Raubmorde, bei denen die Opfer mit Axthieben umgebracht worden waren.
Der Nebel verfärbte sich golden. Die Lampen waren nun nicht mehr nötig. Der Chef zog eine Akte zu sich heran.
»Wenn Sie heute Vormittag einen Augenblick Zeit hätten, Maigret … Eine Vermisstenanzeige … Es handelt sich um einen jungen Mann von neunzehn, den Sohn eines Großindustriellen, der …«
»Geben Sie mir die Akte.«
Der Rapport dauerte eine halbe Stunde. Hin und wieder drang das Klingeln des Telefons durch den dichten Zigaretten- und Pfeifenrauch.
»Gut, Herr Minister … Ja, Herr Minister …«
Währenddessen hörte man auf dem breiten Flur die Inspektoren kommen und gehen, Türen schlagen und in allen Zimmern die Telefone klingeln.
Mit den Papieren unterm Arm kehrte auch Maigret in sein Büro zurück. Er dachte über die polnische Bande nach. Achtlos legte er die Akten auf den Anmeldezettel, den Cécile ausgefüllt hatte. Er hatte sich kaum gesetzt, als der Bürodiener anklopfte.
»Es ist wegen der jungen Frau …«
»Was ist mir ihr?«
»Empfangen Sie sie?«
»Gleich.«
Erst wollte er die Sache erledigen, die der Chef ihm soeben aufgetragen hatte. Er hatte mit dem jungen Mann schon zu tun gehabt und wusste, wo er ihn finden würde.
»Hallo? Bitte verbinden Sie mich mit dem Hôtel Myosotis in der Rue Blanche.«
Ein zweifelhaftes Hotel, in dem noch andere junge Leute wie er verkehrten, die dem Kokain frönten und aus ihren sittenwidrigen Gewohnheiten kein Geheimnis machten.
»Hallo? … Nun, Francis, ich denke, ich werde Ihren Laden endgültig dichtmachen müssen … Was? … Pech für Sie! Sie übertreiben … Wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf, dann schicken Sie mir sofort den kleinen Duchemin … Oder besser noch, bringen Sie ihn selber her … Ich habe etwas mit ihm zu bereden … Aber ja! Er ist bei Ihnen. Und wenn er es nicht ist, werden Sie ihn bestimmt bis zum Mittag für mich ausfindig machen … Ich zähle auf Sie!«
Schon kam ein Anruf auf einer anderen Leitung. Ein verlegener Untersuchungsrichter.
»Kommissar Maigret? … Es geht um Pénicaud, Herr Kommissar. Er behauptet, Sie hätten sein Geständnis durch Einschüchterung erzwungen, ihn sich in Ihrem Büro ausziehen und fünf Stunden lang splitternackt dort sitzen lassen.«
Auch die Inspektoren warteten, den Hut auf dem Kopf und die Zigarette im Mund, im Büro nebenan auf seine Anweisungen. Es war elf Uhr, als ihm Cécile wieder einfiel. Er drückte auf den Klingelknopf.
»Lassen Sie die junge Frau herein.«
Kurz darauf kam der Bürodiener allein zurück.
»Sie ist nicht mehr da, Herr Kommissar.«
»Ach!«
Zuerst zuckte er mit den Schultern. Dann, während er sich wieder setzte, runzelte er die Stirn. Das passte so gar nicht zu Cécile, die einmal sieben Stunden lang reglos im Warteraum gesessen hatte. Er suchte unter den Papierstapeln auf seinem Schreibtisch ihren Anmeldezettel. Schließlich fand er ihn unter der Akte des jungen Duchemin.
Sie müssen mich unbedingt empfangen. Heute Nacht ist etwas Schreckliches passiert.
Cécile Pardon
Auf sein Klingeln hin kam wieder der Bürodiener.
»Sagen Sie, Léopold …« (Er hieß nicht wirklich Léopold, aber man hatte ihm diesen Spitznamen gegeben, weil er aussah wie der ehemalige belgische König.) »Wann ist sie gegangen?«
»Ich weiß es nicht, Herr Kommissar. Ich bin in alle möglichen Büros gerufen worden … Vor einer halben Stunde war sie noch da …«
»Saßen viele Leute im Warteraum?«
»Zwei Personen für den Chef. Ein älterer Herr mit einem Rechtshilfeersuchen. Ansonsten … Ach, Sie wissen ja, vormittags herrscht hier ein ständiges Kommen und Gehen … Ich habe selber erst eben bemerkt, dass die Dame nicht mehr da ist.«
Maigret spürte eine leichte Beunruhigung, ein Unbehagen in der Brust. Das gefiel ihm nicht. Man hatte sich über diese arme Cécile zu sehr lustig gemacht.
