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Georg Langenhorst
Toter Chef – guter Chef
Mord im Domgymnasium
Kriminalroman
Georg Langenhorst
Toter Chef – guter Chef
Mord im Domgymnasium
Kriminalroman
echter
Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären reiner Zufall und sind auf keinen Fall beabsichtigt. Auch unmittelbare Bezüge zu real existierenden Institutionen oder Orten entbehren jeglicher Absicht.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.
1. Auflage 2018
© 2018 Echter Verlag GmbH, Würzburg
Umschlag: wunderlichundweigand.d
Coverfoto: © chiradech/thinkstock
Lektorat: Monika Thaller
Satz: Crossmediabureau – xmediabureau.de
E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim – www.brocom.de
ISBN
978-3-429-05318-5
978-3-429-04999-7 (PDF)
978-3-429-06409-9 (ePub)
Folgende Personen treten auf
Teresa Andernach, Schülersprecherin
Torsten Bedlinger, Oberstudienrat
Saskia Blum, Chefsekretärin
Peter Brändel, Polizeihauptmeister
Elmar Maria Brandtstätter, Professor für Pastoraltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät
Dr. Franz Joseph Breskamp, Prälat, Leiter der bischöflichen Schulabteilung
Thomas Brox, Studiendirektor, Mitarbeiter im Direktorat
Sandra Friesinger, Studienrätin
Dr. Bertram Geißendörfner, Oberstudiendirektor, Schulleiter
Thea Geißendörfner, Witwe
Monika Höffgen, Oberstudienrätin in Nürnberg
Bogdan Kaminski, Hausmeister
Dr. Werner Jacobs, Polizeipräsident
Beate Kellert, Steuerfachfrau
Bernd Kellert, Kriminalhauptkommissar
Hannah Mellrich, Polizeikommissariats-Anwärterin
Kathrin Prestele, Doktorandin an der Katholisch-Theologischen Fakultät
Lilli Schildbach, Studiendirektorin im Ruhestand
Ulrich Schongauer, Pfarrer und Studiendirektor, Mitarbeiter im Direktorat
Dominik Thiele, Kriminalhauptmann
Verena Thiele, Studienrätin z. A.
Ingrid Wiesmüller, Studendirektorin, stellvertretende Schulleiterin
Lena Winter-Drexler, Kommissariats-Sekretärin
und viele mehr
Ende
„Nein! Die Sache ist erledigt. Ein für alle Mal. Das ist mein letztes Wort. Endgültig!“ Verärgert, aber fest entschlossen schob Oberstudiendirektor Dr. Bertram Geißendörfner sein Handy in die Lenkertasche seines Fahrrads. Er sollte recht behalten. Tatsächlich, das waren seine letzten Worte. Ohne dass er es ahnen konnte. Und anders, als er es gemeint hatte.
Er schob sein Fahrrad aus dem Unterstand, wo er vor dem niederprasselnden Regenschauer Schutz gesucht hatte, zurück auf den schmalen Gehweg. Dunkel gleißte die nasse Fahrbahn. Pfützen spiegelten wacklige Bilder der wenigen, in weitem Abstand aufgestellten Straßenlaternen. Dienstags abends um halb neun waren kaum Fahrzeuge unterwegs.
‚Immerhin bleibt es mir erspart, von vorbeifahrenden Autos nassgespritzt zu werden‘, dachte der achtundfünfzigjährige Direktor des weit über Friedensberg hinaus angesehenen KaRaGe, des Karl-Rahner-Gymnasiums. Er schnürte das Regencape über den Helm, den er für das Gespräch nicht abgesetzt hatte, schlug den durchsichtigen Regenschutz wie zuvor über sich selbst, den Lenker und den Sattel seines Rades und fuhr auf die Fahrbahn, die ihn die drei Kilometer nach Hause führen sollte.
Bei Wind und Wetter nahm er das Fahrrad. „Das hält mich wenigstens ein bisschen in Bewegung“, erklärte er seiner Frau Thea jedes Mal, wenn sie ihn bei allzu widrigen Verhältnissen bat, doch wenigstens ausnahmsweise einmal das Auto zu nehmen.
