Czytaj książkę: «Die große Inflation», strona 4

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Sombart formuliert eine Haltung, die bis heute in Deutschland nachhallt. Die Verachtung gegenüber der angeblich oder tatsächlich kommerzialisierten Gesellschaft der Angelsachsen und das damit verbundene Gefühl der moralischen Überlegenheit wird heute diskreter ausgedrückt, aber es gehört keine große Sensibilität dazu, um sie in vielen deutschen Gesprächen und Medien zu spüren.33

Dieser verbreitete Geist der Geringschätzung wirtschaftlichen Denkens ließ nichts Gutes für die Haushaltsführung im Krieg ahnen. Die Deutschen waren ein agrarisch geprägtes Volk, das insgesamt wenig von Geld und Schulden verstand. Während die Briten, die nach wie vor Zugang zu den internationalen Kapitalmärkten hatten, auch im Krieg auf einen einigermaßen verantwortungsvollen Umgang mit Geld achteten, übten die deutschen Finanzpolitiker, die allein auf die finanziellen Ressourcen des eigenen Landes angewiesen waren, bedingungslosen Hurrapatriotismus, setzten heroisch auf Sieg und verzichteten auf die unsichtbare Hand und überhörten die warnende Stimme des Marktes.

Der schwere Daumen des Staates sorgte dafür, dass die Preise unter dem Regime der Zwangswirtschaft kaum stiegen, obwohl die Hausfrauen immer öfter vor leeren Regalen standen. Dies war zum Teil der alliierten Seeblockade zuzurechnen und galt insbesondere für alltägliche Luxusgüter wie Tee, Kaffee, Zucker, Schokolade oder geschnittenen Tabak. Der Einsatz von immer mehr Arbeitern an der Front und die ausbleibenden Investitionen in Maschinen, die nicht unmittelbar kriegswichtig waren, ließen aber auch die Quantität und Qualität der heimischen Produktion mit den Jahren zusehends abnehmen – und dabei ging es bald nicht um Überflüssiges, sondern um das Eingemachte.

Die Nachfrage nach den immer knapperen Gütern war also hoch und die Bevölkerung insgesamt, dank der regen Tätigkeit der Darlehenskassen, liquide. Wenn in den offiziellen Statistiken sich dennoch wenig von einer Inflation zeigte, so lag dies an der mittlerweile prominenten Rolle des Schwarzmarktes, jenes ungeliebten Zwillingsgeschwisters der Zwangswirtschaft. Insbesondere die Bauern erwiesen sich immer wieder als unpatriotisch und schlau und führten einen Teil ihrer Ernte den dunklen Kanälen der Wirtschaft zu. Sie gaben die mehligen Äpfel an die offiziellen Märkte ab und verkauften die guten unter der Hand zu stetig höheren Preisen. Der bessere Teil der Ernte ließ sich immer abzweigen und an illegale Zwischenhändler, die Schieber, weiterverkaufen, die ihre gute, aber unrechtmäßige Ware mit großem Gewinn in den Städten teurer und immer teurer veräußerten. Die Preiskontrollen waren zwar effizient, aber der Preisauftrieb war trotzdem da, auch wenn er sich nur in den dunkleren Gassen und Hinterhöfen manifestierte. Wie eine Wühlmaus im Wurzelwerk eines Baumes nagte die unterdrückte Inflation unsichtbar weiter und richtete einen Schaden an, der erst sehr viel später offiziell sichtbar werden würde. Die Kombination aus Planwirtschaft und unbegrenzt verfügbarem Geld erwies sich im Ersten Weltkrieg jedenfalls als unheilige Allianz.

Das Leben in Deutschland wurde nicht nur teuer, sondern auch schäbig und lückenhaft. Durch den Mangel wurden die Sachgüter ebenso abgenutzt wie die Moral, was sich in der Neigung zum Diebstahl bei den Armen und zur plumpen Prasserei bei den neureichen Kriegsgewinnlern zeigte. Je länger er sich hinzog, desto offensichtlicher wurde es, dass die deutsche Wirtschaftskraft nicht für einen großen Krieg ausgelegt war. In der Geschichte war Inflation oft die Konsequenz aus langen, zehrenden Kämpfen – das wusste man spätestens seit der Geldverschlechterung im Rom des 2. und 3. Jahrhunderts n. Chr. Das Phänomen wiederholte sich im Ersten Weltkrieg, vor aller Augen. Dennoch machte sich Rathenau, wie die ganze deutsche Elite, keine Gedanken über das Thema, zu fern schien es, zu unwahrscheinlich, vielleicht auch zu unwichtig.