»Falls Sie wiederkommt …«
Nein, er überlegte es sich anders. Er rief einen seiner Inspektoren zu sich.
»In wenigen Minuten wird der Besitzer des Hôtel Myosotis mit einem jungen Mann namens Duchemin hier auftauchen. Lassen Sie sie warten. Wenn ich bis zwölf noch nicht zurück bin, behalten Sie den jungen Mann hier und schicken Sie den Hotelier wieder an seine Arbeit.«
Auf dem Pont Saint-Michel hätte er fast ein Taxi genommen, was ein schlechtes Zeichen war.
Gerade deshalb tat er es dann doch nicht, sondern wartete auf die Straßenbahn. Sonst hätte er dieser Cécile zu viel Bedeutung beigemessen! Er hätte damit zugegeben …
Anstatt sich aufzulösen war der Nebel noch dichter geworden, aber es war nicht mehr so kalt. Maigret stand auf der Plattform, rauchte seine Pfeife, und sein Kopf schaukelte im Takt der Erschütterungen und Bremsstöße hin und her.
Wann war Cécile zum ersten Mal am Quai gewesen? Vor sechs Monaten ungefähr. Er hatte sein Notizbuch auf dem Schreibtisch liegen lassen, er konnte es nach seiner Rückkehr überprüfen. Sie hatte sofort nach Kommissar Maigret verlangt. Möglicherweise kannte sie seinen Namen aus der Zeitung. Sie schien eine ruhige Person zu sein. Ob sie sich bewusst war, dass sich ihre Geschichte wie das Produkt einer blühenden Fantasie anhörte?
Sie bemühte sich, wohlüberlegt zu sprechen, indem sie den Kommissar fest anblickte und die unglaubwürdigen Stellen ihres Berichts durch ein Lächeln abmilderte.
»Ich schwöre Ihnen, Herr Kommissar, dass ich nichts erfinde und mir auch nichts einbilde. Ich weiß genau, wo alles hingehört, weil ich es bin, die den Haushalt macht. Meine Tante hat nie ein Dienstmädchen gewollt. Als es das erste Mal passiert ist, dachte ich noch, dass ich mich irre. Aber danach habe ich genau aufgepasst, und gestern habe ich mir genau eingeprägt, wo sich jeder Gegenstand befand. Ich bin sogar noch weiter gegangen. Ich habe einen Faden quer vor die Eingangstür gespannt …
Und dann waren nicht nur zwei Stühle verrückt, sondern auch der Faden war gerissen. Es hat also jemand unsere Wohnung betreten. Jemand hat sich eine Zeit lang im Wohnzimmer aufgehalten und den Sekretär meiner Tante aufgemacht, denn auch dort hatte ich ein Erkennungszeichen angebracht. Es ist das dritte Mal in zwei Monaten. Meine Tante kann sich seit Kurzem fast gar nicht mehr bewegen. Niemand außer mir hat einen Wohnungsschlüssel, und doch ist das Schloss nicht aufgebrochen worden. Ich wollte Tante Juliette nichts davon erzählen, um sie nicht zu beunruhigen. Ich bin aber sicher, dass nichts verschwunden ist. Sie hätte es mir gesagt, denn sie ist sehr misstrauisch.«
»Alles in allem«, fasste Maigret ihren Bericht zusammen, »behaupten Sie also, dass zum dritten Mal in zwei Monaten ein Unbekannter in Ihre und die Wohnung Ihrer Tante eingedrungen ist, durch das Wohnzimmer gegangen ist und die Stühle verrückt hat …«
»Die Schreibunterlage auch!«
»… die Stühle und die Schreibunterlage verrückt und im Sekretär herumgewühlt hat, obwohl er abgeschlossen ist und auch nichts darauf hindeutet, dass er gewaltsam geöffnet wurde.«
»Außerdem hat heute Nacht jemand im Wohnzimmer geraucht. Weder meine Tante noch ich rauchen. Gestern war auch niemand bei uns, und trotzdem hat es heute Morgen im Wohnzimmer nach Zigarettenrauch gerochen.«
»Ich werde mir das einmal ansehen.«
»Gerade das möchte ich vermeiden. Meine Tante ist sehr schwierig. Sie würde es mir übel nehmen, zumal ich ihr nichts davon erzählt habe.«
»Und was erwarten Sie dann von der Polizei?«
»Ich weiß es nicht. Ich vertraue Ihnen. Wenn Sie sich vielleicht ein paar Nächte im Treppenhaus aufhalten könnten …«
Armes Mädchen, wenn sie sich vorstellte, es wäre die Aufgabe eines Kommissars der Kriminalpolizei, die Nacht in einem Treppenhaus zu verbringen, um das Gerede eines jungen Mädchens zu überprüfen!