‚Unfassbar, diese Dreistigkeit!‘, ging es ihm durch den Kopf, während er langsam durch die frühnächtliche Dunkelheit radelte und dabei versuchte, wenigstens den größten Pfützen auszuweichen. Ein wohltuender Rückenwind trieb ihn mit leichten Böen voran. Sie klatschten ihm freilich Regenguss um Regenguss auf den Rücken. Märzwetter! Er war noch ganz in Gedanken. Das Telefongespräch ging ihm nach. Die leidige Angelegenheit hatte ihn nicht nur ganz allgemein Monate, sondern heute noch einmal viele Stunden des Nachmittags und des frühen Abends gekostet. So spät beendete er seinen Dienst sonst nie. Und ihn dann noch auf dem Heimweg per Handy anzurufen!
Ein Scheinwerferkegel tastete sich langsam von hinten auf ihn zu. ‚Mist, doch ein Auto!‘, dachte er. ,Hoffentlich fährt der wenigstens in großem Bogen um mich herum. Platz genug ist ja da.‘ Das Fahrzeug kam langsam näher. Die Person am Steuer schien es nicht besonders eilig zu haben. Oder angesichts der Wetterbedingungen besonders vorsichtig zu fahren. ‚Gut so‘, lobte Bertram Geißendörfner in Gedanken. Einmal Lehrer, immer Lehrer. Das Verteilen von Zensuren wird man nicht los. Das geht über in Fleisch und Blut. Misslungen oder bestanden. Mittelmaß oder Exzellenz. Lob und Tadel.
Plötzlich heulte der Motor laut auf. Das Auto setzte mit einem gewaltigen Sprung nach vorn und schoss auf das Fahrrad zu. Geißendörfner wollte sich umdrehen, um zu verstehen, was da los war, doch dazu kam es nicht mehr. Mit voller Wucht knallte die Stoßstange des PKW an das Hinterrad seines Fahrrads und schleuderte es weit über den glänzenden Asphalt nach vorn. Der Fahrer wurde abgeworfen, überschlug sich zweimal, rutschte über die regennasse Fahrbahn und blieb zuckend liegen.
Geißendörfner hatte den Sturz überlebt. Wie in einem Film nahm er die völlig unwirklichen Bildschnitte wahr, die sich ihm darboten. Kein Schmerz. Kein Bewusstsein von dem, was vor sich ging. Doch! ‚Gut, dass du deinen Helm aufhast!‘, schoss es ihm durch den Kopf, seltsamerweise verbunden mit der Stimme von Thea, seiner Frau.
Bevor er weiterdenken konnte, wurden die Bilder noch unwirklicher. Das Auto war stehen geblieben. Die Person am Lenkrad setzte jetzt zurück, aber nicht, um ihm zu helfen. Tempo aufnehmend überrollte ihn das Fahrzeug ein zweites Mal, dann ein drittes und viertes Mal. Da half kein Helm. Als träges, verrenktes Bündel blieb der Körper Bertram Geißendörfners auf der nassen Straße zurück. Sein Kopf lag in überdehntem Winkel halb in einer schwarzglänzenden Wasserlache, deren Wirbel sich langsam beruhigten, immer wieder neu durchbrochen von aufspritzenden Regentropfen. Nein, nicht sein Körper lag da, sondern sein Leichnam.
Das Auto setzte ein letztes Mal zurück und blieb einige Meter hinter dem Menschenbündel stehen. Die Frontscheinwerfer tauchten das Szenario in ein unwirkliches Licht. Die Fahrertür öffnete sich einen Spalt breit. Wer immer hinausspähte: Er oder sie war offensichtlich zufrieden mit dem Ergebnis. Mit einem lauten Ruck wurde die Tür ins Schloss gezogen. Wieder heulte der Motor laut auf und der Wagen schoss davon. Kleiner und kleiner wurden die roten Rücklichter, es blieb nur das Brausen des Regens und das Heulen der Sturmböen.
1.