In einer Planwirtschaft sind die Abläufe selten so effizient, wie die Planer sich vorstellen. Die Dinge werden oft nicht in der richtigen Menge oder der richtigen Qualität hergestellt, was die Ressourcen stärker strapaziert als nötig. Die heute – neben der Quantitätstheorie und der Fiskalischen Theorie der Inflation – in Umlauf befindliche neukeynesianische Theorie der Inflation untersucht unter anderem die Effekte, die sich ergeben, wenn der Wettbewerb nicht reibungslos funktioniert, weil der Markt versagt oder Löhne und Preise starr sind und sich neuen Marktlagen nicht flexibel anpassen. Die Neukeynesianer sehen den Zusammenhang zwischen Löhnen (die normalerweise nur nach oben flexibel sind) und Inflationsrate in der sogenannten Phillipskurve. Niedrige Arbeitslosenzahlen gehen mit hohen Inflationsraten einher (denn die Arbeitnehmer können höhere Löhne fordern) und umgekehrt. Aber auch diese Theorie hat es, wie die anderen auch, nicht leicht gehabt. In den 1970er Jahren kam es zu einer Stagflation (so der Name für die Koinzidenz von hoher Inflationsrate bei gleichzeitig hoher Arbeitslosigkeit), die mit der Phillipskurve im Widerspruch zu stehen schien. Und seit der Jahrtausendwende ist die Kurve flach geworden, so flach, dass man heute darüber spekuliert, ob der Zusammenhang überhaupt noch besteht.

Rathenau begriff dank seiner Tätigkeit in der Kriegsrohstoff-Abteilung relativ bald, dass dieser Krieg kaum einen Stein auf dem anderen lassen würde. Und er ahnte, dass die Konsequenzen weit über den militärischen Bereich hinausgehen sollten. Nach nur acht Monaten zog er sich von der Aufgabe als oberster Wirtschaftsdirektor des Landes zurück und begab sich wieder in seinen Wartestand, halb literarischer Privatier, halb politökonomisches Tier. Er spürte, wie die alte Ordnung sich auflöste und dass es in dieser Situation dankbarer war, die Beobachterrolle einzunehmen als ein Amt innezuhaben. Spätestens mit dem Kriegseintritt der USA 1917 sah er, dass die Träume vom Sieg- und Annexionsfrieden längst nicht mehr der Wirklichkeit entsprachen, und seine Stimmung wurde zunehmend pessimistisch. Weder das Kaisertum, so viel war ihm klar, noch die deutsche Vormachtstellung in Europa würden die sich abzeichnende Niederlage überleben.

Sein System von Preiskontrollen, Rationierungen und staatlicher Verteilung löste sich allerdings nach Kriegsende nur langsam auf und blieb teilweise durch die ganze Inflationszeit hindurch bestehen. Bürokratien sind zählebig.

22Zit. nach Schölzel: Walther Rathenau, S. 175.

23Zit. nach G. Mann: Walther Rathenau, Praktiker und Philosoph, S. 10.

24Gall: Walther Rathenau – Portrait einer Epoche, S. 157.

25Zit. nach Schölzel: Walther Rathenau, S. 372f.

26Rathenau: Von kommenden Dingen, S. 220.

27Th. Mann: Doktor Faustus, S. 436.

28H. Fürstenberg: Erinnerungen, S. 105.

29G. Mann: Walther Rathenau, Praktiker und Philosoph, S. 12.

30Dieses und die folgenden Zitate finden sich bei Walther Rathenau: Die Organisation der Rohstoffversorgung. Vortrag, gehalten am 20. 12. 1915 vor der Deutschen Gesellschaft.

31Feldman: The Great Disorder, S. 63.

32Sombart: Händler und Helden, S. 4. Die Seitenangaben im folgenden Absatz beziehen sich ebenfalls auf diesen Text.

33Vgl. Diner: Feindbild Amerika. Über die Beständigkeit eines Ressentiments.

Die verpasste Stunde null

Nutze die günstige Stunde, die Zeit sei Dein.