»Ich schicke heute Nacht Lucas zu Ihnen.«
»Kommen Sie nicht selbst?«
Nein! Hundertmal nein! Nun ging sie wirklich zu weit! Und ihre Enttäuschung, da hatten Maigrets Kollegen recht, ähnelte der Enttäuschung einer Verliebten.
»Vielleicht wird es nicht heute Nacht sein, sondern erst in drei, fünf oder zehn Tagen. Wie soll ich das wissen, Herr Kommissar? Bei dem Gedanken, dass jemand …«
»Wo wohnen Sie?«
»In Bourg-la-Reine, einen Kilometer von der Porte d’Orléans entfernt, an der Route Nationale. Genau gegenüber der fünften Straßenbahnhaltestelle. Es ist ein großes fünfstöckiges Backsteingebäude. Im Erdgeschoss sind eine Fahrradhandlung und ein Lebensmittelgeschäft. Wir wohnen im fünften Stock.«
Lucas war dort gewesen. Er hatte sich bei den Nachbarn erkundigt.
Er war skeptisch zurückgekehrt.
»Eine alte Frau, die ihre Wohnung seit Monaten nicht mehr verlässt, und ihre Nichte, die das Dienstmädchen und die Krankenschwester spielt.«
Man hatte die örtliche Polizei auf das Haus aufmerksam gemacht, die es fast einen Monat lang überwacht hatte. Außer den Mietern hatte man in keiner einzigen Nacht jemanden hineingehen sehen.
Und dennoch war Cécile erneut zum Quai des Orfèvres gekommen.
»Er war wieder da, Herr Kommissar. Diesmal hat er Tintenspuren auf der Schreibunterlage hinterlassen. Ich habe das oberste Blatt erst gestern Abend gewechselt.«
»Und er hat nichts mitgenommen?«
»Nein, nichts.«
Maigret war so unvorsichtig gewesen, die Geschichte seinen Kollegen zu erzählen, und der ganze Quai des Orfèvres hatte sich darüber lustig gemacht.
»Maigret hat eine Eroberung gemacht!«
Durch die Glaswand des Warteraums hatten sie das schielende Fräulein begutachtet und waren dann beim Kommissar hereingeplatzt.
»Beeil dich! Da ist jemand für dich!«
»Wer?«
»Deine Verehrerin …«
Acht Nächte hintereinander hatte Lucas in dem Treppenhaus Wache gehalten, aber weder etwas gesehen noch gehört.
»Vielleicht kommt er morgen«, hatte Cécile gesagt.
Schließlich hatte man es aufgegeben.
»Cécile ist da!«
Mittlerweile war Cécile berühmt. Alle nannten sie nun schon Cécile. Wenn ein Inspektor den Kommissar in seinem Büro sprechen wollte, hieß es:
»Achtung! Es ist jemand drin.«
»Wer?«
»Cécile!«
Maigret musste an der Porte d’Orléans umsteigen. An der fünften Haltestelle stieg er aus.
Auf der rechten Seite ragte zwischen zwei unbebauten Grundstücken ein frei stehendes Gebäude auf, das aussah wie ein schmales und hohes Stück Schichtkuchen.
Nichts Ungewöhnliches. Autos, die nach Arpajon und Orléans unterwegs waren. Lastwagen, die von den Markthallen zurückkamen. Die Haustür befand sich zwischen der Fahrradhandlung und dem Lebensmittelgeschäft. Die Concierge schälte gerade Mohrrüben.