„Nein, definitiv kein Verkehrsunfall!“ Dr. Werner Jacobs war seit sechzehn Jahren Polizeipräsident von Friedensberg, zuständig für den ganzen Landkreis. In fünf Jahren würde er in den Ruhestand gehen, aber diese Perspektive lähmte seinen Arbeitseifer in keinster Weise. Friedensberg hatte eine der höchsten Aufklärungsquoten in Deutschland, darauf war er stolz. Und das sollte sich unter seiner Ägide auch nicht mehr ändern.
Mittwochmorgen, acht Uhr dreißig. Jacobs hatte einige Mitarbeiterinnen und Kollegen zu einer Dienstbesprechung in seinem nüchtern-zweckmäßig eingerichteten Büro versammelt. Er fuhr fort: „Erst dachten wir das natürlich auch. Ein Unfall bei Regen und Dunkelheit. Tragisch, aber nichts, womit wir uns befassen müssten. Aber dann …“ Er nickte Polizeihauptmeister Peter Brändel wortlos zu. Brändel war am gestrigen Abend als zuständiger Polizist am Tatort gewesen.
„Kein schöner Anblick, liebe Kollegen und“ – Brändel beugte sich demonstrativ zur Kommissariats-Sekretärin Lena Winter-Drexler und zu einer jungen Polizistin, die unauffällig am Rande der Tischrunde saß – „Kolleginnen. Das Opfer wurde mindestens dreimal überrollt. Ohne Frage vom selben Fahrzeug. Von hinten und von vorn. Das war Absicht! Böse Absicht!“
„Außerdem“, mischte sich sein Chef wieder in das Gespräch, „haben wir das Auto ja gefunden …“ Wieder ließ er den Satz ausklingen und blickte auffordernd zu seinem Mitarbeiter. Alle im Raum kannten diese Art von Impulsen. So war nun einmal der Kommunikationsstil ihres Präsidenten. So war er, der Dr. Jacobs. Wenn man ihn kannte, konnte man gut mit ihm auskommen.
Polizeihauptmeister Peter Brändel war seit mehr als elf Jahren im Dienst. Er wusste, was von ihm erwartet wurde, schluckte die Unterbrechung hinunter und ergriff wieder das Wort: „Genau, das Tatfahrzeug stand drei Straßen weiter, in der Sackgasse beim Priesterseminar. Kellert, Sie kennen sich da ja aus. Der Motor lief noch, Licht eingeschaltet, Zündschlüssel im Schloss, Fahrertür weit offen, von Insassen natürlich keine Spur …“
Wieder unterbrach ihn der Polizeipräsident: „Das werden wir ja noch sehen!“ Seine Mitarbeiter schauten ihn fragend an, deshalb erklärte er: „Na, ob es von den Insassen wirklich keine Spur gibt. Die KTU hat sich das Auto längst vorgenommen. Die werden schon etwas finden. Dann wissen wir mehr.“
Kommissar Bernd Kellert, zuständig für Verbrechen gegen Leib und Leben bei der Kriminalpolizei von Friedensberg, schaute skeptisch. Das entging auch seinem Chef nicht. „Oder, Herr Kellert? Sind Sie anderer Ansicht?“
„Nichts dagegen, wenn die etwas finden. Am liebsten gleich die entscheidende Spur zum Täter. Aber ich fürchte, das wäre zu schön, um wahr zu sein“, entgegnete der hochgewachsene, kurzgeschorene immer noch sportlich-drahtig wirkende Fünfzigjährige nur. „Ob uns das wirklich weiterhilft, werden wir sehen. Ich bin skeptisch.“
„Skeptisch hin oder her, es ist jedenfalls Ihr Fall!“, raunte Dr. Jacobs Kellert zu. „Und heikel, das wissen Sie ja. Meine Güte, Bertram Geißendörfner, der Chef vom KaReGe, vom Domgymnasium, der ist hier natürlich bekannt wie ein bunter Hund. Mitglied im Stadtrat, in vielen Vereinen, beim Rotary Club. Wir brauchen eine rasche Aufklärung. Und diskret. Die Presse rennt mir ja jetzt schon die Bude ein.“
Kellert nickte bitter. Tolle Arbeitsbedingungen! Aber er konnte es sich natürlich nicht aussuchen. „Wer hat das Opfer gefunden?“, fragte er betont sachlich. „Eine ältere Dame aus der Nachbarschaft, die noch spät ihren Hund ausführte, trotz Wind und Wetter“, antwortete Brändel nach einer fast unmerklichen Geste seines Vorgesetzten. „Aber die hat von dem Vorgang selbst nichts mitgekriegt. Und einen schweren Schock erlitten. Von der werden Sie kaum hilfreiche Informationen erhalten, Herr Kommissar.“
Peter Brändel sprach Kollegen, die in der Polizei-Hierarchie über ihm standen, grundsätzlich ‚per Sie‘ an. Kellert hatte ihm über die langen Jahre der gelegentlichen Zusammenarbeit mehrfach das eigentlich übliche ‚Du‘ angeboten, aber der Polizeihauptmeister hatte es immer wieder ausgeschlagen. Nun waren sie an diese Form der Anrede gewöhnt. „Weiß man denn, wem der Wagen, also das Tatfahrzeug, gehörte?“, mischte sich Kellerts Mitarbeiter, Kriminalhauptmann Dominik Thiele, in das Gespräch ein.