William Shakespeare, »Hamlet«

Während das Kriegsende in London, Paris und New York mit Jubelfeiern und Dankgottesdiensten begangen wurde, kam in Deutschland eine undefinierbare, von Verwirrung gekennzeichnete Stimmung auf. Am 9. November 1918 riefen in Berlin der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann und der Führer des Spartakusbundes, Karl Liebknecht, separat voneinander die Republik aus. Der Rat der Volksbeauftragten hatte die Regierungsgeschäfte übernommen, Kaiser und Thronfolger verschwanden still nach Holland, und mit ihnen hatten die meisten Bundesfürsten abgedankt. Aber war das eine Revolution? Oder eher das Nebenprodukt des militärischen Zusammenbruchs? In der Stadt wurden einige Schüsse abgefeuert, aber Zeitzeugen waren sich nicht sicher, ob es sich dabei wirklich um Kämpfe handelte. Rot beflaggte Autos fuhren wild umher, im Reichstag hatten Marinesoldaten Kontrollposten errichtet. Vielleicht lag die Macht einfach nur auf der Straße, nachdem das alte Regime sich ruhmlos aus dem Staub gemacht und den Umgang mit der Niederlage einem weitgehend unvorbereiteten Parlament überlassen hatte? Der Spuk der Revolution war vorbei, bevor er ernsthaft begonnen hatte, wie Harry Graf Kessler in seinem Tagebuch notierte. »Die Revolution hat vor wenig mehr als 24 Stunden in Berlin begonnen; und schon ist von der alten Ordnung und Armee Nichts mehr übrig. Nie ist das ganze innere Gerüst einer Grossmacht in so kurzer Zeit so vollkommen zerstäubt.« Und weiter: »Liebknecht hat gestern mit zwei Mann das Schloss genommen. In Potsdam ist das Erste Garderegiment kurzer Hand nachhause gegangen. Nur mein Regiment, die Dritten Garde Ulanen, und die Garde Husaren haben Widerstand geleistet.« Die Beamtenschaft stellte sich jedenfalls klaglos in den Dienst der neuen Regierung unter dem Sozialdemokraten Friedrich Ebert. »Alles in Allem war trotz der Schiessereien die Haltung des Volkes in den beiden bisherigen Revolutionstagen ausgezeichnet: diszipliniert, kaltblütig, ordnungsliebend, eingestellt auf Gerechtigkeit, fast durchweg gewissenhaft. Ein Gegenstück zur Opferfreudigkeit im August 1914.«34 Es gab keinen Sturm auf die Banken, wie ein bürgerlicher Zeitgenosse verwundert feststellte, und »Trambahnen und Untergrundbahn gingen wie sonst, das Unterpfand dafür, daß für den unmittelbaren Lebensbedarf alles in Ordnung war. Auf allen Gesichtern stand geschrieben: Die Gehälter werden weiterbezahlt.«35 Gewiss ließen sich einige Hitzköpfe zu sporadischen Schießereien hinreißen, tauchten Nester des Widerstands auf, aber sie verschwanden so schnell wieder, wie sie entstanden waren. In der allgemeinen Erregung ließ sich ohnehin oft genug nicht sagen, wer aus welchem Grunde zu den Waffen griff. Die Vossische Zeitung berichtete von einer sinnlosen Schießerei am Berliner Schloss, und dass dabei ein guter Teil der »Gewehre lediglich aus Erregung und Verwirrung abgefeuert« wurde.36

Auf Berlins Straßen war es zwar nicht »absolut ruhig«, aber es ging an diesem Revolutionssonntag doch so gesittet zu, wie man es sich als Revolutionär nur erträumen konnte. Spontan bildeten Arbeiter und Soldaten in der ganzen Stadt Räte. Die Leitung der Berliner Sicherheitsdienste wurde klaglos in deren Hände übergeben. Das geschah alles so reibungslos, dass die Räte sich nicht einmal genötigt sahen, die bereits geltende Ausgangssperre ab acht Uhr abends (damals noch nicht Lockdown, sondern Polizeistunde genannt) zu verändern.