»Ist Mademoiselle Pardon schon zurück?«
»Mademoiselle Cécile? Ich glaube nicht. Aber klingeln Sie ruhig. Madame Boynet wird Ihnen aufmachen.«
»Ich dachte, sie ist gelähmt?«
»Ja, so gut wie. Aber sie hat an ihrem Sessel ein System anbringen lassen, das es ihr ermöglicht, die Tür zu öffnen. So eins wie hier in unserer Loge. Und wenn sie will …«
Fünf Etagen! Maigret graute vor Treppen. Diese hier war dunkel und mit einem tabakbraunen Läufer belegt. Die Wände waren speckig. Auf jedem Treppenabsatz änderte sich der Geruch, je nachdem, was gerade gekocht wurde; ebenso wie die Geräusche: Klavierspiel, Kindergeschrei, und irgendwo wurde heftig gestritten.
Im fünften Stock hing links ein verstaubtes Namensschild unter dem Klingelknopf: Jean Siveschi. Es musste also die rechte Tür sein. Er klingelte. Das Klingeln hallte durch die ganze Wohnung, doch im Schloss war kein Klicken zu hören und die Tür öffnete sich nicht. Er klingelte noch einmal. Sein Unbehagen schlug in Besorgnis um, die Besorgnis in Schuldgefühle.
»Was ist denn los?«, fragte eine weibliche Stimme hinter ihm.
Er wandte sich um und sah ein etwas rundliches Mädchen, dessen hellblauer Bademantel ihre weibliche Figur noch betonte.
»Madame Boynet …«
»Ja, das ist hier«, antwortete sie mit einem leichten ausländischen Akzent. »Hat Ihnen niemand aufgemacht? Merkwürdig …«
Sie klingelte ihrerseits, und als sie den Arm nach der Klingelschnur ausstreckte, zeigte sie ein Stück nackte Haut.
»Selbst wenn Cécile nicht da ist, ihre Tante …«
Maigret harrte zehn Minuten lang auf dem Treppenabsatz aus und musste dann fast einen Kilometer zurücklegen, um einen Schlosser ausfindig zu machen. Auf den Lärm hin kam nicht nur das junge Mädchen wieder angelaufen, sondern auch ihre Mutter und Schwester.
»Glauben Sie, dass ein Unglück passiert ist?«
Das Türschloss, an dem keine Spuren von Gewaltanwendung zu erkennen waren, ließ sich ohne größeren Aufwand öffnen. Maigret betrat als Erster die mit alten Möbeln und Nippes vollgestopfte Wohnung, aber er achtete nicht auf Einzelheiten. Ein Wohnzimmer … Ein Esszimmer … Eine offene Tür und in einem Mahagonibett eine alte Frau mit gefärbtem Haar, die …
»Ich bitte Sie zu gehen. Hören Sie?«, rief er, sich umdrehend, in Richtung der drei Nachbarinnen. »Wenn Sie das lustig finden, tun Sie mir leid.«
Eine seltsame Leiche: eine kleine rundliche alte Frau, geschminkt und mit strohigem, zu stark blondierten Haar, an dem man jedoch einen weißen Ansatz sehen konnte; ein roter Morgenmantel und nur ein Strumpf, an dem Bein, das aus dem Bett heraushing.
Es bestand kein Zweifel, dass sie erwürgt worden war.
Mit düsterer und besorgter Miene kehrte er auf den Treppenabsatz zurück.
»Würde bitte jemand von Ihnen einen Polizisten aus der Gegend herbringen?«
Fünf Minuten später telefonierte er aus der Telefonkabine eines nahe gelegenen Bistros.
»Hallo … Ja, Kommissar Maigret … Wer ist dran? … Gut … Sag mal, Kleiner, ist Cécile vielleicht bei euch noch mal aufgetaucht? Geh zur Staatsanwaltschaft rüber und versuch den Staatsanwalt persönlich zu sprechen … Sag ihm … Hörst du? … Ich bleibe hier … Hallo? … Gib auch dem Erkennungsdienst Bescheid … Wenn Cécile doch wiederkommen sollte … Was sagst du? … Hör auf, Kleiner, da gibt es im Moment wirklich nichts zu lachen.«
Als er, nachdem er an der Theke ein Glas Rum heruntergestürzt hatte, das Bistro verließ, standen um die fünfzig Personen vor dem Haus in Form eines Kuchenstücks.
Unwillkürlich hielt er nach Cécile Ausschau.
Erst um fünf Uhr nachmittags sollte er erfahren, dass sie ebenfalls tot war.