Peter Brändel blickte zum Polizeipräsidenten. Der gab ihm erneut ein kaum wahrnehmbares, zustimmendes Signal, dann erst antwortete der Polizeihauptmeister: „Klar. Das haben wir selbstverständlich als Erstes gecheckt. Irgendeine alte Kiste, ein Toyota. Gehört einem der Lehrer des Gymnasiums. Der benutzt es aber wohl fast nie. Es steht auf dem Lehrerparkplatz herum, immer am gleichen Platz. Und der Schlüssel liegt offen auf seinem Arbeitsplatz im Lehrerzimmer. Den kann jeder nehmen. Und darf das auch. So ist das da wohl üblich.“
Er blickte kurz in sein Notizbuch, las dann daraus vor: „‚Wenn du mal schnell ein Auto brauchst, nimmst du den alten Toyota vom Torsten. So haben wir das alle gemacht.‘ Sagt eine seiner Kolleginnen, mit der ich gestern Abend noch gesprochen habe.“ Kellert blickte ihn fragend an. Dieses Mal antwortete der Polizeihauptmeister direkt: „Da war Lehrersport, im Gymnasium. Volleyball. Da habe ich zwei der so spät noch anwesenden Kolleginnen sprechen können.“
Kellert nickte. „Und … Torsten?“ Brändel antwortete sofort: „Torsten Bedlinger. Mathelehrer. Muss ein ziemliches Original sein, wenn ich das richtig verstanden habe.“ Kellert zuckte zusammen: „Der Bedlinger!? Ach je, wenn das wirklich der ist …“ Nun schauten die Kollegen ihn fragend an. Auch Dr. Jacobs.
„Eine meiner Nichten, Julia, hatte zwei Jahre lang bei dem Unterricht. Und der ist, wie sie sagte, ein unglaublicher Chaot. ‚Total verpeilt‘, so hat sie den beschrieben. Pädagogisch völlig unfähig. Einmal hat er kurz vor den Sommerferien einen Klausurtermin schlicht und einfach vergessen. Die Schüler mussten die Arbeit an einem Samstag nachschreiben. Die waren vielleicht begeistert! Wegen dem hat Julia nie einen Zugang zu Mathe gefunden.“ Er überlegte: „Gut, zumindest auch wegen dem. Aber über den hat man schon die ein oder andere Story gehört. Pfff. Na ja, solche Lehrer gibt es an jeder Schule …“
„Wie dem auch sei“, unterbrach Polizeipräsident Dr. Jacobs seinen Kommissar, der eigentlich kein Mann der langen Rede war. „Sie werden sich an der Schule umhören müssen, Kellert. Am Domgymnasium. Und das Privatleben von Dr. Geißendörfner durchleuchten. Und seine Verbindungen hier in Friedensberg!“, zählte der Dienststellenleiter die anstehenden Aufgaben auf. Als ob Kellert das nicht alles wüsste. „Los, Dominik, auf!“, grimassierte er in Richtung seines Mitarbeiters.