Am Nachmittag des 10. November fanden die Abgeordneten der Räte im Zirkus Busch zu einer ersten Versammlung zusammen. Hier verkündete Friedrich Ebert, der noch von Prinz Max von Baden, dem letzten Kanzler des Kaiserreichs, zu seinem Nachfolger erklärt worden war, »unter stürmischem Beifall, daß der Bruderstreit zwischen der Sozialdemokratischen Partei und den Unabhängigen begraben worden sei«. Liebknecht als Vertreter der äußersten Linken beschwor ebenfalls den Geist der Einheit. Die Berliner Räte proklamierten daraufhin Deutschland zu einer »sozialistischen Republik«. Der neu zu bildenden Regierung trugen sie auf, nicht nur sofort einen »Waffenstillstand abzuschließen und dem blutigen Gemetzel ein Ende zu machen«, sondern auch die »rasche und konsequente Vergesellschaftung der kapitalistischen Produktionsmittel (…), um aus den blutgetränkten Trümmern eine neue Wirtschaftsordnung aufzubauen, um die wirtschaftliche Versklavung der Volksmassen, den Untergang der Kultur zu verhüten«. Im Geiste der marxistischen Geschichtsphilosophie hielt der Rat Deutschland »nach der sozialen Struktur (…) und dem Reifegrad seiner wirtschaftlichen und politischen Organisation« für entwickelt genug, um gefahrlos den Schritt in die sozialistische Volksrepublik zu tun. Er erwartete in ganz Europa eine ähnliche Umwälzung und »gedenkt mit Bewunderung der russischen Arbeiter und Soldaten, die auf dem Wege der Revolution vorangeschritten sind (…) [und] beschließt, daß die deutsche republikanische Regierung sofort die völkerrechtlichen Beziehungen zu der russischen Regierung aufnimmt«.37 Im Anschluss an die Versammlung trat das neue Kabinett als »Rat der Volksbeauftragten« zusammen, unter der Führung Eberts.

Im übrigen Reichsgebiet spiegelte sich das Berliner Geschehen in lokal abgemilderter Schattierung. In Sachsen erklärten die Räte den König für abgesetzt, nicht aber seine Regierung. In Bayern reiste der Kriegsminister zum König nach Schloss Wildenwart, »um für die Offiziere und Mannschaften eine Entbindung vom Fahneneid zu erreichen«, auch das musste ja geregelt werden. Übrigens arbeiteten die Beamten »auf Ersuchen des Arbeiter- und Soldatenrats weiter. Die Ernährungsverhältnisse sind nicht gestört. Es herrscht Ruhe.« Und über die Situation im Karlsruhe schreibt das Berliner Tageblatt vom 11. November: »Der Großherzog von Baden hat bis heute früh nicht abgedankt. Es scheint vereinbart worden zu sein, eine sofortige Abdankung nicht zu fordern, sondern die Revolution in Baden in geordnete Bahnen weiter zu leiten, um den Übergang nicht allzu schroff zu gestalten. (…). Der frühere Reichskanzler Prinz Max von Baden ist gestern in Karlsruhe eingetroffen. In seiner Begleitung befanden sich der Herzog und die Herzogin von Braunschweig. Der Prinz und seine Gäste wurden am Bahnhof vom Arbeiter- und Soldatenrat mit Hochrufen begrüßt und unter Bewachung ins Schloß geleitet.«38 Lenin habe, sagt man, im Lichte dieser Nachrichtenlage geseufzt, in Deutschland werde es nie etwas mit der Revolution, denn wenn die Deutschen einen Bahnhof stürmen wollten, würden sie sich zunächst eine Bahnsteigkarte kaufen.

Die Aufgaben, die sich im Eingangskörbchen der Revolutionäre fanden, waren gewaltig. Es galt, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten, innerhalb von drei Wochen 6 Millionen Soldaten ins Zivilleben einzugliedern (so war es in den Waffenstillstandsbedingungen vereinbart), die nationalistische Rechte auszuschalten und die radikale Linke einzubinden, das Bürgertum republikanisch umzuerziehen, die drohende Hungersnot durch die fortgeführte alliierte Blockade abzuwehren und nebenher eine verfassunggebende Versammlung und die Friedensverhandlungen mit den Siegern vorzubereiten. Für diese Aufgabe hätte es eines Politikers vom Schlage eines Bismarck oder Churchill bedurft, Männer mit Regierungserfahrung, einnehmendem Charisma, skrupelloser Wendigkeit, einem Gefühl für den richtigen Zeitpunkt, selbstlosem Durchhaltevermögen und einer großartigen Vision für ihr Land. Das politische Personal, welches die Trümmer der alten Ordnung aufklaubte, erwies sich davon aber insgesamt weit entfernt. Die Revolutionäre hatten, wie ein scharfzüngiger Zeitgenosse später formulierte, »wenig klare Vorstellungen von dem, was sie nun eigentlich wollten und wie sie es zustande bringen wollten (es ist schließlich doch nicht nur Pech, sondern auch ein Zeichen mangelnder Begabung, dass sie fast sämtlich binnen eines halben Jahres nach der Revolution abgeknallt waren). Die meisten unter den neuen Machthabern waren verlegene Biedermänner, längst alt und bequem geworden in den Gewohnheiten loyaler Opposition, überaus bedrückt von der unerwartet in ihre Hände gefallenen Macht und ängstlich darauf bedacht, sie so bald wie möglich wieder auf gute Art loszuwerden.«39

Es bleibt ein Kennzeichen dieser Revolution, dass sie stehen blieb, sobald es anfing, interessant zu werden. Die große Umwälzung, das sozialistische Experiment, fand nicht statt. Die Großgrundbesitzer und die Industriellen wurden nicht enteignet, der Staat bekannte sich klaglos zu den Kriegsschulden und wirkte so, als wollte er sein Erbe nur vergessen, nicht aber zerstören. Die Machtergreifung der Bolschewisten in Russland ein Jahr zuvor, die mit der Unterdrückung eines großen Teils der Bevölkerung und der Abschaffung vieler Freiheiten zum Erfolg kam, die dem ohnehin schwachen Prozess der demokratischen Willensbildung und dem Rechtsstaat ein gewaltsames Ende setzte, lud nicht zur Nachahmung ein. Der Moment, in dem nach der Monarchie auch die kapitalistische Ordnung der Wirtschaft hätte zu Grabe getragen werden können, in dem vielleicht staatliche Planer vom Schlage Rathenaus die Leitung der Wirtschaft hätten übernehmen oder in dem kleine, in Kommunen organisierte Einheiten das wirtschaftliche Grundmuster hätten bilden können, dieser Moment verstrich, und der politische Prozess war fortan nicht mehr von harten Entscheidungen, sondern von dem Versuch gekennzeichnet, es allen recht zu machen. Die Arbeiterund Soldatenräte hatten in der Zeit des Interregnums, zwischen Revolution und verfassunggebender Versammlung, die Macht, die Weichen für eine staatliche und wirtschaftliche Ordnung nach ihren Wünschen zu stellen. Aber es sollte demokratisch zugehen, das ganze Volk sollte einbezogen werden, auch das Bürgertum, die Bauern und die Unternehmer. Also entschieden die Räte nichts, was die spätere demokratische Willensbildung vorweggenommen hätte, und es blieb vieles beim Alten.

Ohnehin waren die wirtschaftlichen Grundlagen zu stark erschüttert, um einen weiteren Schock, etwa durch Enteignungen, zu absorbieren. Die neuen Machthaber trieben andere Sorgen um als die Frage, wem welcher Acker gehörte. Höchste Priorität hatte die Abwendung einer Hungersnot, die durch die fortgesetzte Blockade der Alliierten bereits um sich zu greifen begann. In Russland waren kommunistische Ideologen skrupellos genug, um im Namen der reinen Lehre über unzählige Leichen zu gehen. Die deutschen Revolutionäre waren aus anderem Holz geschnitzt. Kurt Eisner, ein friedfertiger, manchmal feinsinniger Revolutionär und seit einer Woche Ministerpräsident des »Bayerischen Volksstaats«, erklärte am 16. November 1918 im »Programm der bayerischen Volksregierung«, warum er sich innerhalb weniger Tage vom sozialistischen Visionär zum Realpolitiker gewandelt hatte, der sich um Wichtigeres zu kümmern hatte, als die Frage des Eigentums an Großindustrie und Banken zu entscheiden: »Wir sprechen in vollkommener Offenheit aus, daß es uns unmöglich scheint, in einer Zeit, in der die produktiven Kräfte des Landes nahezu erschöpft sind, die Industrie in den Besitz der Gemeinschaft sofort überzuführen. Man kann nicht sozialisieren, wenn kaum etwas da ist, was zu sozialisieren ist. Ferner scheint es uns unmöglich, in einem einzelnen nationalen Gebiete der Weltwirtschaft die sozialistische Organisation durchzuführen. Wir glauben also, daß erst nach dem Frieden, wenn der einige Völkerbund der Weltdemokratie sich gebildet hat, der entscheidende Einfluß der in neuer Macht auferstandenen proletarischen Internationale in gemeinsamer Arbeit der Völker der Erde die unerläßliche Sozialisierung durchgeführt werden kann. Wir haben drei große Probleme sozialer Erneuerung bereits zur schnellen Erledigung: den Großgrundbesitz, die städtische Bodenfrage, das Bildungsund Erziehungswesen.«40