Kriminalhauptmann Dominik Thiele druckste herum, zögerte, tappte verlegen von einem Fuß auf den anderen. Seltsam, das entsprach nicht seinem normalen Verhalten. Kellert schaute ihn verwundert von der Seite an. Beim Verlassen des Dienstzimmers stammelte Thiele: „Äh, Chef!?“
„Ja?“, fragend blickte Kellert seinen Mitarbeiter an. Nach mehr als vierjähriger Zusammenarbeit kannten sie sich gut, waren menschlich und dienstlich ein bestens eingespieltes Team. „Was ist denn los?“, fragte er, als er bemerkte, dass sein Mitarbeiter nicht recht mit der Sprache herausrücken wollte. Schließlich rang dieser sich doch die Frage ab: „Kann ich vielleicht andere Arbeiten übernehmen? Ich würde nur höchst ungern da im KaRaGe auftreten.“ Bernd Kellerts Verblüffung stieg. „Warum das denn?“, fragte er irritiert nach.
Dominik Thiele, ein sportlicher, durchtrainierter, normalerweise keineswegs wortkarger Mittdreißiger, noch etwas größer als sein Chef, suchte sichtlich nach Worten. „Weil die Ena da doch jetzt unterrichtet! Wie sieht das denn aus, wenn ich als ihr Ehemann da herumschnüffele? Sie hat doch auch nur einen Jahresvertrag. Ich will ihr da nichts kaputtmachen …“
Richtig! Bernd Kellert tippte sich mit den Fingerspitzen der rechten Hand an den Kopf. Dominik Thiele hatte letztes Jahr geheiratet. Und seine Frau Verena hatte am KaRaGe ihr Referendariat absolviert, aber dann trotz glänzender Examensnoten im ganzen Bundesland keine Planstelle gefunden. So war das zurzeit. Die Kultusministerien stellten einfach keine Gymnasiallehrer ein, auch wenn an den Schulen durchaus Bedarf bestand. Bestens qualifizierte Leute standen auf der Straße, zogen in ein anderes Bundesland, wo es Jobangebote gab, oder hielten sich mit Übergangsverträgen über Wasser.
So auch Verena. Über ihren Mann war sie mehr oder weniger an den Raum Friedensberg gebunden. Aber ihre Noten waren so gut, dass sie darauf hoffen konnte, früher oder später doch noch hier verbeamtet zu werden. Sie hatte sich so gut in das KaRaGe eingebracht, dass man ihr eine Perspektive aufzeigen konnte. Zunächst hatte sie einen Zeitvertrag über eine Dreiviertelstelle erhalten, daraus sollte aber möglichst bald mehr werden.
„Hm, das kann ich verstehen“, brummte Kellert nach längerem Nachdenken. „Das wäre wirklich eine ungute Rollenkollision. Ehemann einer Kollegin der zu Befragenden und gleichzeitig ermittelnder Kriminalbeamter vor Ort? Nein, das geht nicht. Aber was sollen wir tun? Ich brauche dich da!“
„Ich könnte ja alle Hintergrundrecherchen übernehmen. Und Gespräche außerhalb der Schule führen. Und an das KaRaGe nimmst du die Hannah mit!“, schlug Thiele vor. „Hannah?“ Kellert blickte verwundert. „Na, Hannah, Frau Mellrich, die PKA!“, entgegnete Thiele. Richtig, seit zwei Wochen war Hannah Mellrich ihnen als Polizeikommissars-Anwärterin zugeteilt worden. Furchtbares Wort. Aber so war nun einmal das Beamten-Deutsch. Sie war bei der von Dr. Jacobs anberaumten Besprechung als zweite Frau mit im Raum gewesen, hatte sich aber völlig ruhig verhalten.
Kellert hatte sie bislang eher ignoriert, hatte kaum mit ihr gesprochen. Offensichtlich im Gegensatz zu Thiele, der sie bereits beim Vornamen nannte. Klar, sie war hübsch und jung. Kellert selbst war die Zusammenarbeit mit Kolleginnen nur wenig vertraut. Sicherlich, mit der Kommissariats-Sekretärin Lena Winter-Drexler kam er bestens aus, aber sie war ja auch eher eine Zu- als eine Mitarbeiterin. Doch im täglichen Zusammenspiel der Alltagsarbeit? Ob das funktionieren könnte?