So verstrich die Gelegenheit, die Utopie füllte sich nicht mit Leben, es entstand keine grundlegend neue Ordnung. Der Mut zum Sprung in das unentdeckte Land einer wesentlich anderen Zukunft ging, soweit es ihn in nennenswertem Maße gegeben hatte, verloren. Das Militär hatte den Krieg, aber nicht sein Ansehen verloren. Der Adel hatte sein Ansehen, aber nicht seine Güter verloren. Das Bürgertum konnte unbehelligt seinen Geschäften nachgehen. Die Arbeiterschaft gab sich damit zufrieden, dass das Land nun von Sozialdemokraten regiert wurde. So bekam jeder, worauf er den größten Wert legte, war den Umständen entsprechend zufrieden und die Lage blieb ruhig.

Wenn es innerhalb des kleinen Zirkels der bedeutenden deutschen Wirtschaftsführer einen Mann gab, der das Gegenteil von Walther Rathenau darstellte, der nichts Schöngeistiges verkörpern und nichts mit Malerei oder Literatur oder Philosophie zu tun haben wollte, so war es Hugo Stinnes. Stinnes war ein Händler und wollte nie etwas anderes sein, der großartigste Händler seiner Zeit, ein Unternehmer, der den Handel fast zur Kunstform erhob. Händler unterscheiden sich darin von Handwerkern, dass es ihnen weitgehend egal ist, was und mit wem sie handeln; sie unterscheiden sich von Industriellen durch ihren unsentimentalen Umgang mit Traditionen und Denkmustern, wie sie sich zwangsläufig in jede große Organisation einprägen; und sie unterscheiden sich von den reinen Geldleuten, den Bankiers, Finanziers und bloßen Spekulanten, da sie das Risiko so weit wie möglich meiden, beim Kauf der Ware schon den Verkauf fest im Blick haben und sich mit Krediten niemals wohl fühlen. Sie denken in Zyklen und vertrauen dabei eher auf Erfahrung als auf theoretische Überlegung. Ihr Geschäft lebt von den Gezeiten der Märkte, als wären sie Fischer guter Preise. Sie müssen unsentimentale Realisten sein, jederzeit bereit, lieb gewonnene Überzeugungen zu ändern, wenn es die Umstände verlangen. In der Seele eines Händlers sind die gegenwärtigen Verhältnisse alles, die gestrigen nichts, denn vor dem Markt sind alle Thesen und Theorien gleich gültig und am Ende zählt nur der Gewinn. Er liebt die großen Bewegungen im Markt, die möglichst lange profitabel sind, aber er würde sich ihnen niemals verschreiben. Händler leben von ihrem Gespür für ihre Märkte und dem Mut, entsprechende Positionen einzugehen und von der Geschwindigkeit, mit der sie sich wieder von ihnen trennen. Nur ein Händler wie Stinnes konnte später der König der Inflation werden.

Hugo Stinnes, Jahrgang 1870, kam aus einer etablierten, aber keineswegs hervorragenden Kaufmannsfamilie aus Mülheim an der Ruhr, die sich mit einem Handelshaus einen Namen gemacht hatte, sowie als Betreiber von Gruben und einer Flotte von Lastkähnen, mit denen die Kohle zu den Hochöfen der im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts auch in Deutschland voll einsetzenden Industriellen Revolution geschafft wurden. Sein Vater starb früh und hinterließ seiner Familie ein schwieriges, zersplittertes Erbe in Form eines Anteils an der nach dem Großvater benannten Mathias Stinnes KG, in welcher die Aktivitäten der weiteren Familie gebündelt waren. Die Firma befand sich in finanziellen Schwierigkeiten, als Hugo dort im Alter von zwanzig Jahren nach einem kurzen, aber leidenschaftlichen Studium des Bergbaus und der Chemie eintrat. Sie wurde mehr schlecht als recht von einem Vetter geführt, der keinerlei Anstalten machte, seinen Platz für den jungen und bei allem Mangel an Erfahrung besonders rechthaberischen Hugo zu räumen. Dieser überzeugte also seine Mutter davon, 1893 ihr Kapital aus der Familienfirma abzuziehen und in die geschäftlichen Aktivitäten ihres Sohnes zu investieren. Das war der Startschuss für ein Unternehmen, welches dreißig Jahre später mit 600.000 Mitarbeitern der größte Arbeitgeber Deutschlands werden sollte.

Stinnes war findig und erfolgreich genug, um bald im Kohlesyndikat Aufnahme zu finden. Da sein Wesen von ungeduldiger Herrschsucht charakterisiert war, ertrug er Gruppenveranstaltungen wie die Syndikate nur genau so weit, wie sie ihm einen unmittelbaren Nutzen brachten. Bald verstand er es, sie meisterhaft zu unterlaufen, indem er das Konzept der Vertikalisierung erfand –, das man später mit unterschiedlichen Graden der Bewunderung und des Abscheus »Verstinnesierung« nannte. Darunter verstand man die Praxis, eine ganze Wertschöpfungskette unter einem Dach zu vereinen – denn warum sollte man fremde Dritte für etwas bezahlen, das man ebenso gut auch selbst leisten konnte? Ein Kohleproduzent konnte nicht nur eine Flotte von Kähnen betreiben, sondern auch die für den Warenumschlag nötigen Häfen betreiben. Und warum bei Produktion und Transport stehen bleiben, wenn man für die Kohle auch selbst Verwendung fand? Also stieg Stinnes in die Eisenverhüttung ein, in die Gewinnung von Metall aus Erz. Kohle wurde zunehmend auch für die Erzeugung von Elektrizität genutzt, die damals rasend schnell Verbreitung fand. Also gründete Stinnes (mit anderen Unternehmern) das Rheinisch-Westfälische Elektrizitätswerk (RWE), das bis heute den Westen Deutschlands mit Strom versorgt. Nun, wenn man seine Kohle mit seinen Kähnen schon in sein Elektrizitätswerk schaffte, so lag es nahe, auch die Anwendungen der Elektrizität sein Eigen nennen zu wollen. Also kaufte Stinnes Nahverkehrsbetriebe, deren Straßenbahnen große Stromabnehmer waren. Und so weiter. Kaum ein technisches Gewerbe war vor diesem vollständig humorlosen Menschen sicher, ebenso wenig wie Hotels, Hochseedampfer, … kurz, kein Unternehmen, das im weiteren Sinne Energie verbrauchte.

Nicht jedem Menschen war es gegeben, einen Konzern aufzubauen. Stinnes brachte vier Eigenschaften mit, die ihm sein Werk ermöglichten. Erstens hatte er ein überragendes Gespür für den Markt, für die Situation seiner Konkurrenten, seiner Zulieferer und Abnehmer. Er wusste die Konjunktur erstaunlich präzise auf ein oder zwei Jahre hinaus vorherzusagen und richtete seine Unternehmenskäufe und Investitionen entsprechend ein. Er wusste, wann ein Unternehmen günstig zu haben war, wann es galt, die Halden aufzubauen oder zu räumen. Zweitens verfügte er über ein tiefes technisches Verständnis. Er hatte nicht nur Bergbau und Chemie studiert, er las zeitlebens naturwissenschaftliche und technische Journale, um auf dem Laufenden zu bleiben. Ihm entging keine technische Neuerung, und er erkannte einen damit verbundenen Nutzen sofort. Drittens war er ein genialer Sanierer, der sich schnell in ein neues Unternehmen, seine Produkte und Abläufe eindenken konnte und die Konsequenz mitbrachte, die nötigen Änderungen durchzuziehen. Und viertens bekam Hugo Stinnes immer Kredit.

Um an das nötige Geld für die Firmenkäufe zu kommen, waren erhebliche Geldmittel nötig. Seine eigenen, immer etwas schmalen Ressourcen standen nie in einem guten Verhältnis zu seinen gewaltigen Ambitionen, und da er darüber hinaus auch stets sorgsam darauf bedacht war, die Risiken für das eigene Vermögen so gering wie möglich zu halten, sah er sich auf fremdes Geld angewiesen. Dies erhielt er reichlich und gern von den großen Banken, in deren Vorständen er jeweils einen Mann seines Vertrauens sitzen hatte, mit dem er sich unkompliziert und schnell über die zu beschaffenden Mittel verständigen konnte. Stinnes war realistisch genug, um zu wissen, wann er seine Kredite reduzieren musste (etwa indem er Anteile an seinen Unternehmen an Minderheitsgesellschafter verkaufte, solange sich dafür gute Preise erzielen ließen), und baute sich so über die Jahre den Ruf höchster Kreditwürdigkeit auf. Er wusste aber auch, dass dies ein sehr persönlicher Kredit war, ein Glaube an seinen, Hugo Stinnes, meisterlichen Umgang mit geliehenem Geld. Aus dem guten Kredit konnten schnell drückende Schulden werden, auch das wusste der Kaufmann aus Mülheim, und er ging mit jeder finanziellen Zusage äußerst vorsichtig um, um nicht das auf eben diesem Glauben an ihn, Hugo Stinnes, gegründete Konglomerat zu gefährden.