‚Bernd, alter Chauvi‘, hörte er plötzlich die Stimme seiner Frau Beate. Sie waren schon so lange verheiratet, mehr als fünfundzwanzig Jahre, dass er sich ihre Worte und den Tonfall sofort vorstellen konnte. Als würde er ihre Stimme tatsächlich hören. Er seufzte. „Okay, so machen wir das. Es gefällt mir zwar nicht, aber was soll’s? Ich frage Frau Mellrich, ob sie mich begleitet, du bleibst im Hintergrund.“
Kellert strich sich nachdenklich über das glattrasierte Kinn. „Vielleicht kann uns Verena ja sogar den ein oder anderen Hinweis geben. Sie kennt die Schule von innen. Das kann sich als großer Vorteil erweisen. Den wir auf keinen Fall aufs Spiel setzen wollen. Also: Zumindest versuchen wir es so! Du bleibst im Gymnasium außen vor. Ungewohnt wird das für mich schon, ohne dich.“
Der Kommissar schmunzelte. „Ja, so ist das: Ich habe mich gut an unsere Teamarbeit gewöhnt“, grinste er seinen Mitarbeiter an. „Aber versprechen kann ich nichts. Wenn es nicht anders geht, musst du dann eben doch mit ans KaRaGe!“ Kellert überlegte kurz und legte sich dann fest: „Heute übernimmst du jedenfalls die Familie von diesem Dr. Geißendörfner. Er war verheiratet, das weißt du ja. Das wird also nicht ganz einfach.“
2.
Ruhig, zügig und sicher steuerte PKA Hannah Mellrich den Dienst-BMW durch die engen Straßen der Friedensberger Innenstadt. Nicht ganz so souverän fühlte sie sich. Endlich hatte der für sie zuständige Kommissar sie einmal direkt angesprochen. Aber er war ihr nicht ganz geheuer, dieser Bernd Kellert. Schweigsam ihr gegenüber. Und ruppig, vielleicht aus Unbeholfenheit. Dass er mit Dominik Thiele bestens harmonierte, hatte sie in den zwei Wochen auf der Dienststelle bereits mehrfach beobachten können. Aber sie selbst hatte er einfach ignoriert. Sie konnte sich auf sein Verhalten ihr gegenüber keinen rechten Reim machen.
Aber jetzt waren sie zu zweit unterwegs: Hannah Mellrich, siebenundzwanzig Jahre alt, kurzer blonder Haarschnitt, ehrgeizig, und er: der Fünfzigjährige, Erfahrene, Unnahbare. „Überlassen Sie mir das Reden!“, ermahnte er sie, während sie in die hohen Vorhallen des KaRaGe eintraten. Sie nickte. Aber was sollte sie dann hier? Kellert bemerkte ihre unausgesprochene Frage, schmunzelte kaum merklich und fügte hinzu: „Aber ich brauche Ihre Beobachtungen. Schauen Sie genau hin! Hören Sie auf die Zwischentöne! Nichts darf uns entgehen. Sie wissen schon: Vier Augen sehen mehr, vier Ohren hören mehr.“ Das klang schon besser.
Die seit etwas mehr als zwanzig Jahren Karl-Rahner-Gymnasium genannte Schule war das traditionsreichste Gymnasium vor Ort. Jahrhundertelang hatte es nur ‚das Domgymnasium‘ geheißen. Ältere Bürger von Friedensberg nannten es immer noch so. Jüngere meistens bei der Abkürzung KaRaGe. Von den Jesuiten kurz nach der Reformation gegründet, hatte hier in fast fünf Jahrhunderten die Bildungselite Friedensbergs ihre schulische Ausbildung erhalten. Bis in die 1970er Jahre war die Schule ausschließlich männlichen Schülern vorbehalten gewesen.