Auf diese Weise hatte Stinnes ein Unternehmensgeflecht aufgebaut, das bei Kriegsbeginn bereits zu den mächtigsten im Land zählte. Er hatte es verstanden, seine Interessen mit denen des Staates zu verbinden und dadurch eine kaum angreifbare Marktstellung zu erlangen. Konkurrenz musste er ohnehin dank seines Zugriffs auf billiges Geld und billige Rohstoffe selten fürchten. So boten sich ihm bald auch viele Unternehmen zum Kauf an und es wurde von kaum einem berichtet, mit dem er nicht handelseinig geworden wäre. Stinnes machte Angebote, die man nicht ablehnen konnte. Und wer doch den Mut fasste und sich nicht kaufen ließ, wurde gewöhnlich mit Macht aus dem Markt gedrängt.

Im vierten Quartal 1918 hatte Hugo Stinnes alle Hände voll damit zu tun, die Revolution mitzugestalten. Irgendwann im August oder September war ihm klar geworden, dass der Krieg verloren war. Er schüttelte sich kurz, verabschiedete sich von den großdeutschen Plänen, die er lange unter dem Einfluss des Generalquartiermeisters Ludendorff gehegt hatte, und war sofort wieder ganz Geschäftsmann. Es galt nun, seine Betriebe von der Kriegs- auf die Friedensproduktion umzustellen. Stahlhelme und Granaten würden für eine Weile kaum noch nachgefragt werden, Investitionen in die vernachlässigte Infrastruktur und die veralteten Maschinen dafür umso mehr. Die Umstrukturierung der Wirtschaft sowie die Demobilisierung von Millionen von Soldaten würden kurzfristig für einen gewaltigen Überhang an Arbeitskräften sorgen. Allein in der Granaten- und Zünderproduktion würden etwa eine Million Arbeitsplätze wegfallen.41 Bereits Anfang Oktober 1918, fünf Wochen vor der Waffenstillstandsvereinbarung, begannen zwischen Regierung und Wirtschaft (vertreten durch Hugo Stinnes und seine Vertrauten) Gespräche, wie der Übergang zu organisieren war.

Ebenso klar sah Stinnes, dass die Monarchie am Ende und eine sozialistische Regierung unausweichlich war. Seine Unternehmen schwebten in der akuten Gefahr, verstaatlicht zu werden. Selbst wenn sie in Privatbesitz blieben, würden die Gewerkschaften in Zukunft eine deutlich größere Verhandlungsmacht haben. Er suchte daher, ebenfalls im Oktober, den Kontakt zu den anderen tonangebenden Industriellen (insbesondere Walther Rathenau, Carl Friedrich von Siemens, Alfred Hugenberg und Hans von Raumer), um eine einheitliche Linie für den unvermeidlichen Ausgleich mit den Arbeitnehmern zu finden, bevor eine neue Regierung das Heft in die Hand nehmen würde. Auf Gewerkschaftsseite fanden die Industriellen in Carl Legien einen Verhandlungspartner, der als Reichstagsabgeordneter und Vorsitzender des internationalen Gewerkschaftsbundes viel Erfahrung und genügend politisches Gewicht mitbrachte, um eine Einigung im eigenen Lager durchsetzen zu können. Legien, gelernter Drechsler, war ein alter Haudegen der Arbeiterbewegung, er hatte 1889 am Gründungskongress der Sozialistischen Internationale in Paris teilgenommen und war seit 1890 Vorsitzender der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands. 1918 war er ein alter Mann, schon lange kein ideologiegeladener Feuerkopf mehr, ein pragmatischer Gewerkschafter, dem das Wohlergehen der Arbeiter in den Betrieben wichtiger war als die Eigentumsfrage.

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