Seitdem gab es auch Schülerinnen. Vieles hatte sich allein dadurch geändert. Früher war man stolz darauf, immer wieder Abiturienten an das nahe Priesterseminar weiterzureichen. Ungezählte Friedensberger Priester und fünf Bischöfe waren zuvor Schüler am Domgymnasium gewesen. Heute stand das Gymnasium immer noch unter kirchlicher Trägerschaft. Aber das religiöse Leben prägte die Schule nur noch zu einem geringen Teil, so wie Religion insgesamt immer weniger Bedeutung für das Leben der Menschen hatte. Trotzdem: Das KaRaGe, das Domgymnasium, hatte immer noch einen ausgezeichneten Ruf. Weit über Friedensberg hinaus.
„Wir haben einen Termin im Direktorat“, erklärte Kellert, aber das wäre nicht nötig gewesen. Eine junge Frau hatte sie am Haupteingang des Gymnasiums erwartet. Neben ihr stand schweigend der an seinem Blaumann unschwer erkennbare Hausmeister, ein hochgewachsener, kräftiger älterer Mann mit großem, buschigen Oberlippenbart. ‚Das Gesicht kenne ich doch irgendwoher‘, dachte Kellert. ‚Zumindest erinnert es mich an jemanden, den ich kenne. Aber an wen?‘
„Svenja Kaiser“, hatte sich die junge Frau vorgestellt und „Deutsch und Englisch“ hinzugefügt, als markiere das ihre Persönlichkeit. ‚Kaum älter als Jenny!‘, dachte der Kommissar, während ihm als Vergleich das Bild seiner noch studierenden Tochter durch den Kopf blitzte. Wortlos und mit undurchschaubarer Miene zog sich der Hausmeister zurück. Die junge Lehrerin aber nahm den Gesprächsfaden auf und erwiderte: „Ich weiß, wer Sie sind. Die Herrschaften von der Kriminalpolizei. Ich soll Sie empfangen und begleiten, kommen Sie bitte!“
‚Herrschaften!‘, dachte Hannah Mellrich. ‚So bin ich ja auch noch nicht angesprochen worden!‘ Aber sie verkniff sich eine Bemerkung. Zu dritt schritten sie durch die hohen, breit gemauerten Hallengänge. Es war erstaunlich still, nur hinter den Türen rechts und links konnte man immer wieder gedämpfte Geräusche hören. Sobald das Pausenzeichen ertönte, würden kreischende Schülermassen die Gänge füllen. So war das zumindest normalerweise. Das wussten die beiden Polizisten noch zu gut aus ihren eigenen Schülerzeiten. Und Kellert kannte es noch aus den Schilderungen seiner beiden längst erwachsenen Kinder.
Immer wenn er selbst Schulen betrat, fühlte er sich seltsam beklommen. Als raubte ihm jemand heimtückisch sein Selbstvertrauen und seine berufliche wie private Routine und Erfahrung. Ihm war, als würde er hier ständig beobachtet, und als könne er den Beobachtungsblicken nie genügen.
Kellert war sich natürlich bewusst, dass das mit seinen eigenen Erfahrungen als Schüler zusammenhing. Er war ein durchschnittlicher Schüler gewesen, nicht schlecht, nicht gut. Das hatte ihn alles irgendwie nicht interessiert, was man ihm da vorsetzte. Ein Mitschwimmen im trägen Strom des Unterrichts hatte gereicht, um ihm das Abitur zu ermöglichen. Nicht hier am KaRaGe, das zu seiner Zeit einfach nur ‚Domgymnasium‘ geheißen hatte, sondern am staatlichen Gymnasium von Friedensberg, dem Henri-Dunant-Gymnasium. HaDeGe. Diese Opposition prägte bis heute die kleinstädtische Welt der Bischofsstadt Friedensberg. War man ein KaRaGeler oder ein HaDeGeler? Eigentlich lächerlich, solche kleinen Eitelkeiten. Aber sie hielten sich hier über Generationen.
Bernd Kellert blickte hinüber zu seiner jungen Kollegin, die nicht in Friedensberg aufgewachsen war. Hannah Mellrich stammte aus Rheinland-Pfalz, so glaubte er sich zu erinnern. Aus Speyer? Er war sich nicht sicher. Er wusste auch nicht, warum sie sich ausgerechnet hierher hatte versetzen lassen. Irgendeine private Geschichte, an so viel glaubte er sich zu erinnern. Ob es ihr auch so ging wie ihm, wenn sie Schulen betrat? Anzusehen war es ihr nicht.
Dass es im Schulgebäude so still war, hatte aber nicht nur etwas damit zu tun, dass der Unterricht sich hinter dicken Mauern und schallisolierten Türen abspielte. Als sie in die große Halle kamen, von der aus verschiedene Gänge und das weit geschwungene Treppenhaus abzweigten, sahen sie einen Tisch, der aussah, als sei er ein Altar. In der Mitte war ein Bild – doch wohl das des ermordeten Direktors – aufgestellt, geschmückt mit einer dunkelvioletten Schleife. Rund herum ein Meer von Blumen und auf dem Boden stehenden, angezündeten Kerzen. Kellert erkannte einen Teddybären, mehrere Spielutensilien, Symbole, welche die Schülerinnen und Schüler hier abgelegt hatten.
Die junge Lehrerin nahm seinen fragenden Seitenblick wahr und erklärte: „Unser KIT hat natürlich schon ganze Arbeit geleistet. Das weiß man heute: Kinder und Jugendliche brauchen Formen und Rituale, um sich ihrem Schock oder ihrer Trauer zu stellen.“ Mit leiser Stimme fügte sie hinzu: „Wir Erwachsenen natürlich auch.“ „KIT?“, fragte Hannah Mellrich zurück, das erste Wort der Kommissars-Anwärterin seit der Begrüßung.
„Ach so“, riss sich Svenja Kaiser aus ihren Gedanken, „das sagt Ihnen natürlich nichts. Kriseninterventionsteam, KIT. Das gibt es inzwischen an jeder Schule. Und das braucht man auch. Sie glauben nicht, was in einem Schuljahr so alles passiert. Ich bin ja erst seit zwei Jahren dabei“ – ‚Aha!‘, dachte Kellert – „aber wir haben schon alles gehabt, wirklich: Selbstmord einer Schülerin, einen schweren Verkehrsunfall, in den drei Mitschüler verwickelt waren, mehrere Todesfälle von Eltern, zwei Kollegen sind gestorben …“, ihre Gedanken gingen erneut über das aktuelle Gespräch hinaus, dann fing sie sich aber wieder.
„Na ja, alles haben wir Gott sei Dank noch nicht gehabt. Einen Amoklauf, zum Beispiel. Hoffentlich bleiben wir wenigstens davon verschont. Jedenfalls: Für all diese Fälle ist das KIT da. Das sind vor allem Kolleginnen aus den Fachschaften Religion und Ethik. Die machen das toll. Also ich weiß nicht, ob ich das könnte …“
Sie stockte und überlegte, verlor sich in ihren Gedanken. Kellert blickte ruhig zu ihr hinüber. Plötzlich riss sich die junge Lehrerin zusammen und besann sich auf ihre aktuelle Aufgabe. Sie schloss die Augen, schüttelte einmal kurz und heftig ihren Kopf, um sich von ihren abschweifenden Gedanken zu befreien, und sprach dann weiter: „Und die Kollegen vom KIT haben hier heute Morgen gleich alles vorbereitet. Die meisten Schülerinnen und Schüler wussten natürlich schon vorher Bescheid. So etwas verbreitet sich in Friedensberg wie ein Lauffeuer. Und jetzt versuchen wir, irgendwie ins Gespräch mit den Schülern zu kommen. Ihre Fragen aufzunehmen. Raum zu geben für Trauer, Unsicherheit, Wut, Fassungslosigkeit … An normalen Unterricht ist heute natürlich gar nicht zu denken.“
Svenja Kaiser hatte sie über die breite Treppe in den ersten Stock zum Direktorat geführt. Nun wandte sie sich an die beiden Polizisten: „Ich habe gerade zwei Freistunden. Ach je: Was sage ich denn gleich meinen Fünftklässlern? Können Sie mir da vielleicht einen Rat geben?“ Kellert schaute unsicher. Da kannte er sich nicht aus. Er überlegte. „Vielleicht gar nichts selber sagen, sondern erst mal zuhören.“